Säkulare und moralische Ostergedanken
Unsere Ringeltauben verhalten sich komisch in diesem Frühjahr. Jedes Jahr haben wir ein Pärchen dieser großen und ziemlich scheuen Vögel in unserem Garten im Hinterhof des Pankower Mietshauses. Sie brüten immer in der hohen dichten Fichte, die alles andere im Hof überragt. Nicht dieses Frühjahr. Eigentlich sind es Waldtauben, aber sie lieben den Menschenhof, denn hier gibt es keinen Habicht. Obwohl sie auch uns Menschen gegenüber äußerst mistrauisch sind.
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Columba palumbus, fliehend |
Zwischen Berlin Mitte und Pankow fahre ich immer mit dem Fahrrad und sehe mehr und mehr Menschen auf der Straße leben. In der Ukraine werden Menschen wie du und ich aus ihren Wohnungen gebombt von anderen Menschen, die den Ukrainern einfach ihre Souveränität absprechen. In Palästina sind es immer wieder bombardierte Krankenhäuser, in denen sich der Traumakreisel dreht und dreht und immer wieder angepeitscht wird. Palästinensische Menschen können schon lange nur noch in Lagern eine Art prekäres Zuhause versuchen. Sie sind es, die heute wegen alter Geschichten, alter kolonialer Ansprüche und nationalistischen Menschheitsverbrechen zerrieben werden. Niemand kann den Juden Israel verdenken! Endlich ein Zuhause, endlich Sicherheit, eigene Verteidigung, dauerhafter Aufbau, endlich ein Volk mit einem Land sein dürfen. Aber warum is alles so feindselig? Naomi Klein schreibt dazu:
"... while Israel is a place, it has also always been a warning. A warning about the perils of building identity based on retraumatization rather than confronting our collective grief; about the dangers of building a group identity around insiders and outsiders ..." (Klein, Doppelganger, S. 305)
"... Israel ist nicht nur ein geografischer Ort, sondern seit jeher auch ein Mahnmal. Ein Mahnmal für die Gefahren, die darin liegen, eine Identität auf fortgesetzter Retraumatisierung zu gründen, anstatt sich der gemeinsamen Trauer zu stellen; eine Warnung vor dem Risiko, eine kollektive Zugehörigkeit durch das Errichten von Grenzen zwischen ‚Wir‘ und ‚den Anderen‘ zu definieren ..." (Übersetzt mit Hilfe von ChatGPT)
Die Grenze zwischen "Wir" und "den Anderen" bleibt die große Wunde der Menschheit. Wir sehen es überall dort, wo nicht das Mitgefühl regiert. Es ist ein tierisches Erbe, ein Erbe aus einer vorkulturellen Zeit, das aber jeder Kultur immer auch eingeschrieben ist. Kultur ist dort, wo man um diese selbst gemachte Grenze und ihre Flexibilität weiß und diese Flexibilität aufs Menschlichste ausreizt.
Woher weiß ich, was gut und was schlecht ist?
Und Kultur ist auch dort, wo man die Flexibilität dieser Grenze aufs Unmenschlichste ausnutzt, in der Regel um kleinliche Interessen zu bedienen. Diese perverse Kultur (Warum geben sich Menschen möglichst viel Mühe, unmenschlich zu sein?) scheint aber, wenn auch zahlenmäßig schwächer, in seiner Durchsetzungskraft viel wirkmächtiger zu sein. Egal, wo wir in Geschichte und Gegenwart hinsehen, immer und überall versuchen relativ mächtige Menschen die relativ unmächtigen, auf die sie sich stützen, gegeneinander aufzubringen. Sie machen sich unsere Ängste zunutze. Dabei ist es überaus menschlich, Fremde zu fürchten und dennoch gastfreundlich zu sein und in der Not Hilfe und Schutz anzubieten. Wir müssen, ja dürfen die binäre Vorgabe der Spalter nicht akzeptieren. Wir müssen uns im Spalt selbst ansiedeln: Nicht naiv reden und dennoch solidarisch handeln.
An wem man sich orientieren sollte? Welche "Mächte" sollte man unterstützen und welche sollte man ablehnen? Man mussmerkt es sofort an der Sprache:- "Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse." (Weidel, 2018)
- "Wir werden sie jagen. Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen. Und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen." (Gauland, 2017)
- "Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate." (Sarrazin, 2012)
- "Der Grenzschutz muss notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen." (von Storch, 2016)
Diese Beispiele von rechtspopulistischen Äußerungen zeigen Gemeinsamkeiten untereinander und Unterschiede zu linkspopulistischer Sprache: Sie sind immer entmenschlichend, gewaltkonnotiert und spaltend in "wir" und "die anderen". Das Ziel ist immer die Diskreditierung von Minderheiten und Schwächeren.
Linkspopulistische Äußerungen zeigen eher ein Spektrum von humanistischer Naivität bis Moralisierung, legen es aber in der Regel nicht darauf an, andere zu entmenschlichen und zu brutalisieren.
Jetzt können wir auch wieder in den USA, in Israel oder Russland sehen, dass sich die Brutalität und Grausamkeit der Sprache letztlich in äquivalentes Handeln gegen Minderheiten oder Schwächeren übersetzt. In den USA werden derzeit Minderheiten unter dem unbewiesenen Vorwand, es handle sich um Verbrecher, in unmenschliche Massengefängnisse in El Salvador verschleppt und zwar gegen die bestehenden US-Gesetze. Machen wir uns nichts vor: Der Weg eines Individuums vom gesicherten "Wir" zum brutalisierten "Anderen" ist kurz. Es reicht, als Student kurz gegen Visabestimmungen verstoßen zu haben und schon kann man "auf Nimmerwiedersehen" in einem Gulag verschwinden. Aber worauf ich eigentlich hinauswollte: Wir alle müssen uns orientieren. Wir haben Angst. Wir wollen wählen. Wir wollen gute Entwicklungen unterstützen und schlechte verhindern. Aber woher weiß ich, was gut und was schlecht ist?
Ganz einfach: Wenn Politiker, Influencer, Medien oder wer auch immer in ihrer Sprache zeigen, dass sie Lust auf Grausamkeit haben, dass sie andere "jagen" wollen oder ihren Tod in Kauf nehmen, wenn sie so von Menschen reden, als seien sie keine Menschen, sondern Ungeziefer oder Monster, dann ist das schon alles, was man von ihnen wissen muss. Sie sind schlecht, man darf sie nicht unterstützen und wer sie dennoch unterstützt und zwar nicht aus Naivität, sondern aus Überzeugung, der ist ebenfalls einfach ein schlechter Mensch. Das ist doch nicht schswer, sondern ganz offensichtlich: Wer menschenverachtend spricht, verdient keine Unterstützung, sondern im Idealfall psychologische Betreuung. Warum wir dennoch zuweilen auch durch spaltende, entmenschlichende Sprache ansprechbar sind, ist eine gute Frage. Kurz gesagt: Menschenverachtung gebiert Menschenverachtung oder wie wir bei Naomi Klein lesen: Traumatisierte Menschen traumatisieren die nächsten, die sich ihnen als ausgrenzbar zeigen, wenn wir das Trauma nicht mit Trauer aufarbeiten. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Ich liebe das tiefe und Raum nehmende Gurren unserer Ringeltauben - es vermittelt mir ein Gefühl von gewohntem Zuhause und zugleich eine Sehnsucht nach einem ganz anderen Ort, von dem ich noch nichts weiß.
- Demokratie, Absurdität und Depression
- Heitere Miene, stoßweises Ausatmen, abgerissene Laute
- Solastalgie oder wie wir das Ende der Natur verkraften
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