Wie wären Panzer und Haubitzen philosophisch zu bewerten?
Eine Zeitenwende ethisch betrachtet
Von einem langen europäischen Frieden verwöhnt, haben wir es uns angewöhnt, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete für verwerflich zu halten, oder ganz kurz gesagt – Waffen überhaupt. Da ist immer auch ein bisschen Kapitalismuskritik dabei und die ist nicht unberechtigt, denn es ist schwer erträglich, dass es Leute gibt, die mit dem Tod eine Menge Profit machen. Ich denke also, dass man es ganz absolut gesehen erst einmal rechtfertigen kann, Waffen generell abzulehnen. Denn gäbe es gar keine Waffen, dann wäre die Welt vermutlich ein besserer Ort. Vor dieser Logik ist jede zusätlich produzierte oder gelieferte Waffe eine mehr, die uns weiter weg von unserem Sehnsuchtsort einer besseren Welt bringt.
C-17 Globemaster, Ungarn (gemeinfrei, U.S. National Archives) |
Nun leben wir in einer Welt, in der absolute Standpunkte, wie beispielsweise gesinnungspazifistische Standpunkte, nicht leicht zu vertreten sind, denn die Wechselwirkungen, in die alles in dieser inzwischen sehr verdichteten Menschenwelt verwoben ist, zeigen jedem Standpunkt Konsequenzen auf, die der den Standpunkt einnehmende nicht wünschen oder manchmal nicht einmal akzeptieren kann. Bleiben wir bei unserem gesinnungspazifistischen Beispiel: In einer Welt, in der "die anderen" Waffen haben und einsetzen, drohen ganz offensichtliche unwünschbare Konsequenzen, wenn man selbst auf seiner friedlichen Insel radikal pazifistisch ist und sich nicht darauf vorbereitet, sich im Ernstfall verteidigen zu können.
Schlimme Konsequenzen jeglicher Wahl
Wie ist es aber in dem jetzt ganz realen Beispiel: Sind Waffenlieferungen in die Ukraine zu ihrer Selbstverteidigung gegen den Angreifer gut oder schlecht? Das kommt darauf an. Zum Beispiel darauf, ob es weniger drastische Möglichkeiten gibt, der Ukraine gegen ihren Agressor zu helfen. Diplomatie ist die erste Wahl. Was aber, wenn der Angreifer darauf besteht, dass sein Angriff gerechtfertigt sei und dann sogar noch agressiver wird, Kriegsverbrechen begeht (Zivilisten erschießen, Krankenhäuser bombardieren, plündern, zivile Infrastruktur zerstören, Kinder aus dem Land entführen...) und seine Angriffe ausweitet?
Zur Diplomatie braucht es immer beide Seiten. Hier in dem realen Beispiel ist es ganz klar so, dass man erst wieder zur Diplomatie übergehen kann, wenn der Angreifer wenigstens vorerst bereit ist, von seiner Agression abzusehen. Noch genauer gesagt: Aus ukrainischer Perspektive geht es ums Überleben und man kann ja nicht mit jemandem reden, der einem das Messer an den Hals hält. Aus ukrainischer Perspektive hieße es, Teile des eigenen Landes und der eigenen Bevölkerung aufzugeben, wenn man in diesem Moment verhandelte. Es muss Verhandlungsmasse geben, das heißt, mindestens eine Seite müsste etwas anbieten. Dass die Ukraine Russland nicht anbietet, doch einfach die "eroberten" Landstriche zu behalten, ist sicherlich verständlich. Dass Russland keine Angebote machen kann, ist weniger verständlich, denn es hat sich ja etwas genommen, dass ihm nicht gehört, da ist also etwas, das man anbieten könnte. Aber Russland will nicht.
Und darüber hinaus ist auch klar: Was soll denn Russland an den Verhandlungstisch bringen, wenn es das Gefühl hätte, die Ukraine besiegen zu können. Mit anderen Worten, ein gewisses Maß (und über das muss man reden) an Waffenlieferungen zur Verrteidigung ist notwendig, damit es überhaup zu Gesprächen kommt!
