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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

13. April 2022

Prekär geborgen in der letzten Kugel

Eine (fast unmögliche) Kurzfassung zu Peter Sloterdijks Sphären Band II von Paul-Heinz Schwan

Globalisierung oder Sphäreopoiese im Größten ist das Grundereignis des europäischen Denkens das seit zweieinhalbtausend Jahren nicht aufhört, Umwälzungen in den Denk- und Lebensverhältnissen der Menschen zu provozieren. (Peter Sloterdijk)

Das Leben – eine runde Sache?

Das Runde, Bergende, Harmonische begeistert. Es zieht uns schnell in seinen Bann. Es fasziniert zunächst und beherrscht dann diejenigen, die so "beherrscht" – heute würde man sagen: geführt – werden möchten. Rundes ist einnehmend, bewegend. Es inspiriert das Gefühl. Es schmeichelt dem Wohlsein. Der runde Tisch, die gesellige Runde. Das runde Lenkrad für die vielen PS. Wir sprechen vom "Runden" wenn wir beruhigen oder verführen wollen. Wir sitzen gesellig an runden Tischen, sind Teil einer illusteren Runde. Wer möchte nicht, dass der Tag, das Projekt, ja sein Leben eine "runde Sache" wird. 

Atlas, der die Welt hält und von 12 Frauen umgeben ist, die die 12 Tierkreiszeichen darstellen (gemeinfrei)

Irgendwie rundet man immer auf oder ab und wenn es nur der Schnaps zum Abschluss der Verhandlungsrunde ist. Sonst fehlt was. Rundungen wirken architektonisch immer. Die Portale einer Kirche und deren Decken sind rund. Wer im Altertum Herrschaft oder Schutz begründen wollte hielt eine Kugel in der Hand oder stand auf einer. In eine Ecke wird man gestellt und bestraft. In die Runde wird aufgenommen, kann die Mitte finden. Alles menschliche Leben beginnt in einer Rundung, in einer "Kugel". Dass wir auch an den Rand einer Rundung geraten können, dass wir auf einer Kugel wohnen die die einzige und letzte sein könnte, dass uns eine Kugel treffen kann, all diese Schrecken sitzen auch tief. Wie kann denn das Bergende auch unser Vernichter werden?

Sicherlich erinnern Sie sich an ihren Geschichtsunterricht. Dieses "Lernen nach Zahlen", das Hasten durch die Jahrtausende der Königshäuser von Kaiserthron zu Kaiserthron ohne roten Faden? Wer konnte sie am Ende noch zählen, diese Unproduktiven, die vom Raub lebten und abgehoben "ganz oben in der runden Burg" im Reichtum schwelgten, während "die ganz unten" in Frondienste, Hunger und Armuts-Olympiaden lebten? Vielleicht haben Sie sich mal gefragt, was das Ganze nur so lange am Leben hielt? Warum Herrscher kamen und gingen, aber alle mit noch größerem prahlten. Warum sie gerade dadurch die Fügsamen, die Rettungsbedürftigen, die Schutzsuchenden, die ihnen zujubelten, fanden. Macht hat so zwei Seiten: Macht gegen mich – die nehme ich in Kauf – denn ich erhalte Macht und Schutz gegen meine Feinde. Ich bin in der Obhut.

Putin macht es aktuell vor: Das Böse (der Westen) ist degeniert und faschistisch. Wir in der russischen Welt müssen zurück zu Einheit und Größe. Gottesfürchtiger Glaube und die stärkste Rüstung werden uns umfassen: Heim ins harmonische, mächtige, beschützende Reich. Auch wenn ihr jetzt noch nicht alles habt, bald wird es ein geeintes, reiches Reich. Das wird eine runde Sache! Ich bin der Starke und kämpfe für Euch, halte mich für Euch fit: ich Schwimme und Reite. Die mediale Vorgabe: Große, verführerische Bilder! Nur unsere Wahrheit! Weg mit der alles vernichten-wollenden Kritik! Sie stört die gute, die runde Sache. Auf nach Eurasien! 


