Verliert der Populismus den Kampf gegen Wahrheit und Fakten?
"Zu oft wird gesagt, dass es keine absolute Wahrheit gibt, sondern nur Meinungen und private Urteile; dass jeder von uns in seiner Weltanschauung durch seine eigenen Besonderheiten, seinen eigenen Geschmack und seine Voreingenommenheit bedingt ist; dass es kein äußeres Reich der Wahrheit gibt, zu dem wir durch Geduld und Disziplin endlich Zugang erlangen können, sondern nur die Wahrheit für mich, für dich, für jeden einzelnen Menschen. Durch diese Geistesgewohnheit wird eines der Hauptziele menschlicher Bemühungen geleugnet, und die höchste Tugend der Offenheit, der furchtlosen Anerkennung dessen, was ist, verschwindet aus unserer moralischen Vision." (Bertrand Russell: Mysticism and Logic and other Essays, 1910)
Zwei plus zwei gleich fünf (oder so)
Philosophie ist politisch, denn Philosophie, wenn sie redlich, integer, ehrlich betrieben wird, ist immer auf der Seite der Wahrheit: Es geht der Philosophie unterm Strich schlicht darum festzustellen, was man mit Sicherheit sagen kann und was man ausschließen muss. Damit meine ich erst eimal nicht moralische Fragen, sondern die Erkenntnis darüber, was ist. Der Philosoph Leibniz meinte im 18. Jahrhundert, dass wir mit der Philosophie in einen Zustand kommen, in dem man Meinungsverschiedenheiten gar nicht mehr diskutieren muss, sondern man würde sich wie zwei Buchhalter nebeneinander setzen und die Wahrheit ausrechnen. Er behielt grundsätzlich Recht, selbst wenn sich die Hoffnung in der Fülle der Meinungsverschiedenheiten, der politischen zumal, nicht erfüllen wird. Die großen damaligen Streitpunkte sind inzwischen (v.a. durch Georg Cantor im 19. Jh.) mathematisch beigelegt – die Unendlichkeit und das Fortbestehen von Raum und Zeit und der Bewegung in ihnen. Die Frage jedoch, ob fünf Äpfel mehr oder weniger Früchte sind als sechs Birnen war bereits vor Leibniz' Zeit gut zu klären und steht jetzt wieder zur Diskussion:
Als Trumps Beraterin Kellyanne Conway im US-Amerikanischen Nachrichtensender MSNBC die von Donald Trump behauptete Unwahrheit, zu seiner Amsteinführung seien mehr Menschen gekommen als zu irgend einer Amtseinführung je zuvor, als "alternative Fakten" rechtfertigte, wurde sofort klar, wessen Geistes Kind diese Regierung sein würde: Opportunistischer Umgang mit den Fakten, schamloses Lügen und grenzenloses Vertrauen darin, dass 50% der Bevölkerung kein Problem damit haben würde, ganz offensichtlich angelogen zu werden oder klar widerlegbare Unwahrheiten zu behaupten. Die Lüge, so schien es, wurde wieder ein anerkanntes Werkzeug zum Erreichen von politischen Zielen in den westlichen Demokratien.
Amtseinführung Trumps 2017 (links) und Obamas 2009 (rechts), Quelle: Reuters (Ausschnitt) |
Natürlich ist es egal, bei wessen Amtseinführung mehr Leute im Publikum waren, darum geht es nicht. Es geht um die Binsenweisheit, dass Demokratien nur funktionieren, wenn man sich unter politischen Gegnern auf Fakten einigen kann. Fakten sind wie Schiedsrichter in der Argumentation gegen das andere Lager. Was Conway hier mit einem Schlagwort ("alternative facts") zu manifestieren schien, war nichts anderes als die Abschaffung des Schiedsrichters. Stellen wir uns einen Boxkampf ohne Schiedsrichter vor: Gewinnen wird der, der die unfairsten Methoden anwendet: beleidigen, beißen, treten. So ähnlich ist es im politischen Kampf: Wenn Fakten als Schiedsrichter ausfallen, kann die vernünftige und vielleicht sogar stärkere Seite gar nicht mehr gewinnen, denn das Land der politischen Phantasien, der Spekulationen und Verschwörungstheorien ist endlos weit, während das Gebiet der verlässlichen Fakten überschaubar ist. Wenn man gefährliche Behauptungen, Angstmacherei und Verleumdungen nicht mehr mit Fakten entkräften kann, steht der Manipulation der Bürger nichts mehr im Weg.