Vor diesem Hintergrund finde ich es zynisch zu hören, Waffenlieferungen verlängerten den Krieg... Ja, das stimmt aus einer ganz bestimmten Perspektive: Wenn die Ukraine aufgäbe, wäre der Krieg ganz schnell vorbei. Aber auch das hat wieder Konsequenzen, die wir uns und der Ukraine schon gar nicht wünschen können. Ganz groß gedacht: Man kann im 21. Jahrhundert keinem Staat das Signal geben, es lohne sich, in ein anderes Land einzufallen und dort zu zerstören und zu töten. Wenn solche Versuche mit vorauseilender Diplomatie oder gar Landgewinn belohnt würden, gäbe das ein verheerendes Signal, dass die Sicherheit souveräner Staaten überall infrage stellte.
Die andauernden Waffenlieferungen haben ebenfalls Konsequenzen, die nicht wünschbar sind, z.B.: Noch mehr Menschen sterben, als es der Fall wäre, wenn die Ukraine aufgäbe. Aber da sind wir wieder bei der Frage, ob es wünschenswert sein kann, dass die Ukraine aufgäbe. Eine Folge könnte nämlich sein, dass wiederum noch mehr Menschen stürben, wenn sich Agressoren durch solch ein Aufgeben ermutigt fühlen, das nächste Land zu überfallen.
Wir können festhalten: Jede Wahl, die wir treffen, hat große Nachteile – ein Dilemma. Und deswegen müssen wir auch in der Diskussion darum vorsichtig sein. Es ist durchaus legitim, dass die Meinungen über die Konsequenzen und deren Wünschbarkeit auseinandergehen. Ganz persönlich hielte ich es für ein Unding, den Ukrainern die Waffen zur Selbstverteidigung vorzuenthalten, sie damit ans Messer der Russen zu liefern und eine neue, gewaltsame Weltordnung voranzutreiben, in der Autokratien einfach schwächere Nachbarn überfallen.
Deontologische Ethik: Gesinnung und Tugend
Wir bewerten Handlungen – ob wir es wissen oder nicht – mit ethischen Konzepten. Zum Beispiel wäre ein mögliches Konzept zur Bewertung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete meine eigene Gesinnung oder Überzeugung: Als Pazifist bin ich grundsätzlich gegen Waffen und lasse da nicht mit mir diskutieren. Oder: Töten ist eine Sünde, Liebe und Schutz jeglichen Lebens ist tugendhaft und deswegen bin ich strikt gegen eine Beteiligung an jeglichen kriegerischen Konflikten.
Ich denke, dass wir im Westen mit dem Verschwinden von religiösen Regeln ganz generell zu wenig auf Tugend setzen. Tugenden wie beispielsweise Geduld, Selbstlosigkeit, Toleranz oder Höflichkeit sind eine Grundvoraussetzung für ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander. Um jedoch Handlungen in komplexen Situationen, wie wir sie in der Weltpolitik vorfinden, zu bewerten, greifen solche deontologischen Ansätze der Tugendethik oder Gesinnung zu kurz. Sie machen es sich zu einfach und stellen die Idee über das Denken (Ideologie), anstatt die Ideen aus dem Denken zu entwickeln (Vernunft). Um gute, praktikable Ideen aus dem Denken ableiten zu können, muss sich das Denken zwangsläufig um mögliche Konsequenzen der mutmaßlich in Handlung überführten Ideen drehen.
Konsequentialismus und Verantwortungsethik
Diese ethischen Konzepte, die eine Handlung moralisch nicht nach unumstößlichen Werten, Ideen und Gesinnungen, sondern nach den Konsequenzen der Handlungen bewerten, eignen sich in den unüberschaubaren Wechselwirkungen der Weltpolitik schon eher, denn wir müssen ja mit den Konsequenzen unserer Entscheidungen und Handlungen umgehen. Wenn uns diese Konsequenzen letztlich in ein Verderben stürzen, wird es uns auch nicht mehr helfen zu sagen, aber wenigstens bin ich meiner Gesinnung treu geblieben. Das ist kein Maßstab, keine Währung im praktischen Kampf um Gerechtigkeit, Menschenwürde und das Überleben.