Im globalen Zirkus

Waren Sie schon einmal im Zirkus (circus = lateinisch für Kreis)? Mindestens ist Ihnen aber schon der Spruch über die Lippen gegangen oder der Gedanke gekommen: Was ist das hier nur für ein Zirkus? Oder auch: Diesen Zirkus mache ich nicht mehr mit! Aber auch wenn sie nicht über diese Vorerfahrung verfügen, dann werden sie nach wenigen Sätzen ahnen, worum es geht: Wir verfügen alle über "Zirkusgene": Denn, denken Sie sich eine Gruppe von Menschen, denen ein Talent gemeinsam ist: Sie können verführbare andere durch ihre Talente und Inszenierungen so in ihren Bann ziehen, dass diese für eine Weile ihren grauen Alltag vergessen, den Darbietungen magnetisiert folgen. Dies tun sie, weil auch sie durch ein Bestaunt-Werden in einen eigens dafür hergerichteten Raum zu den unglaublichsten Künsten verführbar sind. Die mit den "Talenten" bereiten sich vor; die Zuschauer werden überrascht.

Was dem Feldforscher direkt ins Auge sticht: Alles ist Rund! Nicht nur die Bühne, die hier Manege heißt, sondern auch die Sitzordnung der Zuschauer folgt diesem Rund. Um Zuschauer und Künstler spannt sich ein rundes, nach oben spitz zulaufendes Zelt. Alle haben alle im Blick. Alles ist Bunt! Alles ist bunt-rund-geborgen in einem Innen.

Die Notausgänge sind beleuchtet. Niemand denkt daran, sie zu nutzen. Für wenige Stunden schwelgen sich alle in ihren Illusionen. Mit einem Direktor, der glaubt, alles wie geplant im Griff zu haben. Einer Musik die die dem Zirkus eigenen Melodien findet. Artisten, die über ein gespanntes Seil laufen, der Clown, der die Masken, den Spaß und die Melancholie salonfähig macht, der Dompteur, der unter Einsatz seines Lebens die bedrohliche Wildnis zähmt, der Reiter, der das domestizierte Tier immer im berechneten Kreis laufen lässt – physikalisch gebildete sagen: Die Fliehkraft nutzend.

Obwohl alle die Sprache haben, läuft alles mit nur wenigen Worten ab, greift aber alles ineinander und hält die Unterhaltung und die Spannung aufrecht. Soviel Atmosphäre und Sphärenspannung auf engstem Raum und mit vielen anderen. Aber auch hier schlägt die Entropie zu. Danach laufen alle wieder in den Artisten-Ernst des Lebens, in einen empathischen Vandalismus. Dem Zirkus kann man sich anscheinend nicht entziehen. Es wechseln allein die Formate. 

Aktuell zeigen einige die uralte Zirkusnummer "Krieg", die den einen ihr Zirkuszelt vernichtet und den anderen ein Zirkuszeltausbau bedeutet. Beiden grillt diese Nummer die Gefühle für gute Nachbarschaft. Der Angreifer vernichtet beim Angegriffenen den Glauben, auf den er bald wieder angewiesen sein wird.

Obwohl die Initiatoren wissen, dass sie hier die unberechenbarste aller Nummern aufführen, die sich auch gegen sie selber wenden könnte, lassen sie dem wilden Teil ihrer Psyche freien Lauf. Vor dem Auftritt erzählen sie sich die wildesten Mythen über berechtigte Kriege und gute Schutz-Mächte im Weltmaßstab. So spielen sie Zirkus, der im Extrem alles auslöschen könnte. Aber es ist wohl auch dieses Faszinosum des Unglaublichen, Unwahrscheinlichen, das in diesem Zirkus zum Programm werden kann. Schauen Sie nur mal in die Geschichte dieser Zirkusnummer. Diese haben die unterschiedlichsten Varianten, die oft genug und oft kalkuliert eskalieren: Dispute, gewaltlose Krisen, gewaltsame Krisen, begrenzte Kriege und letztlich Welt-Kriege. Alle Staaten führten, wie der britische Soziologe Michael Mann nachgerechnet hat, im Schnitt in der Hälfte ihrer Zeit Krieg. Wenn es schlecht läuft, brennt der globale Zirkus und mit ihm Direktoren, Artisten und Zuschauer. Die letzteren stellen immer die schweigende leidende Mehrheit. Aber der Krieg ist nicht demokratisch. Dann riecht es nach Atom-sphäre: eins der kleinsten Element vernichtet dann alles. Was genau bringt all das in eine solch bewegende Begegnung? Um das zu beantworten, bräuchte es eine Wissenschaft der Sphären.


