Wahrheit und das Absolute – ein Interview mit Sebastian Ostritsch
Dieses Interview erschien zuerst in der aktuellen Printausgabe "Wahrheit und Wirklichkeit" der agora42. Sebastian Ostritsch ist Philosoph. Er lehrt und arbeitet an den Universitäten Stuttgart und Tübingen. Im Hegel-Jahr 2020 erschien sein Buch Hegel: Der Weltphilosoph.
Jakob Schlesinger: Bildnis des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Berlin 1831 (Ausschnitt, gemeinfrei) |
Herr Ostritsch, was hätte Hegel zu Fake News gesagt?
Hegel hat in seiner "Rechtsphilosophie" die öffentliche Mitteilung im Allgemeinen und die Presse im Besonderen als ein Mittel beschrieben zur "Befriedigung jenes prickelnden Triebes, seine Meinung zu sagen und gesagt zu haben". Hegel war also gar nicht erst so naiv, die Presse als ein Organ zur objektiven Wahrheitsgewinnung zu glorifizieren. Vielmehr muss sich das Gemeinwesen auf zwei Weisen gegen Meinungsmache immunisieren: zum einen durch die "Vernünftigkeit der Verfassung" und zum anderen durch eine Haltung, die sich aus der Gewissheit einer vernünftigen Staatskonstitution ergibt, nämlich durch "Gleichgültigkeit und Verachtung gegen seichtes und gehässiges Reden".
Die Wirklichkeit – gibt es so etwas? Hat nicht jede*r seine eigene Wirklichkeit? Ist Wirklichkeit also immer subjektiv? Müssen wir nicht von Wirklichkeiten im Plural reden?
Das Wirkliche zeigt sich gerade dadurch, dass es unsere individuell unterschiedlichen Wunsch- und Scheinwelten früher oder später wie Seifenblasen zum Platzen bringt, wenn diese nicht hinreichend in der Wirklichkeit gründen. Die Wirklichkeit ist, wenn man so will, die Lichtquelle, von der jeder Schein seinen Ausgang nehmen muss. Getrennt von ihrer Quelle gibt es nicht einmal den Schein.
Warum gibt es keine Wahrheit ohne Absolutes? Was ist das Absolute und warum sollen wir darauf nicht verzichten?
Ohne Absolutes gäbe es nur das Relative, das Bedingte: Nicht nur unsere Überzeugungen, sondern letztlich auch wir selbst hingen dann – zusammen mit allem, was es gibt – haltlos in der Luft. Damit das Seiende seiend und das Wahre wahr sein kann, braucht es das Absolute. Wir können daher auf das Absolute gar nicht verzichten, höchstens eine Weile in der Illusion leben, es gäbe kein Absolutes.
Viele Menschen glauben, Freiheit sei der kleine Spiel- und Fluchtraum, den man in einem ansonsten vor allem durch Notwendigkeit, Schicksalhaftigkeit und Alternativlosigkeit bestimmten großen Ganzen hat. Machen sie damit die Freiheit zu klein? Welche Bedeutung hat die Freiheit bei Hegel?
Hegel würde in der Vorstellung, Freiheit bestehe in der Flucht vor der Notwendigkeit, eine undialektische Entgegensetzung von Freiheit und Notwendigkeit sehen. Freiheit ist für ihn nicht Zügellosigkeit, sondern selbstgestiftete Notwendigkeit. Anders gesagt: Freiheit ist Selbstbestimmung, die nicht in der Entkopplung von der Welt und anderen Personen besteht, sondern in ihrem Einbezug. Frei sind wir, wenn wir uns von uns aus an andere Personen, Projekte und Institutionen binden.
Soweit das Kurzinterview. Ostritsch geht auf Hegels Bedingungen der Freiheit in seinem Beitrag "Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Widerspruch, Geist und Freiheit" auf agora42.de noch detaillierter ein:
Hegels "Geist" ist kein Gespenst, keine transzendente Größe, nichts außerhalb der Welt oder unserer selbst. "Geist" meint vielmehr das uns allen bekannte Phänomen, dass wir den zufälligen Umständen unserer Existenz nicht wehrlos ausgeliefert sind. Geist zu sein, heißt, dass wir uns zu inneren und äußeren Fremdeinflüssen verhalten, sie uns aneignen und daraus unser Leben machen können, ja machen müssen. Hierin besteht nach Hegel unsere Freiheit. Freiheit ist daher nicht in völliger Ungebundenheit, in einem absoluten Losgelöstsein von allen Bestimmungen zu suchen. Eine solche Freiheit ist leer und bedeutungslos. Frei zu sein, heißt aber auch nicht, sich blind mit etwas oder jemandem zu identifizieren. Statt sich in einer Sache oder Person zu verlieren, sind wir genau dort frei, wo wir uns selbstbestimmt auf eine Sache oder eine Person einlassen, sodass diese Sache oder Person zu einem Teil unserer Identität wird, ohne sie jedoch zu erschöpfen.
[...]
Weil selbstverantwortete Bindung wesentlich zur menschlichen Geistigkeit beziehungsweise Freiheit dazugehört, kann es einen freien Menschen im Singular nach Hegel nicht geben. Als freie Individuen sind wir notwendigerweise auf die Anderen, die gesellschaftlichen Institutionen und in letzter Instanz den Staat verwiesen: Nur im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen können wir selbstbestimmte Bindungen eingehen und zum Beispiel Eheleute, Eltern, Vereinsmitglieder, Kollegen oder Abgeordnete sein. Nur vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Seins (einer „Sittlichkeit“, wie sich Hegel ausdrückt) ist eine individuelle Existenz möglich.
Wer verstehen möchte, wie solche bekannten Hegel'schen Sentenzen wie "Der Geist ist das Absolute" oder "Das Wahre ist das Ganze" einzuordnen sind, dem empfehle ich den ganzen sehr zugänglichen Artikel "Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Widerspruch, Geist und Freiheit" zu lesen. Bei Geist und Gegenwart erschien zudem der Artikel Das unglückliche Bewusstsein, in dem wir Hegels Versuch beschreiben, einen philosophsichen Weg zur Ganzheit zu finden, die er vorher in Liebe und Religion suchte.
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