Hüten wir uns zu sagen, daß der Tod dem Leben entgegen gesetzt sei. Das Leben ist nur eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art. (Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 109.)
Die Absurdität der Sorge
Ich lachte plötzlich los. Ohne Zeugen und offenbar grundlos lachte ich. Ich saß an der Panke, rauchte, trank mein alkoholfreies Bier und hatte einen kleinen Lachanfall. Enten trieben vorbei und begannen auf meiner Höhe kurz gegen den Strom zu paddeln. Hoffnung auf Brotkrümel. Dann trieben sie weiter abwärts von meinem leisen Lachen begleitet. Der Wind trieb den Rauch hinterdrein.
Die Situation auf der Arbeit ist gerade... sagen wir anstrengend. Seit meiner letzten Corona-Infektion geht es gesundheitlich nur langsam dem denkbaren Optimum entgegen. Wahrscheinlich hatte ich mich nun wieder bei einem Arbeitstreffen mit Corona infiziert. An der Panke sitzend, machte ich mir ernsthaft Sorgen, was das mit meiner Gesundheit tun würde.
Erst einmal angstfrei Tritt fassen |
Und darüber hinaus: Kein Magel an Sorge. Arbeit, Altwerden, Krieg in Europa, aufgeklärte Mitbürger unter idiotischer Desinformation. Der Golfstrom kippt, die Gletscher sind nur noch matschgraue Erinnerung. Überall wird Süden. Oder kommt doch ein nuklearer Winter? Die Kids, die sich die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage nicht gefallen lassen wollen, werden jetzt kriminalisiert und unter Terrorverdacht gestellt. Mein Sohn träumt noch von Pikachu und Karate, von Kaulquappen und einem Andauern des Traumes.
Ich hingegen lebe mit einem Alptraum. Vor einiger Zeit las ich "The Road" von Cormac McCarthy. Ein Vater zieht mit seinem Sohn durch eine verbrannte und desolat dunkle Welt. Sie wollen ans Meer gelangen und zwar ohne unterwegs von Zombies aufgefressen zu werden. Meine größte Sorge, neuerdings und ohne Eitelkeit, ist die vor dem eigenen Tod. Ich will meinen Sohn nicht allein lassen unter den Zombies. Ich will ihn nicht allein lassen in dieser Welt, die ich ihm als aufregend und spannend verkaufe, als ein Naturrefugium, das wir uns mit anderen Geschöpfen teilen. Das ist nur Marketing fürs Leben. Er soll ja erst einmal angstfrei Tritt fassen, bevor er die wahre Welt sieht.
Angesichts dieser Marketinglüge und des drohenden Alptraums wäre ich lieber tot oder sagen wir "ungeboren". Für meinen Sohn aber, wäre ich gern unsterblich. Ich will keine Trauer, keine Reue und keine Sorge. Aber genau das wird es sein, was übrig bleibt. Ich liebe beinahe jeden Moment meines Lebens, seines Lebens. Ich möchte nicht eine Minute missen, rein subjektiv. Objektiv wäre das andere besser: ungeboren, untot und unsterblich.
Das klingt ja reizend. Wann lachen wir denn? Wenn wir anders nicht mehr weiter wissen. Wenn die Sorge ins Absurde kippt, wenn die Amygdala nicht entscheiden kann, ob wir angreifen oder flüchten sollen. "Ab einem bestimmten Punkt der Verzweiflung, kippt man ins Lachen", sagt die Kabarettistin und Schriftstellerin Lisa Eckhart, frei nach Helmut Plessner.
Was habe ich denn großes, um zu verzweifeln? Andere Väter laufen doch bereits unmenschlich staubige Straßen mit ihren Kindern entlang zum Meer oder zum nächsten Ort, wo wenigstens nur gehasst, aber noch nicht gemordet wird. Dieser Moment der gesteigerten Traurigkeit bringt mich ins Lachen. Diese Absurdität der Sorge in unserem persönlichen Paradies ist lachhaft. Lachen ist immer ein Phänomen von Gefällen: Je größer das Gefälle zwischen dem bildlich Gesprochenem und dem real Gemeinten, desto lauter das Lachen. Es gibt offenbar ein großes Gefälle zwischen meinem Leben und meinen Sorgen.
Oder das Gefälle zwischen meinem Vater und meinem Sohn: Mein Vater wurde 1940 in eine furchtbare Zeit hineingeboren. Sein Vater musste an die Westfront, bevor er ihn kennen lernen konnte. Sein Vater kam nie wieder und seine Mutter starb einen Tod des Mangels kurz darauf. Aufgezogen wurde er hier an der Panke in einem zerstörten Berlin, mehr Trümmer als Stadt, nur Überlebende, keine Bürger. Damals war Sorge überall, ständig und berechtigt. Grund zum Optimismus gab es eigentlich nicht. Und dennoch: sein Sohn hatte es besser und dessen Sohn erst recht.
