Ich würde mich einen progressiven Konservativen nennen (man könnte auch "Grünenwähler" dazu sagen). Gesellschaftlicher Fortschritt ist mir unheimlich wichtig, denn das ist es schließlich, was es heißt, Mensch zu sein, Kultur zu haben. Und das Bewahren ist mir ebenso wichtig, angefangen vom Bewahren der Natur über Bewahren der Demokratie und auch das Bewahren von Umgangsformen, Höflichkeit und Tugenden.
Was ist gesellschaftlicher Fortschritt und wo geht's jetzt lang? (Bildlizenz: CC BY-SA 4.0 Deed) |
Was ist denn gesellschaftlicher Fortschritt?
"Fortschritt bezeichnet die in einer Folge von natürlichen, kulturellen oder politischen Ereignissen nachträglich erkannte, für die Gegenwart angenommene oder für die Zukunft erhoffte Entwicklung von Zuständen zum Besseren hin." (Staatslexikon, Volker Gerhardt)In meiner Interpretation ist gesellschaftlicher Fortschritt die Bewegung weg von allen vermeintlich "natürlichen" und hierarchischen Herrschaftsformen ("Recht des Stärkeren", "Gnade der Geburt") und die Bewegung hin zur Inklusion aller und v.a. auch benachteiligter Menschen, die Ausweitung partizipativer Möglichkeiten von "Randgruppen", Minderheiten und "Misfits". Immer dort, wo Stereotype aufgelöst werden und Restriktionen aufgrund von persönlichen Merkmalen abgebaut werden, ist gesellschaftlicher Fortschritt. Beispiele:
- Abschaffung von Sklaverei
- Ausweitung des Wahlrechts
- Recht auf Asyl
- Ehe für alle
- Barrierefreiheit
- Gleichberechtigung von Frau und Mann
- Aufspüren und Beseitigen von strukturellem Rassismus
- Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eignen Körper
- Bewusstwerden und Veränderung von zuvor unbewussten Vorannahmen
Schließen sich Fortschritt und Konservatismus gegenseitig aus?
Gesellschaftlicher Fortschritt und das Bewahren sind nicht exklusiv. Ein gewisser Konservatismus ist die Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt. Ganz grob gesagt wird kein Fortschritt möglich sein, wenn wir z.B. unsere natürliche Lebensgrundlage nicht bewahren. Weniger klar ist der Zusammenhang zwischen dem Bewahren unserer Institutionen und dem gesellschaftlichen Fortschritt. Und ich sage das, weil derzeit das Zerstören von Institutionen auf der Agenda des reaktionären Populismus weltweit ganz oben steht.
Grob gesagt beschreibt das Wort Konservatismus eine Politik, die "die Bewahrung bestehender oder die Wiederherstellung früherer gesellschaftlicher Ordnungen zum Ziel" hat (Quelle: Wikipedia). Ich würde da differenzierter herangehen und die Wiederherstellung früherer gesellschaftlicher Ordnungen eher als reaktionär denn konservativ bezeichnen. Und man kann auch nicht mit Vernunft behaupten, es gehe darum, jegliche Aspekte gesellschaftlicher Ordnung zu erhalten – man muss schon hinsehen und sich gründlich fragen, welche Aspekte helfen dem Zusammenleben, das auch das Ausleben individueller Bedürfnisse ermöglicht und welche schaden ihm. Daraus ergeben sich für mich die zu erhaltenden und die zu überkommenden Aspekte tradierter gesellschaftlicher Ordnung.
Sich radikal progressiv verstehende Bewegungen hatten oftmals die Institutionen als Quelle von Repression im Blick und das ist ja auch nicht ganz falsch, wenn man z.B. an dogmatische, herrschaftliche oder manch religiöse Institutionen denkt. Und natürlich gibt es Beispiele entmündigender Institutionen wie Gefängnisse, Heime und Anstalten. Aber auch hier muss abgewogen werden: Die Institution "Gesundheitswesen" ist sicherlich eine, die wir im gesellschaftlichen Zusammenleben mit individuellen Ausdrucksformen dringend brauchen. Selbst wenn sie in einigen Ecken auch repressiv sein mag, abschaffen werden wir sie nicht wollen, sondern wir wollen sie verbessern und das ist gesellschaftlicher Fortschritt.
Nur als vergleichende Nebenbetrachtung: Die reaktionären Populisten lehnen die Institutionen aus einem ganz anderen Grund ebenso als "repressiv" ab. Sie sehen ihre Machtpositionen und finanziellen Interessen durch Institutionen unterdrückt, die Arbeitnehmerrechte, Frauenrechte, Tierrechte etc. vertreten. Denn diese Rechte stehen im Konflikt mit dem Bedürfnis, einfach nur den eigenen Vorteil zu maximieren. Und Populisten schaffen es schon immer ganz gut, damit eine relativ große Gruppe von Leute auf ihre Seite zu ziehen, die durch diese Institutionen ganz klar mit geschützt sind und von ihnen profitieren. Die Unterstützung dieser reaktionären Populisten widerspricht deutlich ihren eigenen Interessen. Wie das die Populisten schaffen? Ziemlich leicht durch unredlich vereinfachte Narrative wie: "Jetzt verbietet euch die Regierung auch noch eure Gasheizung!" Ausführlich dazu in: Warum die Demokratie demontieren?