Die Entdeckung des Runden

Vielleicht hätten Sie gerne einen Geschichtsunterricht gehabt, der anders als mit Zahlen begann. Vielleicht mit einer Erzählung über einen Garten, in dem sieben bärtige Männer vor einer Kugel meditierten und sich ganz von der alles durchstrahlenden Idee des Runden, Schönen, Idealen erfassen ließen. Ein jeder könne in ihrem Kosmos geborgen und an seinem Platz stehen, auf dem er seine Beiträge für das alles überstrahlende Runde-Schöne zu leisten habe. Sie arbeiteten dran eine philosophische Schule zu errichten, in der die alt europäische Welt in ein Kugeldenken, einem Einheitsdenken genommen und auf "Immunologie in Hierarchie" untersucht wurde. Das Kugeldenken nannte sie Philosophie. So denken sie Groß, Umfassend, so dass sie für Größeres und Groß-Denker nutzbar wurde, auch bald für die Vorschule der Theologie herhalten konnte. Sie konstruierten den Lehrplan aus einem absolut Rundem, Umgreifenden, Attraktiven, Tragendem, Schönsten dem man die Gefolgschaft einfach nicht verweigern konnte. Es versprach etwas Unglaubliches.

Den Anfang im Band II "Globen" macht der hohe psychosemantische religiöse Gebrauchswert der klassischen Kugelspekulationen. In der umfassenden Kugel entdeckten die Alten nach Sloterdijk eine Geometrie der Geborgenheit. Sie hatten den Ehrgeiz, das Ganze des Seienden in dem stimulierenden Bild einer allumfassenden Sphäre darzustellen. "Von alters her will das philosophische Denken sagen, wer wir sind und was wir zu tun haben." (P. Sloterdijk: Im Weltinneraum des Kapitals, S. 11).

Wer sich dem doch widersetzte, dem wurde der Schierlingsbecher gereicht. Hier im Garten jedenfalls legten die Versammelten und alle die noch hinzukamen, die Fundamente für ein 2500 Jahre dauerndes Experiment, dessen Echo bis heute Wiederaufführung feiern möchte. Es waren die Anfänge der befriedenden Umgreifung: Eine Geometrie im Ungeheuren, die erste metaphysische Globalisierung.

Was die Sieben noch nicht ahnten, dass die Entropie auch vor dieser Kugel-Macht nicht still stehen wird. Oder wenn sie es ahnten, übergingen sie es geflissentlich. Außerdem werden ihre Nachfolger dazu einen Beitrag leisten: Sie werden die folgenden Gesellschaften mit den explodierenden philosophischen Theoriespielen endogen spalten. Es entfacht sich ein Krieg der Schulen, oder die Schulen fundierten die initiierten Kriege.

Der Band II der Sphären führt somit "das kleine reiche Wesen" aus dem "Basislager der ersten idealen Sphäre" mit schwärmend-verheißender und ängstlich-bewahrender Grundausstattung, zu rauschenden Höhen und in eisige Höllen: in Gruppen, Horden, Siedlungen, Städte, Reiche, Welt. Alles grundiert vom Konzept luxurierender Selbstbergung und Selbstumgebung gegenüber einer unmöglich gewordenen Außenwelt. In Archen, Stadtmauern, Kuppeln, Weltgrenzen, Immunsysteme. Dafür werden sie sich zusammen-zwingen, immer größer, immer kriegerischer. Daraus entwickeln sich die Routinen der Friedensschlüsse. Keiner kann ewig "im Krieg wohnen".


Welt wird auch sonst zur Hölle

Wo es "Erhabene-Sphären" gibt, dort gibt es auch "Anti-Sphären". Entzieht man diesem unsäglichen Raum den katholischen Wächtern, dann kann die Welt und auch meine eigene Innere zur Höllen-Sphäre werden. Wenn mich alles überfällt, alles um mich herum "einstürzt", dann wird das ehemals bergende zur Höllenfahrt. Dann fällt um das "kleine Wesen" herum alles ins "Nichts". Schon früh lehrt das Leben die Menschen, dass sie sterben – in einem thanatologischen Raum existieren. Das macht sie "erwachsener", aber nicht weniger ekstatisch, besonders aber kultureller. Es sterben ja immer nur die Anderen.