Ein Einwand drängt sich sofort auf: Wenn denn die Wechselwirkungen wirklich so komplex und unvorhersehbar sind, dann kann ich die Folgen meines Handelns ohnehin nicht abschätzen und bin dann eher auf der sicheren Seite, wenn ich meiner Gesinnung folge. Ja, würde ich entgegenen – wenn es das Ziel ist, ein reines Gewissen zu haben (egal wie sich die Konsequenzen entfalten), dann ist das ein mögliches Herangehen. Wenn es mir aber eher darum geht, dass wirklich mehr Gutes als Schlechtes passiert, dann lohnt sich die Anstrengung, die Konsequenzen so gut wie eben möglich abzuschätzen zu versuchen und möglichst schlimme Konsequenzen – selbst wenn nur in einem begrenzten zeitlichen und räumlichen Umfang – zu vermeiden.
Politische Konsistenz als Nebenschauplatz der Moral
Wir alle mögen Konsistenz, Verlässlichkeit und eine gewisse Beständigkeit unseres Weltbildes und der Anschauungen jener, denen wir vertrauen müssen. Aus diesem Grund übrigens gibt es überhaupt nur politische Parteien. Sie bildeten sich unter Regierungsmitgliedern, die sich aus gemeinsamen Überzeugungen gegen Gruppen anderer Überzeugungen zusammenschlossen. Das hatte viele Vorteile in der Organisation der politischen Arbeit und es hatte vor allem den Vorteil, dass man bestimmte Gruppen in der Bevölkerung hinter sich vereinen konnte. Deswegen gehen wir heutzutage wählen, daher kommt unsere moderne Demokratie.
Wir mögen stabile Gesinnungen in den Parteien, die wir wählen oder hinter denen wir stehen oder in denen wir tätig sind. Aber nicht um jeden Preis, wenn sich die Realität stark verändert, erfordert das mitunter starke Anpassungen im Weltbild derer, die mit dieser Realität umgehen müssen.
Es gibt ja durch Russlands Krieg motivierten und ganz erheblichen Gesinnungswandel auch in anderen europäischen Ländern: Stellen wir uns Schweden vor, das eine auch in der Bevölkerung ganz tief verwurzelte politische Neutralität im Spannungsverhältnis Russland und Nato lebte. Und nun tritt Schweden in die Nato ein! Das ist noch einmal ein ganz anderer strategischer Schritt als die mitunter taktische Entscheidung, welche Verteidigungswaffen wir liefern.
Vor dem Hintergrund finde ich es billig, den Grünen oder der SPD vorzuwerfen, sie hätten noch vor zwei Jahren die Positionen, die sie jetzt einnehmen als kriegstreiberisch abgelehnt und sie haben mit pazifistischen Slogans um Wähler geworben, nur um jetzt in der Regierung anders zu handeln. Es wäre ja geradezu idiotisch (im antiken Sinne des Wortes), wenn Politiker und Parteien ihre Standpunkte nicht ändern würden, selbst wenn es zu plötzlichen und gewaltigen Veränderungen in den politischen Gegebenheiten kommt. Nichts anderes ist die sogenannte Zeitenwende: Wenn es so eine Wende gibt, dann muss man doch seine Position der veränderten Realität anpassen. Mir zeigt das ein realistisches und nicht-ideologisches Politikverständnis, wenn Parteien ihre Konzepte den neuen Wirklichkeiten anpassen, genau das erwarten wir doch von Politik!
Das heißt nicht, dass man die eigenen vergangenen Positionen nicht reflektieren und gegen die neuen möglichen Positionen als Kontrast halten sollte. Hier wundert es mich eher, wie scharf eine jetzige CDU-Opposition mit jeglichem Zögern der neuen Regierung in solchen schwierigen Zusammenhängen ins Gericht geht. Dieselbe Partei, die sich angeführt von Angela Merkel jahrzehntelang einem immer autoritärer werdenden russischen Staat angebiedert hat, setzt jetzt diejenigen, die diese Suppe nun auslöffeln müssen unter so viel Druck, dass darunter der gesellschaftliche Zusammenhalt unserer Gesellschaft Schaden zu nehmen droht. Das finde ich geschichtsvergessen und unverantwortlich, da ist mir zu wenig Gesinnung, zu wenig Tugend in der Moral.
