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26. Juli 2020

Kognitive Mobilisierung und Verwirrung

Der Weg der Aufklärung ist komplizierter als Immanuel Kant dachte

Es hat mich immer gewundert, dass antidemokratische Tendenzen wieder zunehmen, trotz des gesellschaftlichen Fortschritts über die letzten 75 Jahre, in der die Demokratie auch in Zusammenarbeit mit der sogenannten sozialen Marktwirtschaft (in Abgrenzung zum Wirtschaftsliberalismus) gezeigt hat, wie sie das Leben aller Beteiligten zu bessern vermag. Die Ängste vor den Fremden, die Spaltung in Wohlhabende und Arme, in sogenannte Eliten und das Volk – all das ist schließlich nichts neues. Auch der liberale Wandel, der sich im Feminismus, in der Anerkennung von Homo-Ehe oder etwa dem sprachlichen Diskriminierungsverzicht zeigt, ist nicht so radikal zwingend, dass er alleine eine so mächtige Gegenbewegung wie den reaktionären Populismus erklären könnte.


Es ist auch nicht so, dass die Menschen immer dümmer würden und deswegen Parteien unterstützen, die gegen ihre eigenen Interessen arbeiten (Eine Superelite für das Volk). Ganz im Gegenteil: Es stellt sich vielmehr heraus, dass genau diese fortschrittlichen Entwicklungen, insbesondere die zunehmende Bildung, die Menschen in die Lage versetzt, sich gegen die als repressiv erlebten oder wenigstens so wahrgenommenen Institutionen zu wenden.

Institutionen sind zum Beispiel Parteien in der Politik, die Impfpflicht als Ergebnis der Schulmedizin, die Schulpflicht oder auch die Ehe im bürgerlichen Recht. Kurz nach dem Krieg gab es in Deutschland eine große intellektuelle Debatte zwischen Adorno und der Kritik an den Institutionen auf der einen Seite und Arnold Gehlen mit seinem Ruf nach Erhaltung der Institutionen. Wer hätte damals gedacht, dass die Position des linken Adornos am Ende auf eine Schwächung der Demokratie hinausliefen? Er selbst sicher nicht, Arnold Gehlen indes schon.

Mobilisierung der Skepsis, Zerstörung des Vertrauens

Der Politologe Ronald Ingehart hat 1977 den Begriff cognitive mobilization geprägt. Diese kognitive Mobilisierung sei Teil einer großen sozialen Mobilisierung durch Urbanisierung, Bildung und das universelle Wahlrecht. Das ist alles sehr positiv und wer würde sich nicht über eine breite Mobilisierung des Denkenkönnens wünschen, die aus der sozialen Mobilisierung resultiert? Was heißt kognitive Mobilisierung nun genau?

"Die Essenz dieses Prozesses ist die Entwicklung der Fähigkeiten, die wir benötigen, um mit politischen Abstraktionen umzugehen und in Raum und Zeit entfernte politische Aktivitäten koordinieren zu können." (selbst übersetzt aus: Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics, 1977, S. 295)

Einfach ausgedrückt: Wir verstehen im Groben, wie Politik funktioniert und meinen, sie damit selbst in die Hand nehmen zu können. Wir verlassen uns also weniger darauf, dass die Institutionen schon alles richtig machen werden und werden daher selbst aktiv. Und das ist ja gut, aber es zeigt auch, wie gewaltig wir uns dabei überschätzen. Zum Beispiel wenn wir meinen, dass wir als Laien Impfungen und Krankheiten besser einschätzen können, als die Immunologen. Oder wenn wir meinen, dass Politiker einfach nur überbezahlte Schmarotzer sind, die nur in ihre eigene Tasche wirtschafteten. Oder wenn wir meinen, unsere Kinder besser selbst zu bilden, als sie der Schule zu überlassen.

Wir misstrauen also immer mehr den Institutionen, weil wir zum einen das Gefühl haben, wir könnten es besser und zum Anderen meinen, den Institutionen nicht mehr trauen zu dürfen. Anteil daran hat natürlich nicht nur die Bildung, sondern zuletzt auch die beinahe grenzenlose Verfügbarkeit von Informationen über das Internet. Auch das wäre an sich eine gute Sache, wenn nur die Validität und Qualität der verfügbaren Informationen gesichert werden könnte. Nur brauchen wir dafür Institutionen, die dann sogleich als Zensur oder Lügenpresse (Fake News) denunziert werden. Und Betreiber sozialer Netzwerke haben bisher immer wieder starke Ausreden gefunden, um bei ihnen gestreute Informationen nicht verifizieren zu müssen.  

Fake Populism oder die Kognitive Verwirrung 

Im Grunde erinnert das alles an Kant und die Aufklärung: Habe den Mut, deinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Glaub nicht alles, was man dir sagt. Nimm dein Schicksal in die eigenen Hände. Klar gibt es dabei immer gleich jene, die das Kind mit dem Bade ausschütten (siehe Impfgegner). Als Anekdote: Vor kurzem wurde mir geraten, nicht so viel zu lesen, sondern selber zu denken – gemeint war offensichtlich "ausdenken" und nicht denken. Und dann gibt es immer auch jene, die diese Emanzipation ausnutzen. Heute sind das diejenigen, die immer von Elite versus Volk faseln, um ihr eigenes reaktionäres Süppchen zu kochen. Man könnte diese politische Bewegung einen falschen Populismus oder eben Fake Populism nennen, denn sie geben vor, gegen die Eliten zu handeln und sind dabei doch selbst elitärer als die herkömmliche politische Elite. Wie nutzen diese falschen Populisten nun die kognitive Mobilisierung?