Aber "damit die ganze Welt menschenleer erscheine, genügt es, dass ein einziger Mensch dir fehlt". Zügig wird der vom Tod entleerte Raum mit "Ergänzungs-Kultur" zugestellt. Die Gemeinschaft soll und darf nicht in Depression fallen. Aus jeder Niederlage geht man in Größeres auf oder gestärkt hervor und baut größer. Nur das Größere schützt, nicht der Rückbau! So zumindest erscheint die Welt im Zeitraffer betrachtet mehr in größeres zu flüchten. Sich begnügen scheint dem Wesen beängstigender als zu expandieren.

Menschliche Beseelungsverhältnisse kommen eben nicht einseitig als das Schönste, Größte, Umfassendste unschuldig daher. Die Geschichte aus der es zu lernen gälte, das sind doppeldeutige Errungenschaften: Weinrauschende Feste und blutrünstige Gelage; Blumen bindende Delirien und Kreuze errichtende Rauscharmeen, verwöhnt getragene Seelen und Waffen schmiedende Kommunen. Vor dem Wohlfühlen hat scheinbar jemand den Krieg gesetzt.

Nicht nur unglaubliche Städte, die früh entstehen, zeugen bald von der Ästhetik dieser scheinbar nie zu überwindenden Differenz. Wer darf denn überhaupt noch zu ihnen sagen Du musst Dein Leben ändern fragt Sloterdijk folgerichtig in einer anderen Veröffentlichung mit diesem Titel und setzt eine "scheue Vermutung" als tastende Antwort: nur die Krise? Im Großen ist eben nichts, was nicht auch im Kleinen so vorgeprägt ist. Doch warum gibt es noch immer eher große Sphären als kleine?


Erst die Sphäre, dann die Moral

Die Menschen wohnen als die Geburtlichen in ihren Verwöhnungen, in ihren Erfolgsgeschichten anwachsender Nervlichkeit und Symbol vermittelter luxurierender Selbsterregungen, also umgeben von Attraktoren von denen "assoziierte Befehle" auszugehen scheinen, von denen sie sich provozieren lassen. Denn "sie kommen in die Arena mit dem frühesten an Urteilskraft, dem Atmosphärengefühl, ausgestattet. Es ist ursprünglicher als der oral-intime Sinn, der Geschmack und öffentlicher als dieser zugleich. Der erste Raum als Atmosphäre ist noch nicht mehr als Schwingung, aber schon die "Amme des Werdens".

"Von der alt- und neu-europäischen Vernunft-Kultur wurde diese dritte Größe – neben Wörter und Dinge, sträflich beiseite gelassen. Dass es etwas gibt, was weiträumiger, früher, durchdringender als beide, haben sie nicht wahrhaben wollen. Außer – leider – bei Heidegger und Hermann Schmitz in der Neo-Phänomenologie, sind die Versuche bis heute eher Randgebiete. Es ist damit ein Denken in die Welt eingebrochen, das sich selber zum Ernstfall erklärt, von dem aber die meisten, auch die Mächtigen, nur Außenansichten gewinnen. Globalisierung oder Sphäreopoiese im Größten ist das Grundereignis des europäischen Denkens das seit zweieinhalbtausend Jahren nicht aufhört, Umwälzungen in den Denk- und Lebensverhältnissen der Menschen zu provozieren. Ab jetzt gilt: erst die Sphäre, dann die Moral. Menschen müssen sich ab jetzt in einem Umfassenden lokalisieren, nicht mehr Schoß oder vegetative Grotte, ein Herd oder Tanzreigen, sondern in einer logischen und kosmologischen Konstruktionsform von überzeitlicher Geltung." (Sphären. Makrosphärologie: Band II: Globen)


Als Reminiszenz aus dem fragilen Ursprung für das Verlangen nach "Wachstum in ähnlichen Sphären" stehen bereit: ein untrügliches Gespür für Atmosphärenstimung, ein "unstillbares" Verlangen nach Verwöhnung und Wohlsein, immunisierende, hüttenschaffende und -sichernde Anstrengungen, umhegt von nie schlafenden Wällen, Zäunen, Schutz meinenden Mauern unter ausgespannten privaten, Gottes- und Regentenschirmen, Baldachinen, Sternen- und Himmelszelten. Später dann Rechtssysteme, Versicherungen und Wohlfahrtsstaat.