19.02.2023 – Update: Habermas' Plädoyer für Verhandlungen
Als ich am Artikel oben arbeitete, veröffentlichte Jürgen Habermas den Essay Ein Plädoyer für Verhandlungen. Wir haben uns aber nicht abgesprochen, ich schwöre :)
Natürlich müht sich Habermas nicht mit den grundlegenden Fragen von Ethik und Moral auf dem Level eines Proseminars ab, so wie ich oben. Er arbeitet dann doch inhaltlich tiefer und schaut auf die kontingenten Bedingungen unserer Handlungen in dem Zusammenhang. Also etwa – und da muss man ihm Recht geben – auf die fehlenden expliziten Ziele der Waffenlieferungen. Soll die Ukraine sich verteidigen? Soll sie oder wollen wir gar "Putin besiegen"? Und wenn ja, was heißt das jeweils, wann ist solch ein Ziel erreicht? Habermas warnt vor der sich entwickelnden Eigendynamik des Krieges durch Waffenlieferungen und plädiert aus diesem Grund für vorbeugende Verhandlungen:
"Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren! Mir geht es um den vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen." (Habermas, a.a.O.)
Das zuletzt genante Szenario, in dem Russland doch die Oberhand gewinnt und wir uns dann zurückziehen müssen, soll ja gerade durch die Waffenlieferungen verhindert werden und wenn man den Experten in den Medien vertrauen darf, ist es sehr unwahrscheinlich, dass Russland weit über das hinaus kommt, was es bisher erreicht hat.
Verantwortung und fehlende klare Ziele der Unterstützer Kiews
Habermas bringt noch ein anderes starkes Element, dass ich so zusammenfassen würde: Wir sind aus den zwei Weltkriegen geläutert hervorgegangen, haben das internationale Völkerrecht revolutioniert und uns verpflichtet, Streitigkeiten friedlich beizulegen. Jetzt sehen wir, wie unsere berechtigte Unterstützung noch mehr Krieg produziert. Das ist vielleicht alternativlos, aber dennoch ein neuer und nicht lange hinnehmbarer Zustand. Wir sind besser als das, was wir jetzt gerade (von Russland zu) tun (gezwungen sind), wir müssen uns besinnen auf unsere friedliche Grundüberzeugung und alles dafür tun, hier das Töten zu beenden. Es gibt keinen gerechten Krieg außer die Selbstverteidigung und die Linien zwischen Selbstverteidigung und Krieg führen ("wir müssen Putin besiegen"), scheinen unscharf zu werden.
"Im Lichte dieser Entwicklung habe ich die Formel verstanden, dass die Ukraine 'den Krieg nicht verlieren darf'. Denn aus dem Moment der Zurückhaltung lese ich die Warnung heraus, dass auch der Westen, der der Ukraine die Fortsetzung des Kampfes gegen einen kriminellen Aggressor ermöglicht, weder die Zahl der Opfer noch das Risiko, dem die möglichen Opfer ausgesetzt sind, noch das Ausmaß der tatsächlichen und potenziellen Zerstörungen vergessen darf, die für das legitime Ziel schweren Herzens in Kauf genommen werden. Von dieser Abwägung der Verhältnismäßigkeit ist auch der selbstloseste Unterstützer nicht entlastet." (Habermas, a.a.O.)
Habermas schließt aus dem internationalen Recht, dass "die Suche nach erträglichen Kompromissen" alsbald einsetzen muss, wenn Sanktionen nicht wirken. Gleichzeitig gesteht er zu, dass das nicht geht, wenn der Agressor nicht zu Gesprächen bereit ist. Der Grund dafür mag sein, wie Habermas vorschlägt, dass der Westen kein klares und entsprechend niedrigschwelliges Ziel formuliert hat, wie beispielsweise die Wiederherstellung der Grenzen von vor Februar 2022. Putin könnte jetzt fürchten, dass der Westen ihn auslöschen wollte und deswegen nicht sprechen wollen. Aber das ist natürlich Spekulation. Denn warum sollte Putin nach "nur" einem Jahr Offensive schon kapitulieren und vom Landgewinn absehen?
Ich halte es für nahezu unmöglich, aber ggf. einen Versuch wert, "nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt." (Habermas, a.a.O.)
Auch Habermas hält das für wenig aussichtsreich, aber nicht ausgeschlossen. In der Konsequenz haben wir also in seinem Essay einen Vermittlungsversuch in der deutschen Öffentlichkeit. Er schlägt sich nicht auf die eine oder andere Seite, leitet aber Kommunikation zwischen den Parteien ein und macht damit mehr Handlungsoptionen vorstellbar, als sie im Moment im Raum stehen. Typisch Habermas' kommunikatives Handeln.
Das passt dazu:
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