Freiheit, Autonomie und Reaktanz
Warum wählen Menschen eine Partei, die als in großen Teilen verfassungswidrig gilt? Warum bricht ein Sturm der Entrüstung los, wenn ein neues Heizungsgesetz kommt? Warum werden manche Menschen zu radikalen Anti-Feministen, wenn irgendwo gegendert wird? Warum haut mein Sohn noch ein paar Mal auf die Sträucher im Garten ein, wenn ich ihm sage, das sein zu lassen? Warum rauche ich erst recht, wenn meine Frau, der Arzt, ja der gesunde Menschenverstand sagt, das sei nicht gut für meine Gesundheit? Sind wir einfach bockige Kinder? Ist das Trotz? Was passiert, wenn wir uns bevormundet fühlen?
Oder noch viel spannender diese Frage: Warum fühlen wir uns eigentlich ständig bevormundet, obwohl wir in einer Welt der historisch größten Freiheiten zu leben?
Ausschnitt aus Der kleine Trotzkopf von Gustav Vigeland CC BY-SA 4.0 |
Ich meine, man kann all das ganz gut mit der Theorie der psychologischen Reaktanz beschreiben: Menschen wehren sich gegen den drohenden Verlust von Autonomie und wollen sich verlorengeglaubte Freiheitsspielräume zurückerobern.
Die Theorie der psychologischen Reaktanz ist eine Motivationstheorie, die beschreibt, wie Personen auf empfundene Einengung ihrer Freiheitsspielräume reagieren. Reaktanz ist die Motivation zur Wiederherstellung eingeengter oder eliminierter Freiheitsspielräume. Voraussetzung für das Entstehen psychologischer Reaktanz ist a) die Vorstellung zu besitzen, über einen Freiheitsspielraum zu verfügen, b) diesen Freiheitsspielraum für einigermaßen wichtig zu halten und c) eine Bedrohung oder Eliminierung dieses Freiheitsspielraumes wahrzunehmen. (Die Theorie psychologischer Reaktanz)
Reaktanz ist also tatsächlich eine Art Trotzreaktion auf die vermeintliche Bedrohung eines wichtigen Freiheitsraumes. Inzwischen meine ich wahrzunehmen, dass Freiheitsräume individuell gar nicht mehr gegeneinander als mehr oder weniger notwendig gewichtet werden, sondern totalitär als um ihrer selbst Willen für wichtig gehalten werden. Man könnte also sagen: Es geht darum, meine Freiheit zu verteidigen, egal was ihr Inhalt ist. Knigge sagt, ich darf am Tisch nicht furzen? Na dann mach ich das erst Recht!
Der Individualismus und die Freiheit
Noch einmal die Frage: Warum fühlen wir uns eigentlich ständig bevormundet, obwohl wir in einer Welt der historisch größten Freiheiten zu leben?
Hypothetisch würde ich die Frage in eine Aussage verwandeln: Wir fühlen uns ständig bevormundet, weil wir in einer Welt der historisch größten Freiheiten zu leben. Uns scheint hier jede Perspektive verloren gegangen zu sein. Das Individuum und seine Freiheit stehen hoch im Kurs. Was überhaupt eine angemessene Freiheit in einer Gesellschaft ist, in der man miteinander auskommen muss, in der man auf einander Rücksicht nehmen muss und eben auch einmal (freiwillig oder nicht) zurück stecken muss, das wird kaum diskutiert. Ich meine, dass die Probleme schon bei der Semantik anfangen, denn das Wort "Freiheit" verführt zu dem Gedanken, "als freier Mensch kann ich tun und lassen, was ich möchte". Das ist natürlich in einer Gesellschaft gar kein Freiheitsgarant, sondern die beste Voraussetzung für Reibung, Streit und Missverständnisse, die zu massiver Freiheitsbeschneidung führen müssen.