Da gab es seit den 68er Jahren also eine Umkehr. Schon Professor Theodor W. Adorno (der ja vor dem Hintergrund der Nazis in den Institutionen v.a. Vernichtungsmaschinen gesehen hat), war der Sturm seiner Studenten auf die Institutionen zu viel. Inzwischen ist es so, dass die Rechte die aus ihrer Perspektive inzwischen zu links gewordenen Institutionen schleifen will und die Linke nun in die Position kommt, die Institutionen zu bewahren. Dabei ist in Europa spätestens seit dem 17 Jahrhundert durch John Locke und Charles de Montesquieu klar, dass persönliche Freiheit und gesellschaftlicher Fortschritt nur durch Institutionen wie das Recht und Gewaltenteilung in der Politik möglich sind (siehe Staatslexikon, Volker Gerhardt).
Was sind die Gefahren des progressiven Aktivismus'?
Wie schaffen wir trotz des reaktionären Populismus gesellschaftlichen Fortschritt? Wir sind alle vertraut mit der Metapher des Pendels: Es schwingt in eine Richtung und je größer der Ausschlag, desto heftiger schwingt es gleich in die andere Richtung. Das ist eine schwierige Metapher, weil sie vieldimensionale gesellschaftliche Entwicklungen auf einen eindimensionalen kinetischen Vorgang reduziert. Da passiert natürlich viel mehr, wenn reaktionäre Politik auf gesellschaftlich progressive Politik oder umgekehrt reagiert. Wir sehen ein Aufschaukeln dieser aufeinander reagierenden Kräfte. In den USA kam es zum Beispiel während und nach der sehr progressiven Regierungszeit von Obama zu extrem reaktionären Gegenbewegungen, sodass der Supreme Court beispielsweise schon lange vor Obama existierende progressive Gesetzgebung (Affirmative Action, Abtreibungsrecht) nun plötzlich in sein Gegenteil verkehrte. Auch dazu sind nun schon wieder die Gegenbewegungen zu beobachten, weil die Reaktion über die Stränge schlägt und vormals Republikanische Wähler sich angewidert von ihrer Partei abwenden – gut so, finde ich.
Warum dieses Pendeln? Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass der von vielen gewollte Fortschritt immer auch eine Zumutung oder Überforderung für eine nicht zu unterschätzende Gruppe von Mitbürgern darstellt. Ob uns das gefällt oder nicht – es ist eine Realität, an der wir nicht vorbei kommen. Da hilft es nichts, wenn man die anderen "doof" findet oder unsensibel, nicht tolerant genug oder einfach auch als in dieser Hinsicht ungebildet abstempelt. Wenn es uns wirklich ernst ist mit dem gesellschaftlichen Fortschritt, dann müssen wir auch diese Gruppe mitnehmen können. Ich höre schon die Einwände:
Ja, aber sorry... wenn da einer offen frauenfeindlich, homophob oder rassistisch ist, dann muss ich ja dafür wohl kein Verständis haben, oder?
Nein, muss man nicht. Aber besser wär's, denn verstehen heißt nicht entschuldigen. Was man aber muss: Man muss mitdenken, dass es diese Leute gibt und dass auch ihren Handlungen und Worten irgendwie legitime Bedürfnisse zu Grunde liegen, selbst wenn ihre Handlungen und Worte letztlich illegitim sein können. Nicht selten liegen irrationale oder auch rationale Ängste zugrunde, ein Schutzbedürfnis oder ein kulturell-familiär vererbtes, nicht hinterfragtes Mindset. Diese Ängste, Bedürfnisse oder eingewachsenen Mindsets selbst verstoßen gegen keinerlei Regeln oder Gesetze, sie sind lediglich persönliche Motivatoren oder Inhibitoren. Wir alle sind defizitär und haben kleinliche Bedürfnisse, übertriebene Ängste und unhinterfragte Glaubenssätze. Möglich ist dann noch der Folgeeinwand:
Stimmt schon, aber ich kann nicht immer bei Null anfangen. Ist mir zu aufwendig immer auch die letzten noch mitzunehmen, das hält auf.
Da ist was dran, das nervt, Ungeduld ist menschlich. Nur wenn man sich auf diese Position zurückzieht, hat man irgendwie auch aufgegeben. Dann ist es eben so, wie es ist: Gruppen stehen sich unverstanden und unversöhnlich gegenüber. Und das ist Spaltung, statt Fortschritt. Jeder vergräbt sich in seinen Bunker oder zieht sich in seine Blase zurück. Das ist dann erst einmal weniger kognitive Energie, die man investieren muss, um die Bedürfnisse anderer zu verstehen. Das ist zwar menschlich, aber auch einfach faul. Aus dieser Faulheit entsteht kein gesellschaftlicher Fortschritt.