Und was für 80 Jahre das waren! Die "besten" Jahre, die die Menschheit je erlebt hat. Die Jahre mit dem weltweit größten Wohlstand. Die Zeit des längsten Friedens hier in Europa. Die Zeit, in der der Verbrennungsmotor prometheisch wurde; die Zeit, in der das Internet geboren wurde; die Zeit, in der wir die Wildnis zum Verschwinden brachten. Die Zeit, in der die meisten Menschen zugleich auf der Erde lebten. Die Zeit, in der es 20 Milliarden Haushühner gibt, aber nur 6 Milliarden Wildvögel. Die Zeit, in der 60% aller Wirbeltiere Nutztiere wie Schweine und Rinder sind und nur 6% aller Wirbeltiere in Freiheit leben. Auftrag erfüllt: Wir haben uns die Erde untertan gemacht. (Eigentlich war das das Rezept gegen die ständige Sorge.)
Das passt dazu:
Ein beeindruckender Text in seiner ganzen Ambivalenz! Ja, ich denke auch oft an das Gefälle zwischen den sich verdichtenden Problemen im Weltgeschehen und meiner (noch) recht stabilen und bequemen Situation. Und ich bin dankbar, in die gefühlt beste aller Zeiten geboren zu sein: In jungen Jahren die 70ger / 80ger erleben, besser konnte man es nicht treffen!
AntwortenLöschenDie Situation, wie du sie beschreibst, in der alles nurmehr schlechter werden kann, war für den Philosophen Metzinger der Anlass, sich damit auseinander zu setzen: Wie nicht verzweifeln, wenn nicht mehr gilt, was immer galt: Dass es unsere Kinder einmal besser haben sollen? Er empfiehlt "gute Bewusstseinszustände" zu kultivieren, den inneren Frieden finden, der unabhängig ist von der äußeren Situation. Dass sein persönlicher Weg der Meditation vermutlich nicht massenkompatibel ist, ist ihm wohl auch klar. Naturerlebnisse, Enten beobachten,
Gärtnern geht aber auch, sofern man es schafft, das "Sorgen wälzen im Kopf" durch Fokussierung auf Anderes zu stoppen.
Ich wünsch die alles Gute und baldige Gesundung!
Sorry, das sollte nicht "anonym" gepostet werden!
LöschenHier noch Mein Blogpost zu Metzinger - unterm Namenslink.
Danke, Claudia! Ich wurde dann doch nicht krank, trotz der Sorge ;)
LöschenDeinen Beitrag lese ich auf jeden Fall, das klingt ja wirklich wie der Deckel auf den Topf. Gute Bewusstseinszustände kultivieren ist eine wirklich gute Idee. Gilt natürlich auch schon immer und unter allen Umständen, aber irgendwann wird es lebensnotwendig.
Mich bewegt das Megathema ständig weiter, wobei mich die "Debatten" auf Twitter et al wahrlich nicht befriedigen! Aber ich habe drei Quellen gefunden, die mich inspiriert haben, endlich wieder über das für mich zu große Thema zu bloggen:
LöschenIm Spiegel der Megakrise: Was wird aus uns?
https://www.claudia-klinger.de/digidiary/2023/06/23/im-spiegel-der-megakrise-was-wird-aus-uns/
Vielleicht ist was für dich dabei - und natürlich freu' ich mich über einen Kommentar von dir (muss aber nicht, ich verstehe, dass du kaum Zeit für sowas hast!)
Ein toller Artikel von dir! Habe ich jetzt auch auf deiner Seite so kommentiert:
LöschenWas mich dabei so fasziniert: Die Natur zu unterwerfen, war immer das Mittel schlechthin, um der Sorge um die Existenz zu begegnen. Jetzt ist uns diese Unterwerfung selbst zur größten (wenn auch nicht einzigsten) Sorge geworden. Abgeklärt aufgeklärt nennt man das in der Philosophie „Entfremdung“, wenn sich unsere eigenen Problemlösungen gegen uns wenden. Man muss es den drei monotheistischen Religionen zumindest zugestehen, dass sie dieses Kernproblem zu Ausgangspunkt des postulierten Gndadenbedürfnisses von Anfang an gesehen haben (Erkenntnis als Austreibung aus dem bewusslosen Paradies). Vielleicht ist diese Situation weltllich nicht auflösbar. Vielleicht sind wir auf eine Gnade angewiesen, die uns niemand mehr erweisen können wird.