Schwierig ist natürlilch, dass wir auch in der Politik zunehmend Fürsprecher für diese missverstandene Freiheit sehen. Denken wir an den starken Trend, Dinge zu sagen, die "politisch nicht korrekt" sind. Es geht bei "political correctness" um Rücksichtnahme auf andere, um diese nicht zu verletzen. Höflichkeit wäre ein verwandtes Wort. Das hat doch mit "Mund verbieten" nichts zu tun, aber da es in die politische Agenda extremer Politik passt, kommt sogar aus der Politik, die unser Zusammenleben in der Gesellschaft fördern soll, solch ein Quatsch wie "lass dir den Mund nicht verbieten". Gesellschaften, in denen Rücksichtnahme und Höflichkeit nichts zählen, werden durch die Reibung untereinander, die zunehmende Gewalt und die unnötige Positionierung gesellschaftlicher Grüppchen gegeneinander sukkzessive unfreier. Und das ist durchaus gewollt (siehe dazu zahlreiche Beiträge zu Populismus).
Schauen wir aber noch einmal zurück auf die drei Voraussetzungen für Reaktanz:
- a) die Vorstellung, über einen Freiheitsspielraum zu verfügen... Check! Das haben wir hier im Westen alle ziemlich massiv.
- b) diesen Freiheitsspielraum für einigermaßen wichtig zu halten... Check! Jedes kleinste Räumchen Freiheit wird heute aufs Heftigste verteidigt.
- c) eine Bedrohung oder Eliminierung dieses Freiheitsspielraumes wird wahrgenommen... Check! Jede notwendige Rücksichtnahme, die rechtlich oder nur gesellschaftlich eingefordert wird, wird heute schon als Bedrohung einer individuellen grundlegenden Freiheit wahrgenommen.
Ich meine, wir leben in einer Gesellschaft, die man grundlegend "reaktant" nennen kann. Überall Trotzreaktionen, die sich politisch beispielsweise in unvernünftigen Wahlentscheidungen zeigen, sei es die ungebrochene Popularität eines Donald Trumps, dessen Anhänger ihn noch viel stärker unterstützen, je deutlicher wird, dass er gegen ihre eigenen Interessen an einer Autokratie arbeitet. Oder sei es die Wahl einer AFD, bei deren Ziel, die Bevölkerung in Unsicherheit und Chaos zu stürzen, um daraufhin einen reaktionären Nationalismus etablieren zu können, die Wähler der Partei die ersten klaren Verlierer wären. Solche Wahlentscheidungen sind Trotzreaktionen, je mehr demokratische Parteien ihre demokratiefeindlichen Alternative als Schmutzkinder darstellen, desto attraktiver werden diese für sogenannte Protestwähler.
Gefährlich ist Reaktanz sowohl in diesem politischen Sinne, als auch in persönlichen Hinsichten, zum Beispiel hinsichtlich der persönlichen Gesundheit oder hinsichtlich persönlicher Beziehungen. Gleichzeitig wird dieser psychologische Mechanismus, dem wir ja alle unterliegen, in der politischen, medialen oder professionellen Kommunikation offenbar nicht mitgedacht.
In der Politik und Öffentlichkeit muss man dabei vor allem auf die progressiven Truppen schauen: Da heißt es ja manchmal, die Grünen überforderten die Bevölkerung mit ihrer Verbotsmentalität und dem ideologischen "Gutmenschentum". Auch bei allerlei progressiven und gutmeinenden Gender-, Sex- und sonstigen Identitätsliberalisierungen sehen wir einen Reaktanz-Backlash. In den USA ist es inzwischen so weit, dass der ganze Oberste Gerichtshof in der vorerst überwundenen Populismusperiode unter Trump mehrheitlich durch politisch weit rechts stehende Richterinnen und Richter besetzt ist. Der Effekt ist, dass der Gerichtshof Urteile gegen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung erlässt, denken wir beispielsweise an die liberalen Abtreibungsgesetze, die ein halbes Jahrhundert Bestand hatten.
Was folgt denn nun daraus?