Ich plädiere für weniger progressiven Aktionismus. Denn dieser kommt selbst lediglich aus der unhinterfragten Überzeugung, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Damit lässt sich kein Argument gewinnen, aber man kann wunderbar alle "zurück gebliebenen", alle "Rednecks" und "Hinterwäldler" in die rechte Ecke stellen. Und dann reibt man sich verwundert die Augen, wenn diese Menschen dann wirklich auch noch AFD oder Trump wählen.
Was hilft es mir beispielsweise zu gendern, wenn ich dadurch gerade die nicht mehr erreiche, die sicherlich noch mehr Luft als ich nach oben haben im Verständnis der strukturellen Ungleichheiten zwischen Mann und Frau? Da tue ich doch lieber etwas, um den Gender Pay Gap zu verringern. Die Sprache entwickelt sich sowieso weiter, das Gendern wird sich irgendwann durchsetzen, dazu muss man doch keinen Kulturkampf kämpfen und dadurch die Hälfte der Leute verlieren. Wir Progressiven sind da einfach zu ungeduldig. Schon schwieriger zu widersprechen, ist dem Druck, der aus der Klimakatastrophe auch politisch gemacht wird. Hier wird letztlich auch vor allem Gegendruck, Reaktanz erzeugt und anstatt schneller zu einer Klimaneutralität zu kommen, dauert es länger, weil 50% der Leute nicht mitgenommen wurden. Den Sinn erklär mir mal einer!
Die guten Intentionen laut zur Kenntnis zu geben, ist ja super... nichts dagegen zu sagen. Aber was hilft das, wenn sich in der Konsequenz nichts verbessert?
Letztlich eine Frage der Balance
Wir müssen also weiter miteinander reden (und trotzdem gegen Nazis demonstrieren), finde ich. Ich sehe eine ganz große Gefahr in der derzeitigen Identitätspolitik, die jede einzelne Interessengruppe gerade vorantreibt: Wir zersplittern uns mit unseren Partikularinteressen (jeder verschanzt sich hinter einem Buchstaben oder einem Acronym) und verlieren die ganz großen und viel wichtigeren Interessen aus den Augen, z.B. eine freiheitliche Demokratie zu erhalten, ohne die eine offene oder gar stolze Nonkonformität ohnehin nicht möglich wäre.
Ich bin froh, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir uns ganz offen über all das austauschen können. Und wenn ich mal eine unreflektierte Voreingenommenheit gegenüber einer ethnischen Minderheit zum Ausdruck bringe, dann ist das richtig doof von mir. Wenn ich einem Menschen irgendwie zu nahe trete, weil ich eine voreilige
Frage nach Frau oder Mann und Kindern gestellt habe, ohne daran zu
denken, dass die Person auch schwul oder asexuell oder sonst irgendwie
nicht heteronorm sein könnte, dann ist das nicht schön. Es ist aber aushaltbar für alle Beteiligten. Daran können wir gemeinsam wachsen. Mir ist schon klar, dass ich leicht reden habe, wenn ich auf der Seite der Bevorteilten stehe. Aber dieser Vorteil verschwindet ja ein Glück nach und nach. Heute ein "alter weißer Mann" zu sein, heißt nur noch, einen sich schnell aufzehrenden Vorteil geerbt zu haben, den mein Sohn schon jetzt nicht mehr hat. Alles gut!
Wir müssen aufhören, uns immer gegeneinander in Position zu bringen und bei Meinungsverschiedenheiten immer gleich die Reißleine zu ziehen. Ich sehe da mehr Offenheit zum Austausch bei den unsensiblen Leuten, einfach weil die anderen inzwischen hypersensibilisiert sind und überall einen Affront sehen und sich deshalb in ihren Safe Space, in ihre Blase zurückziehen. Diese Hypersensibilität kommt ja ebenso aus Bedürfnissen, die ich auch versuche zu verstehen. Was wir aber bitte alle verstehen müssen, ist, dass es im Diskurs keinen Safe Space geben kann, dass wir verletzlich sind und verletztlich bleiben müssen. Wir werden zeitlebens verletzen und verletzt werden. Solche Verletzlichkeit ist gepaart mit Respekt auch aushaltbar. Reden, diskutieren, sich mit anderen auseinander zu setzen, trägt immer ein Risiko mit sich. Davor dürfen wir nicht davon laufen. Denn das andere Risiko, das Risiko hinter dem Tod des Dialogs ist viel zu groß, denn es ist der Tod einzelner in Hassverbrechen und letztlich ist die Stille zwischen den Bubbles der Tod der Zivilgesellschaft.
Wir sind weit gekommen mit dem gesellschaftlichen Fortschritt (da muss man nur zwei Seiten Charles Dickens lesen, um das zu verstehen). Im Moment schwenkt das Pendel in die andere Richtung. Da müssen wir die Nerven behalten, denn es geht gleich weiter. Der Pendelschwenk hat ja auch seine positiven Effekte: Wir können verstehen, dass es da noch andere Leute gibt, die eine andere Perspektive haben und können ein bisschen justieren, die Schrauben lockern und sehen, dass wir die anderen beim nächsten Pendelschwenk mit auf unsere Seite kriegen.
Das passt dazu:
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