7. Dezember 2019

Die Philosophie des Marquis de Sade

Eine pornografische Aufklärung

Was kann uns die philosophische Pornographie des Marquis de Sade heute über Vernunft, Aufklärung, Moral und den Reiz der inzwischen immer verfügbaren und mitunter ziemlich sadistischen Pornographie sagen?

Foto von Jim Champion (CC BY-SA 2.0)

Im Artikel Egoistische Wollust und darüber hinaus hatte ich auf einen Aspekt der Pornographie hingewiesen, der symptomatisch für ein allgmein großes Risiko unserer aufgeklärten Moderne steht: die Objektivierbarkeit des anderen und damit der Abriss gemeinschaftlicher Werte wie die Menschenwürde, Mitgefühl und Gleichbehandlung. Das Problem entsteht nicht durch die mediale Darstellung von solchen Szenen, in denen andere Menschen objektiviert werden (z.B. eine Frau oder ein Mann in einer SM-Szene), denn das haben wir in Theatern, Filmen und anderen Inszenierungen auch. Das Problem entseht, wenn Konsumenten auf breiter gesellschaftlicher Ebene das Verständnis dafür verlieren, dass es sich um eine Inszenierung handelt und sie das Dargestellte stattdessen für ein Ab- oder Zielbild der Normalität halten.

"In einer Welt, in der Empathie mit den anderen auf dem Rückzug ist und das eigene Bedürfnis ganz klar im Vordergrund steht, hilft es nicht, ein Bild von rund 50% der Menschheit als 'objektivierbar' zu zeichnen." (Egoistische Wollust und darüber hinaus)

Aber was genau steckt hinter dieser Objektivierung des Anderen im Sex? Wir können hier vom Marquis de Sade lernen, der die sexuelle Objektivierung im 18. Jahrhundert in seiner pornografischen Philosophie beispielhaft und im Extrem dargestellt hat. Hartmut Böhme schreibt dazu in Umgekehrte Vernunft. Dezentrierung des Subjekts bei Marquis de Sade den schönen Satz:

"In einer entfremdeten Welt, damals wie heute, pflegen wir die Einzigkeit und Besonderheit unserer Sexualität als letzten Halt persönlicher Identität, die von unseren Rollen ausgezehrt zu werden droht." (Böhme, 1988)

Mit anderen Worten: Ständig geht es darum, dass wir im System zwischen Familie, Arbeit und Gesellschaft ohne große Rücksicht auf unsere eigenen Bedürfnisse funktionieren, weshalb wir versuchen, am allerletzten privaten Winkel unserer Intimität festzuhalten, ja diesen vielleicht ein bisschen übertrieben gegen die Wucherungen im Alltag unterirdisch auszubauen. Das wäre vielleicht eine psychologische Reaktion auf die Zumutung, ein moderner Mensch sein zu müssen. Ähnliche Reaktionen wäre die Flucht in Parallelwelten von Drogen, Spielen oder andere keinen offenbaren Zwecken dienliche Praktiken.

Dieser von Entfremdung geprägten Erfahrung unseres Seins liegt eine Kluft zwischen Freiheit und Individualisierung auf der einen und Sinnhaftigkeit auf der anderen Seite zugrunde. Sinnhaftigkeit wird innerhalb von Gemeinschaften, Strukturen und Institutionen erlebt, die durch tradierte und unumstößliche Werte oder Dogmen und den dazu passenden Erzählungen und Praktiken geprägt sind – denken wir im größeren Zusammenhang an die Religionen oder im kleineren Zusammenhang an die Familie. Die moderne Tendenz des Westens ist klar: Weg von der sinnstiftenden Gemeinschaft, hin zu einer Individualisierung, die vor allem darin besteht, dass wir uns von Traditionen und ihren Dogmen und Praktiken frei machen. Dabei hilft ein naturwissenschaftlicher Zeitgeist, der die Welt entmystifiziert und so ziemlich alles berechenbar zu machen scheint. Das Individuum braucht weniger religiösen und familiären Zusammenhalt, wenn es die Welt selbst zu verstehen meint und sich nicht vor geheimnisvollen Kräften durch eine starke Gemeinschaft schützen muss.

Das fürchtete auch schon Immanuel Kant, der sein philosophisches Leben nicht zuletzt der Frage widmete, wie man die Menschheit vor dem "Terror einer von Trieben oder partikularen Sozialinteressen gegängelten Vernunft" (Böhme) schützen kann, wie also gemeinsame Werte und Gemeinschaftsinteressen den Verfall der Religionen und den Aufstieg der individuellen und von Dogmen freien Vernunft überleben können. Das Ergebnis ist der Humanismus, der als Erzählung die Religionen weitestgehend abgelöst hat. Der Marquis de Sade schlägt zu ungefähr selber Zeit den entgegengesetzten Weg ein und zeigt, was passiert, wenn man die Vernunft auf die Spitze treibt und die Entfremdung umarmt, indem man den egozentrischen Trieben freien Lauf lässt. Ich glaube, dass wir damit auch die Wurzeln der Faszination, die Pornografie ganz offenbar auf ganz viele Menschen auszuüben scheint, besser verstehen können.