All das kennen wir von George Orwells "Doppeldenk" als die Methode, dem Regime in 1984 jegliche verbrecherische Handlung zu ermöglichen und heute das eine und morgen sein Gegenteil zu vertreten. Chuck Todd, der MSNBC-Journalist, der Conway interviewte und offenbar Orwell genügend kannte, sagte: "Sehen Sie, alternative Fakten sind keine Fakten. Das sind Unwahrheiten.“ Angeblich stiegen die Verkäufe von George Orwells Roman um das 95-fache innerhalb von vier Tagen nach dem Interview. Na immerhin, könnte man denken, sind die Menschen doch nicht bereit, sich so einfach für dumm verkaufen zu lassen.
Der Kampf gegen Wahrheit und Fakten ist für Demokratieverächter, Autokraten und Despoten lebensnotwendig. Die Abschaffung freier Medien steht deshalb ganz oben auf der Agenda der Gleichschaltung aller Institutionen (Rechtssprechung, Gesetzgebung, Exekutive) bei Autokraten (siehe Russland, Ungarn, Türkei oder der gerade gescheiterte Versuch in Georgien). Die autokratischen Versuche der Republikaner in den USA waren und sind zum Teil immer noch massiv, aber irgendwie lässt sich dieses Land nicht ganz so leicht autokratisch umkrempeln. Vielleicht hat Orwell seinen Anteil daran.
Was nun folgt, ist eine fast unglaubliche und optimistische Geschichte der Durchsetzung von Wahrheit, der Demaskierung von Lügen und des frivolen, schamlosen Doppeldenks des rechtsgerichteten Populismus...
Fox News – ein populistisches Kartenhaus fällt in sich zusammen
Aufarbeitung einer toxischen Präsidentschaft
Generell bin ich beeindruckt von der Aufarbeitung der Geschichte der Trump Präsidentschaft in den USA in einer historisch so kurzen Zeit. An allen Ecken und Enden gibt es öffentliche und juristische Verfahren gegen Trump, weil er Gelder missbrauchte, unabhängige politische Institutionen unter Druck setzte oder für sich vereinnahmte, weil er demokratisch zustande gekommene Wahlergebnisse zu ändern versuchte und weil er einen gewalttätigen Sturm auf das Capitol mit Toten und Verletzten initiierte. Diese Verfahren produzieren für alle in der Gesellschaft zugängliche Fakten.
Konnte und könnte das den Trumpisten schaden oder verhindern, dass sie in einer kommenden Präsidentschaft die Zerstörung der Demokratie in den USA vollenden? Nein, nicht so lange es ihnen gelingt, ihre "alternativen Fakten" unter die Menschen zu bringen, also etwa, dass Joe Biden die Wahl eigentlich verloren hat oder dass der Sturm aufs Capitol gar nicht stattgefunden hast. All diese Dinge können behauptet und dann analysiert werden. Herauskommen werden dann die Fakten, z.B. wurde durch zahlreiche gerichtliche Prüfungen (durch zahlreiche republikanisch berufenen Richtern) widerlegt, dass es Wahlbetrug der Demokraten gegeben hätte. Solche Fakten kann man, wie von Leibnitz erhofft, analytisch gewinnen, "errechnen".
Zielrichtung: Oligarchie
Nur was, wenn man sich nicht auf die Fakten einigen kann? Was, wenn die eine Seite trotz unbestreitbarer Fakten einfach das Gegenteil behauptet und die Analyse unter den Tisch fallen lässt? Das kann man am "journalistischen" Flagschiff der amerikanischen Rechten Fox News sehen. Durch Fox News und zu geringeren Anteilen noch rechtsextremere Mediennetzwerke gelingt es, ca. 50% der Amerikaner von den Fakten abzuschirmen und sie Verschwörungstheorien hinterherrennen zu lassen, die darin gipfeln, dass sie eine Regierung wollen, die mit diesen Verschwörungen ein für alle mal Schluss macht. Eine Regierung, die durchgreift, den kleinen weißen Mann schützt, Einwanderung beendet, unbequeme Medien und ihre unbequemen Wahrheiten verbietet, die Klimakatastrophe für inexsistent erklärt und die gesamte Gesellschaft zurückführt in eine Welt, in der noch alles überschaubar und einfach war, wo es nur moralisch richtiges und falsches Verhalten gab und keine Zumutungen wie Frauenrechte, Umweltschutz, Geschlechterdiversität und was einen sonst so beim Aufbau einer Hegemonie der kleinen Eliten (aka Oligarchie) stört.