Die Aufschreie gegen überflutenden Regentenluxus, Staatsschulden, unfassbare Kriegsgelüste, Eroberungen und Höchstrüstung bleibt leise, wenn sie als Sicherung der fragilen Ursprungsgewöhnungen, als Pflicht aller deklariert werden. Dennoch gilt: Laufen versorgende, umhegende Bemühungen lange Zeit und an zu vielen vorbei, werden Geburtliche für anders bergende Gralshüter aufgeschlossener.

Die Vernachlässigten votieren, innerlich und äußerlich neu-verführbar, für eine Rollenneubesetzung. Dann werden sie neu-religiös, rufen zu ihren Waffen und Revolutionen bekommen ihre Zeit. Dann erobern im Sturm die klingenden Versprechen von Erlösung, Führer, Heimat, Volk, Vaterland "heim ins Reich" oder Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Solidarität die Herzen der Fragilen die sich nun noch festere Mauern und Rache an verletzer uralter Erwartungen versprechen. Koste es was es wolle. Die Rache ist mein – sprachen neuer Herr und alter Diener.

Wir erinnern an Band 1: Der Mensch ist ursprünglich zu zweit, also primär auf Beziehung, Sozial angelegt, Immunisierungsbedürftig. Dennoch sind die kämpfenden Reiche, die Trennungs-Zeichen unübersehbar. Wie ihn also an seinen Ursprung binden, ohne ihn fest-zu-binden? Gibt es nichts, was alles in sich birgt, vereint, zusammenhält? Was könnte das besorgniserregte Gemein-Wesen einbinden, zusammenführen, halten, sogar steigernd-übersteigen? Wie streng, wie übersteigert, wie überwältigend stark, ergänzend, verwöhnend, streng und suggestiv ja wie erotisierend-erotisch müsste das Welt-Konstrukt werden?

Die das alles und so vor 2500 Jahren denken wollten, wählten eine intensive Idylle. Einen Garten vor der Stadt, einen lieblichen Rückzugsort. Kein Seminarhotel, keine moderierten Groß-Lerngruppen in Stadien. Lieber eine Akademie aus erlesenen Teilnehmern, vor der Stadt. Fern vom üblichen "Geschwätz des Marktes". Denn es sollte kein zufälliges intuitives Kunstprojekt, keine schnelle Skizze werden, sondern eine strenges, logisches "for ever". Rund aber vermessen. Gestuft mit einem funktionalen Oben, einer Herz-Mitte, einem beschirmten Unten, aber alles in einem umfassenden Runden, alle einbindend. Die Platzanweiser exklusiv-inklusive.

Und sie wurde erotisch für erotisierbare Seelen: das Schönste, das Größte, das Rundeste, komplett beleuchtet vom Sonnenlicht-Sein: Gott und Welt und Volk in einem "hellen Parlament". So sicher, dass keiner aus seinen Rollen und aus dem Rahmen fallen würde, fallen durfte. Wer wollte da zurückbleiben. Angesichts einer solchen Immunität, durch Sicherheit im Größten. Sokrates war der Sohn einer Hebamme und Mitglied im Projektteam der ersten metaphysischen Globalisierung.
 

Wer beherbergen will, muss Unwahrscheinliches-Übergroßes bieten. Ihr besonders Markenzeichen: Kugeln, Globen, Kreuze. Kreuze auf Kugeln um den Kompromiss der gültigen Hierarchie zu zeigen, wie Jesus hier links im Bild von Andrea Previtali (Salvator Mundi, 1519, gemeinfrei). Kreuze auf Kugeln in Gottesdienerhände, Kugeln in Regentenhände eingesetzt vom Höchsten. Wahlweise Kugeln unter den Füßen von Regenten und Fromme. Im gelungenen Pathos trägt Atlas die Himmelkugel auf seinen Schultern. Er präsentiert das Prinzip: Entlastung! So entlastet waren wir im fötalen Frühling. Das überzeugt jeden: "blind". Ab da weiß es jeder: Da-sein heißt größte Lasten tragen. Nur große Gedanken können große Lasten tragen. Bald wird die Kugel auch ein Globus, auf den sehen die Eroberer, was sie haben und was noch fehlt. Ständig erweitert sich die Umsicht. Nun getragen vom Logos, der das Schwere-All in Schwebe hält.