Phantasie als Befreiung von körperlichen Grenzen

Ein wichtiger Punkt bei Sade ist die radikale Befreiung des Denkens durch die Phantasie. Böhme zeigt, wie es in Sades Pornographie gar nicht um den Körper geht, der im Sexualakt auch viel zu schnell erschöpft ist: Es geht um grenzenlose Phantasie und das ist auch etwas, dass wir in der modernen Pornographie wiederfinden: Die Unerschöpflichkeit der Leiber, die nicht enden müssende Wiederholbarkeit und auch die qualitativen Extreme dessen, was dort dargestellt wird, all das ist nur in der Phantasie oder in der pornografischen Inszenierung erlebbar. Nun ist aber der Gegenstand dieses Denkens, dieser Phantasie eben sehr körperlich, denn es geht ja um Sex. Böhme deutet hier eine zurückgenommene Entfremdung in dem Sinne an, dass Körper und Geist hier gegen die monotheistische Tradition der Philosophie wieder zusammen finden. Auch das könnte neben der sexuellen Verschmelzung von Körper und Geist ein Motor für Pornographie sein: In dieser Phantasie geht es nur um den Körper, wir sind von allem anderen entlastet.

Allmacht und Freiheit von Moral

Damit einher geht auch eine gewisse Allmachtsphantasie, sei es in der Verfügbarkeit über die anderen (die Sexualobjekte) oder in der Subversion der gesellschaftlichen Konventionen, die radikal gedacht ohnehin all ihre Legitimität verloren haben. Denn wo soll denn die Moral herkommen, wenn es keinen Gott gibt, der diese Moral verfügt? So könnte diese ins Extrem gedachte Vernunft sagen: Du bist frei zu tun, was immer du begehrst, es gibt nichts und niemanden, der dir sagen kann, was richtig ist und was falsch. Auch diese Almmachtsphantasien und das Freimachen von beengend erlebter Moral spielen beim Pornokonsum sicherlich eine Rolle.

Antifamilie und Inzest

Die Zerstörung der Familie ist im allerersten Schritt eine Befreiung von ihren Zwängen und Zumutungen, von den Vorschriften und Zudringlichkeiten. Dass diese Zerstörung ein klarer Trend der Moderne seit der Aufklärung ist, kann nicht bestritten werden. Großfamilien verschwinden, homosexuelle Tabus fallen, jeder darf, was er oder sie will. Lediglich das Inszesttabu bleibt stark. Und auch hier sehen wir eine ganz aufgeladene Phantasie sowohl bei Sade, bei dem "Inszest kein Begehren, sondern ein Gebot" ist (Böhme), als auch in heutiger Pornographie: Anspielungen auf Inszest finden sich in den Titeln moderner pornografischer Filme in auffälliger Häufigkeit, vor allem in Kombinantionen aus Stiefgeschwistern oder Stiefeltern. Die Vorsilbe "Stief-" ist ein Hinweis darauf, dass man das gesellschaftliche Tabu brechen will, ohne so ganz die biologische Tiefe des Inzests auszureizen; da war Sade eindeutig mutiger. Die Befreiung von den Zwängen der Familie ist und bleibt also ganz offenbar ein starkes Verlangen des Individuums. Gleichzeitig ist das Ende der Familie ein großes Problem und ein Großes Glück moderner Gesellschaften.

Die Rückkehr in die eingeschlechtliche, die phallische Welt

Auch in Hinsicht auf die Unterwerfung der Natur, die radikal erst mit der Aufklärung greift, weil die im warsten Sinne des Wortes "radikal" der Natur an die Wurzel geht, geht Marquis de Sade ins Extrem: An einer Stelle in der "Philosophie im Boudoir" wird die Vagina der Mutter von Eugenie zugenäht.

Das Weibliche [...] soll darin verschlossen, vernichtet, aus der Welt geschaffen werden. Der gelöschte Vulkan – die verschlossene Vagina: dies wäre der Traum einer Welt, in der es nur den Phallus gibt – die kosmische Leere der fruchtbaren Mutternatur wäre geschlossen [...] Der wütende Exzeß übertönt den Schmerz 'in dieses traurige Universum geworfen zu sein', geboren zu sein von diesem Organ, das seine Schuld damit büßt, zugenäht und damit zu Nichts zu werden." (Böhme)

In das "Universum geworfen zu sein" ist übrigens ein weiterer Topos der Enfremdung oder, christlich formuliert, der Sünde des Menschen, die wir den monotheistischen Religionen zu verdanken haben und der sich bis heute wie ein ein roter Leitfaden durch die Philosophie, Kunst und jegliches anspruchsvolle Phantasieprodukt zieht.

Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass die Beherrschung der Sexobiekte im Pornokonsum darauf zielt, sich die Frauen stellvertretend für die Natur untertan zu machen, aber dass es um Unterwerfung geht und dass dabei auch tradierte Ressentiments gegenüber Frauen und ihrer angedichteten Nähe zur Natur eine Rolle spielen, scheint mir offensichtlich zu sein. Auch die Entkopplung eines eigentlich fleischlichen Aktes von seinem natürlichen Vorgang hin zu einem in Bits und Bytes und Downloads zählbaren technischen Vorgangs, spricht hier Bände von der Überführung von zweigeschlechtlicher Natur in un- oder eingeschlechtliche Zahlen (die Kehrseite der weiblich gedachten Natur ist die männlich gedachte Kultur, zu der besonders die Wissenschaften und Zahlen gezählt werden müssen). Eine ähnliche Abkehr vom Geschlechtlichen war schon in den durchgezählten und geplanten Orgien Sades zu beobachten.

Wut und Stolz der Einsamkeit

Im Zusammenhang mit der Entfremdungserfahrung, in ein gleichgültiges Universum geworfen zu sein, steht auch die Erfahrung der Entfremdung von unserem Nächsten – die unüberbrückbare Kluft zwischen dem, was ein Mensch neben mir fühlt und denkt und meinen eigenen Gefühlen und Gedanken. Es gibt in der wissenschaftlichen Aufklärung ohne Religionen, die Liebe oder Esoterik keine Brücke über diese Kluft.

"Weil es in der Sadeschen Welt nicht die geringste Aussicht über das monadisch verkapselte solus ipse hinaus gibt, gehört es zum souveränen Menschen, die unüberschreitbare Einsamkeit zur Grundlage des heroischen Stolzes zu machen..." (Böhme)

Böhme stellt hier heraus, dass die sadistischen Handlungen nur deswegen möglich sind, weil ihre Akteure kein Mitleid empfinden, denn sie sind radikal von den Gefühlen ihrer Opfer abgekoppelt. Nun ist das ein Glück nichts, das in seiner Radikalität so überall im Alltag zu Tage tritt. Aber natürlich gibt es tatsächlich Folter und es gibt Formen der Pornografie, die man auch nur dann "attraktiv" finden kann, wenn man in dieser Inszenierung kein Mitleid mit den Menschen hat, die in solchen Szenen erniedrigt dargestellt werden.

"Freud leitet die Bevorzugung erniedrigter Objekte in der männlichen Sexualität daraus ab, daß der Mann die Assoziation von Begehren und idealisierter Mutter vermeiden muß. Ungleich härter insistiert Sade darauf, daß es die Struktur des Triebes selbst ist, die die Erniedrigung des Objekts verlangt [...] Und diesen 'Despotismus der Leidenschaft' begründet Sade aus der Einsamkeit des Menschen, die ihn essentiell zum einzigen Mittelpunkt seines jeweiligen Universums macht – aber auch verurteilt. Die radikale Egozentrizität des Triebes reflektiert die kosmische Kälte zwischen den Menschen..." (Böhme)

Wenn schon entfremdet und einsam, dann aber richtig! So könnte man diese Wut und diesen Stolz zusammenfassen, die sich in sadistischen Formen der Pornographie auszudrücken scheinen. Sade interessiert die von Freud erst 100 Jahre später beschriebene frühkindliche Prägung auf die Mutter überhaupt nicht, statt dessen treibt ihn ein größeres philosophisches Problem um: die Isolation des einzelnen Menschen und die daraus resultierenden Fragen von Moral und Ethik. Und ähnlich wie Friedrich Nietzsche ist Sade höchst skeptisch gegenüber jeder Moral, die eben doch nur die Schwachen schützen soll. Tugend ist nichts, was dem Menschen innewohnt, sondern etwas, das die Gesellschaft ihm abverlangt, damit er mit anderen zusammen leben kann. Diese Auffassung von Tugend als ein Opfer kehrt die frühen humanistischen Hoffnungen der Aufklärung ins Gegenteil.

Die Phantasie des Marquis de Sades befreit sich gewalttätig von diesem Opfer und so macht es noch die heutige Pornographie, die in ihren extremeren Ausprägungen unübersehbare Parallelen zu Sades Folterkammern hat – in Wort und Bild, aber offenbar auch in ihren ihr zugrunde liegenden Bedürfnissen, Ideen und Strukturen.



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