Denken wir an die immer verfügbare Information: Wer kann bei so viel Information noch unterscheiden zwischen wahr und falsch? Diese Unsicherheit kann man mit gezielten Falschinformationen ausnutzen. Kleiner Tipp: Die, die dies tun, nennen alle anderen außer die eigenen Informationen "fake news". Wenn das unbewusst passiert wie bei Donald Trump, dann nennen Psychologen dieses Bezichtigen der anderen mit dem eigenen Fehler "Projektion". Oft dürfte das allerdings strategisch und gezielt passieren wie z.B. bei der Einflussnahme Russlands auf unsere auf Informationen angewiesenen demokratischen Prozesse. Denn wenn alles nur noch "fake news" ist, dann ist die Verwirrung komplett und ein anderes Informationsziel als die Menschen zu verwirren, haben Populisten nicht.

Es reicht, die Bürger von Demokratien zu verunsichern und zu verwirren, um ihre Demokratien zu gefährden. Denn wenn wir unseren Institutionen nicht mehr vertrauen, setzt ein Vorgang der Demokratiezersetzung ein. Wir wenden uns zunehmend gegen die Institutionen und schwächen sie oder nehmen ihre Demontage hin, weil wir ihnen nicht mehr vertrauten. So können Feinde der Demokratie in die Lücke stoßen und mit einem leeren Versprechen von Freiheit und Selbstbestimmung totalitäre Regime aufbauen. Man kann das in Echtzeit beobachten, wenn in den USA die Gewaltenteilung aufgehoben wird, indem der Präsident Milizen in die Städte schickt, um Proteste zu unterdrücken oder wenn er das Justizministerium benutzt, um die neutrale Rechtssprechung abzuschaffen (ähnliches und darüber hinausgehendes sehen wir in Polen, Ungarn und der Türkei).

Wer ist nun für oder gegen Eliten?

In den Politikwissenschaften wird Populismus als Ideologie definiert, die Gesellschaft in "das gute Volk" und die "korrupte Elite" unterteilt und dabei in Anspruch nimmt, dass Politik eigentlich Wille des Volkes sei, aber durch die Elite missbraucht werde. Das allein wäre sicher diskutabel. Was dabei nur so erstaunlich ist, ist die Transparenz, mit der diese angeblichen Fürsprecher des Volkes ihre ganz eigenen extrem elitären Interessen durchsetzen. Denken wir an den Milliardär Donald J. Trump, dem es gelang so viele der armen Arbeiter oder Arbeitslosen für sich zu gewinnen, obwohl er jeden Tag ganz klar macht, dass es nur um Trump selbst und seine wirtschaftliche Einflussnahme geht.

Hier wird nun glassklar, dass das Abschaffen der Institutionen lediglich dazu dient, Kontrollmechanismen der Macht zu eliminieren, um ungehindert die eigenen Interessen durchsetzen zu können. Anschlussfähig für das Volk wird das in der Regel durch ein Ausgrenzen der angeblichen Eliten auf der einen Seite und derer, die nicht ins nationale Bild passen, meistens Immigranten oder sonst irgendwie Menschen, die deutlich anders sind auf der anderen Seite. So bündelt man den Volkszorn und richtet ihn auf die Ränder der Gesellschaft, um sein eigenes antidemokratisches Programm durchzusetzen.

Bescheiden werden, vertrauen lernen, Demokratie retten

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass wir durch die kognitive Mobilisierung vor allem von unseren eigenen Fähigkeiten überzeugt sind und nicht verstehen, dass da so viel mehr ist, das wir alles nicht verstehen. Wir überschätzen uns und schätzen wirkliche Experten oder Könner gering. Dadurch wollen wir "Leuten wie du und ich", politische Macht übertragen und geraten an die falschen: Entweder es sind eiskalte Strategen wie Putin, die uns dann jegliche Selbstbestimmung nehmen oder es sind charismatische Psychopathen, die den Karren komplett gegen die Wand fahren, weil sie sich in den ersten sechs Monaten einer Pandemie nicht einmal durchringen können, einen Mundschutz zu empfehlen.

Das Wort "Mobilisierung" ist sehr interessant, denn zum einen ist es prozessual und nicht inhaltlich, das heißt, es ist nicht einfach gut, wenn etwas mobilisiert wird, denn es kommt darauf an, was mobilisiert wird. Wenn man das Denkenkönnen mobilisiert, dann hilft das nur weiter, wenn man auch valide Inhalte oder Informationen hat, mit denen man denken kann. Außerdem klingt der Begriff für mich sehr militärisch nach Mobilmachung. Und irgendwie ist da auch etwas dran, in den USA spricht man gerade von einem kulturellen Krieg. Politisch mobil gemacht hat man hier die, die zwar die Werkzeuge, aber nicht das Material hatten – sprich: Facebook, aber ohne Verstand.

Man muss also sagen, dass es so ist wie immer: Der gute Gebrauch einer Sache hängt vom Können und Wissen auf der einen Seite und von der moralischen Integrität auf der anderen Seite ab. Wenn wir moralisch integer sind, sollten wir vielleicht einfach wieder etwas bescheidender werden und anerkennen, dass wir nicht alles besser wissen oder können und dass es gut ist, Institutionen zu haben, in denen Leute Entscheidungen treffen, die sich mit der jeweiligen Materie besser auskennen, als wir selbst. Wir müssen wieder vertrauen lernen, dann könnte auch so etwas wie direkte Demokratie funktionieren.



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