Es ist kein Wunder, dass die rechten Republikaner und ihre medialen Arme sogar jetzt das kriegerische Russland preisen und das russische Modell auf die amerikanische Gesellschaft übertragen möchte. Die Zielrichtung von Mogulen wie Donald Trum oder Rupert Murdoch ist eine ungestörte Oligarchie.
Gerichtliche Verfahren: Redefreiheit und Pflichten von Journalisten
Fox News und seine "Journalisten" wie Laura Ingraham, Tucker Carlson oder Sean Hannity verbreiteten monatelang (und sie tun es zum Teil noch immer) die Lüge von der gestohlenen Wahl und die Lüge, dass der Sturm der Trumpanhänger aufs Kapitol lediglich touristisches "Sightseeing" (mit Toten und Verletzten?) war. Solche Lügen für Trump und der Kampf gegen generellen gesellschaftlichen Fortschritt ist seit dem Amtsantritt Joe Bidens die einzige Stoßrichtung von Fox News.
Nun kommen diese Praktiken plötzlich unter das Brennglas der Justiz und zwar lediglich deswegen, weil es eine Klage eines Herstellers von Wahlautomaten (Dominion) gibt, der sich durch diese Lügen verleumdet sieht. Es ist ironisch, dass das öffentliche Publikum keine Möglichkeit hat, die Medien auf wahrheitsgemäße Berichterstattung zu verklagen. Sobald aber kapitalistische Interessen durch Lügen bedroht werden (hier das Ansehen und der wirtschaftliche Erfolg der Firma Dominion), ergeben sich plötzlich Möglichkeiten, die große gesellschaftliche Wahrheit wieder ins rechte Licht zu rücken.
Dominions Klage hat dazu geführt, dass bei Fox News so ziemlich alles rund um die Wahlberichterstattung unter die Lupe genommen wurde, bis hin zu den privaten Textnachrichten, die sich die "Journalisten" gegenseitig zuschickten. Diese "Journalisten", die sich öffentlich mit Trump zeigten, seine treusten medialen Unterstützer waren, die mit viel Aufwand jegliche Lügen der Trumpisten so gedreht und gewendet haben, bis sie verkaufbar waren, die Donald Trump den besten Präsidenten in der Geschichte der USA nannten, diese "Journalisten" machten andererseits gerichtliche Aussagen und schickten sich gegenseitig private Nachrichten wie diese hier (Übersetzung durch mich):
"Wir sind sehr, sehr nahe daran, Trump die meisten Nächte ignorieren zu können. Ich kann es kaum erwarten. [...] Ich hasse ihn leidenschaftlich!" (Tucker Carlson)
"Wir tun alle so, als hätten wir viel vorzuweisen, denn zuzugeben, was für eine Katastrophe es war, ist zu schwer zu verdauen. Aber komm schon. Es ergibt sich wirklich nichts Positives durch Trump." (Tucker Carlson)
"Trump ist eine dämonische Kraft, gut darin Dinge zu zerstören. Darin ist er unangefochtener Weltmeister. Er könnte uns leicht zerstören, wenn wir falsch spielen." (Tucker Carlson)
"Diese ganze Erzählung [von der gestohlenen Wahl] habe ich nicht eine Sekunde lang geglaubt." (Sean Hannity)
Außerdem machten sie sich lustig über die Anwälte Trumps, die sie ihrem Publikum als die Bringer der Wahrheit verkauften. Rudy Giuliani und Sidney Powell werden in privaten Nachrichten von ihnen als durchgeknallt, Lügner und gefährlich beschrieben. Keiner dieser "Journalisten" glaubte diesen Fanatikern und ihren Erzählungen von der gestohlenen Wahl, die Erzählungen, die sie ihrem Publikum als wahr präsentierten. Aus dem Prozess gegen Fox heißt es:
"Kein einziger Fox-Zeuge sagte [in eidesstattlichen Aussagen] aus, dass er glaubte, dass irgendeine der Behauptungen über Dominion wahr gewesen sei. Tatsächlich lehnte es ein Fox-Zeuge nach dem anderen ab, die Wahrheit der Anschuldigungen zu bestätigen, oder erklärte sogar, dass sie ihnen nicht glaubten." (The Guardian, 17.02.2023)
Das sind unheimliche moralische Abgründe, die wir hier sehen. Wenn Journalisten die Wahrheit kennen und aber ihrem Publikum das Gegenteil verkaufen, ist das Journalismus? So etwas macht das Vertrauen der Menschen zu den Medien und zueinander kaputt und zerstört dadurch am Ende Demokratien. Auch Rupert Murdoch selbst, dem diese Zerstörung von Demokratien schon lange am Herzen zu liegen scheint, sagte unter Eid im Dominion-Prozess, dass er nicht an die Lügen glaubte, dass er sie hätte stoppen können, das aber nicht getan hatte, weil die Zuschauer diese Lügen hören wollten und es letztlich ums Geld ginge. There it is!