Na erst einmal bitte über die eigenen Gedanken, Worte und Handlungen reflektieren... Wenn man findet, dass man etwas "disuptives" aus Trotz tut, ohne dafür weitere gute Gründe zu haben, dann ist es eine Überlegung wert, ob man nicht anders handeln sollte.
Außerdem müssen wir im gesellschaftlichen Aktivismus (hinsichtlich Geschlecht, sexueller Orientierung, Klimaschutz etc.), in der gesundheitlichen Aufklärung (Masken, Impfen, Rauchen) und in der Politik (Gesetzgebung, Verordnungen etc.) tatsächlich aufpassen, Menschen nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken, sie zu belehren, ihnen gegenüber moralische Überlegenheit zu zeigen oder eben gefühlt willkürlich oder unerklärt Dinge zu verbieten oder einzufordern und damit ohne gute und deutlich gemachte Gründe ins Freiheitserleben eingreifen. Die liberale Politik, die eben genau dafür steht, nicht unnötig einzugreifen, macht das auf dieser Seite der Gleichung schon richtig. Nur ist sie eben auch auf der anderen Seite der Gleichung für das Missverständnis verantwortlich, Freiheit gebe es nur, wo eine individuelle totale Freiheit herrscht.
Und das wäre die letzte Folge: Wir müssen diese Missverständnisse aufklären bzw. bei unseren Heranwachsenden (eigene Kinder, Schülern, Studenten, Kollegen) darauf achten, dass sich das Missverständnis gar nicht erst anbietet. Wie macht man das? Indem man den Wert des Zusammenhaltens, den Wert der Solidarität gegenüber Schwächeren und den Wert der gegenseitigen wohldosierten Rücksichtnahme vorlebt und fördert.
Das passt dazu:
Seit Corona hab ich das erst bemerkt: Dass es eine erhebliche Menge von Menschen gibt, die rationalen Argumenten nicht zugänglich sind und das auch lautstark öffentlich zeigen! Seitdem wächst diese Menge, ist jedenfalls mein Eindruck. Vorwürfe wie "Verbotspolitik" ist schlicht ein emotionales und falsches Framing: Gesetzgebung ist IMMER Verbotspolitik, denn es werden Dinge geregelt, die dann so und NICHT ANDERS stattfinden dürfen. Und: Das Abwürgen der Solarindustrie durch die CDU in den 10er-Jahren: Da hat niemand von "Verbotspolitik" gesprochen.. M.E. ist das ein rechtes Mem, unterstützt von der Springerpresse, der es komplett egal ist, was für Folgen ihre Hetze hat!
AntwortenLöschenIm Grund müssen wir uns nicht wundern, dass "Freiheit" heute nurmehr als "mir darf niemand reinreden, egal was ich mache" verstanden wird. Schon in den 90gern begann z.B. die Werbung mit Slogans wie "Weil ich es mir wert bin", "Unterm Strich zähl ich!" und ähnlichen Ego-zentrierten Sprüchen um sich zu werfen. Wendet sich Werbung an Millenials, sollen ihre narzistischen Seiten bedient werden: https://www.horizont.net/marketing/nachrichten/Digitale-Narzisten-Sieben-Eigenschaften-die-Marken-bei-der-Ansprache-von-Millenials-beachten-muessen-144621 - einfach gruslig!
Die Verweigerung jeglicher Verantwortung fürs Gemeinwohl gefährdet m.E. die Demokratie, denn irgendwann entsteht daraus soviel Chaos und Unregierbarkeit, dass der Wunsch nach "hart durchregieren" wachsen wird.
Danke für diese Ergänzungen! Das passt ins Bild und macht deutlich, wie vertrackt das alles ist: Unsere eigene Neigung zu kognitven Fehlschlüssen, das Ausnutzen dieser durch Populisten oder einfach Cash machende Medien, die zunehmende Individualisierung, die sich eben auch in solchen Werbungen spiegelt... Das alles ist nicht einfach zu beheben und schon gar nicht mit Besserwisserei oder mit Moralisieren (siehe die psychologiche Reaktanz).
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