"Die Kugel erweist sich als die dynamische, wahre Ikone des Seienden: denn indem sie den Betrachter informiert und umgreift, beginnt sie als wirkende Idee in ihm zu leben. Sie bringt das menschliche Auge in die exzentrische Position, die eigentlich nur einem abgetrennten Gott eigen sein könnte: folglich vergöttlicht sie den menschlichen Intellekt, der die Regel der Kugelerzeugung erfasst hat." Sphären. Makrosphärologie: Band II: Globen


Was braucht das kleine, zitternde Wesen im Angesicht des unglaublichen Raumes: Die Allmacht-Kraft eines Gottes. Wer mich als sein Ebenbild erschafft, dem kann ich nachfolgen, den kann ich auch bald überwinden = töten. Was folgt: die Mechanisierung der Mütterlichkeit in der nach-theologischen Zivilisation. So wurde das Gute, Runde, Schöne willkommene Blaupause für Religion und weltliche Regenten. Strenge, Befehl, Gehorsam und Disziplin: ein platonischer Nachhall des "Einhegens"? Alles "Züchtigen-Zurichten" ein gut gemeintes "Umsorgen", ein "vom Sein" gedachtes, also auch für mich?

Angesichts dieser Kugel als der einzigen die gilt, wird das kleine Wesen zum Optimismus verdammt. Es trainiert sich im exakten Optimismus: Das eine Sein ist der Reichtum schlechthin. Platon hatte es vorgemacht: Entspannung in der Apokalypse des Raums. Wer sich umschaut, entdeckt eine Welt voller Kugelsymbole. Auch heute noch und heute wieder besonders.

Doch den Einwohnern wird bald deutlich: Es ist "die letzte Kugel". Seit der terrestrischen Globalisierung durch Kartografen und Seefahrer, später Klimatologen, Wirtschaftspolitiker, Ökologen zeigt sie sich nicht nur als das Schönste, Rundeste, Beste, sondern ebenso als halbschön bis hässlich. Doch immerhin war sie 2500 Jahre gültig. Alles erobernde, ergreifende, strenge, hierarchische, ein Oben und Unten denken, in Vorgaben und Folgen, in Befehl und Gehorsam.

Egal, sagte der historische Mensch, hauptsache immunisiert, versorgt, ergänzt, eingebunden, aufgehoben in Gottes- und Herrscherhand. Stolz erhebt er den Blick zu denen, die für ihn mächtig sein müssen, weil sie von Gott eingesetzt wurden, um mich zu meinen. Dem König entsagen bedeutet dem göttlich-runden-umfassenden entsagen. Da kann man so manches übersehen, ertragen, hinnehmen. Vorerst.

Wer verzichtet auch modern geworden freiwillig auf alle Umhegungs-Sicherungen: Sozialstaat, Versicherungen, Recht, reichliches Warenangebot. Wir bleiben multi-verführbar und dadurch multi-benutzbar. Wir warten auf externe Versprechungen und laufen ihnen nach. Wehe uns übersieht jemand bei den Vergünstigungen. Und die Kugel? Uns heutigen scheint sie zuzurufen: spielt weiter mit mir. 

Lesen Sie auch Teil I:  Wir sind Plazentatiere >>


Anmerkung: Große Teile des Textes sind original aus oder angelehnt an Sphären. Makrosphärologie: Band II: Globen von Peter Sloterdijk, versehen mit Anmerkungen des Autors. Aus Platzgründen wurde auf ausführliche Zitationen verzichtet. Sie finden mehr dazu in Begleittexte zu Peter Sloterdijk „Sphären“ / Die letzte Kugel: Ein Begleittext zu Peter Sloterdijk: „Sphären“ Band 2: Globen von Paul-Heinz Schwan sowie in weiteren Begleittexte zu Band 2 + Band 3 vom Autor.

2 Kommentare:

  1. Ein faszinierender Artikel, auf intuitive Weise geschrieben. Einleuchtend herausgearbeitet finde ich besonders den Zusammenhang von Geborgenheit und Macht. Die Macht kommt im Gewand des vordergründig Anmutigen. Dabei kam mir direkt der Herr der Ringe zu Bewusstsein. Hier bündelt sich die Macht in der Form des "EINEN" des runden Ringes. Was dieser in den Träger anrichtet wissen wir alle.