Der rechtliche Hintergrund ist, dass man in den USA so gut wie alles behaupten kann, auch Unwahrheiten in Nachrichtensendungen, wenn man nicht grob fahrlässig oder wissentlich die Unwahrheit behauptet und dafür niedere Beweggründe (z.B. Habgier) hat. Solche Verleumdung aber ist kaum zu beweisen, denn Sprecher können immer behaupten, dass sie diese Version der Geschichte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung geglaubt hatten. In diesem Fall fällt diese Verteidigung nun weg und die niederen Beweggründe wurden vom Fox-Besitzer Murdoch selbst im Prozess eingestanden. (Warum er das machte, ist eine andere Geschichte rund um Alter, Macht und Familienbande.)
Optimistische Spekulationen für die Zukunft
Was heißt das nun alles? In einem Wort gesagt, das ist historisch! Fox zerlegt sich, die Republikaner zerlegen sich und Trump wird ohnehin zerlegt. Wir können hier nicht alle daraus folgenden Eventualitäten spekulativ darlegen, aber drei Folgen u.a. lassen sich erhoffen:
- Medienhäuser in den USA könnten sich zukünftig sehr genau überlegen, ob sie sich auf Gedeih und Verderb zum Werkzeug einer politischen Macht machen lassen wollen. Die Risiken sind zu groß, sowohl rechtlich als auch wirtschaftlich. Auch andere Verleumdungsprozesse z.B. gegen Alex Jones' InfoWars zeigen dieses enorme Risiko für reine Propagandamacher. Die Demokratie bekommt eine Chance.
- Fox News bricht mit Trump und den Trumpisten und umgekehrt. Das wiederum führt zu einer Vertiefung der Spaltung im republikanischen Lager. Trump wird ggf. nicht der nächste Präsidentschaftskandidat der Republikaner, sondern macht seine eigene unabhängige Kampagne, was dazu führen wird, dass weder die Republikaner noch Trump in absehbarer Zeit eine Chance aufs Weiße Haus hätten. Die Demokratie bekommt eine Chance. Oder:
- Die Spaltung der Republikaner wird oberflächlich gekittet, Trump wird erneut ihr Kandidat und auch so verlieren die Republikaner die Wahl, weil Trump von der Staatsanwaltschaft angeklagt wird, breite Teile der gemäßigten Republikaner und unabhängige Wähler nun die Wahrheit kennen und deswegen nicht für Trump wählen werden.
Aber warum ist das für uns interessant (siehe die Übersichtsseite Populismus und Demokratie)? Kurz gesagt: Die USA sind – ob es uns gefällt oder nicht – die einzige demokratische Supermacht in dieser Welt. Wenn sie fällt, dann sind wir in Europa mit unseren Wackeldemokratien geliefert. Man stelle sich einfach nur vor, der NATO-Verächter und Putin-Bewunderer Trump wäre heute Präsident der USA... Was wären wohl die Folgen in der der derzeitigen weltpolitischen Situation mit Russland, China, dem Ukrainekrieg, der Energiewirtschaft und der Klimakatastrophe?
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