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  2. Danke für Ihre Zustimmung. Sehr schön. Ja, vielleicht ist der Mensch ein Knecht und Herr der Ringe, vielleicht seines Ringes? Vielleicht wirft er Ringe aus und läßt sich von Ringen einfangen? Vielleicht ist er der Protagonist (s)einer „Unendlichen Geschichte“. Gute Geschichten sind lebenspraktische Philosophie.
    Das Runde in all seinen rund 7,95 Milliarden Facetten jedenfalls erscheint mir als die heimliche Weltmacht, eine weltumspannende „Pandemie“. Sie entspringt keinem Labor, kommt aus keiner Fabrik. Wir sind ihre Produkte und ihre Erzeuger. Wir sind ihre Tester, Beschädiger oder Vernichter, wie auch ihre Förderer oder Verhinderer.

    Sie intoniert und infiziert alles Neue und alles Bestehende. Ebenso alles Innovative wie alles Konservierende. Sie lebt in den schon ewigen, weltumspannenden, religionsübergreifenden Spekulationen über die Frage „Wer oder was ist der Mensch“. Wenn man sich das genauer ansieht, so spürt man in allem eine eigenartige Rundungs-Sucht im Verbund mit einer Rundungs-Blindheit. Diese verschärft sich m.E. durch die unheilvolle Trennung von Labor- und Lebensrundheit - ich könnte auch sagen: von Philosophischer- und Alltagsrundheit, von Politischer – und Lebenspraktischer-Rundheit, von Gruppen und Individueller Rundheit. Gleichzeitig ist sie fast ein Zaubertrank.

    Wenn Menschen sterben, stirbt eine Rundheit für die Hinterbliebenen. Wenn Kulturen untergehen, geht eine Rundung unter. Moderne Kulturen sind Rundungs-Designerkulturen, weil die Rundung nicht mehr philosophisch oder religiös, sondern selbstermächtigt entworfen werden will.
    Deshalb hatte Josef Beuys recht, als er sagte: Jeder ist ein Künstler. Er hätte ergänzen können „ein Rundungskünstler“. Jeder sitzt an seiner Honigmaschine.

    Ganz praktisch kann man es am Ukraine-Krieg sehen: Der Kanzler erhält zwei „Rundungsbitten“: einmal von Gegnern schwerer Waffenlieferung und gleichzeitig von deren Befürworter. Beiden unterstelle ich here Rundungsabsichten.
    Aber: je fundamentaler beide argumentieren, umso schwieriger wird die Sache.
    Putin führt einen / seinen „Rundungskrieg“. Wenn die Mehrheit ihm zustimmt, dann zeigt das, dass sie das „Putinsche-Rund“ als „ihr Rund“ empfinden. UND: Wer „meine / unsere Rundung“ stört, ist der Feind. Insofern sind Gesellschaften immer schon gespalten: Jeder trägt seinen Ring.
    Trotzdem treten immer wieder „Rundungsapostel“ auf und warnen vor der Spaltung. Sie nennen es „Befriedung der Gesellschaft“. Daran erkennt man, dass solche Gemeinschaften eben aus individuellen Rundungskünstlern bestehen.

    Das Runde ist fragil aber unerlässlich. Keiner kann auf Dauer im Un-Runden leben.

    Wer aber will sich zum Physiker, Mathematiker des Runden aufschwingen? Vielleicht ist ja sogar der Krieg das Runde, wenn es gegen den Rundungsfeind geht? Dann steigern sie sich ins heroische. Das Rund kann zu den Waffen rufen.
    Wer weiß schon, was wir alles für eine gute Rundung tun. Der Mensch ist somit unberechenbar, weil er seine eigene Rundung kaum kennt, aber spürt, wenn sie verletzt wird. Wenn Putin die Berichterstattung kontrolliert, dann kennt er offensichtlich das empfindliche von ihm gebaute Runde, in der sensible russische Seelen sich zu Hause wähnen. Er möchte sie vor einer Ernüchterung "bewahren". Er will ja nur "das Runde", „sein Volk“ im Runden halten.

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