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24. November 2018

Die Zeit soll fließen, nicht drängen

Ein Text von Thomas Marti

Eine Ethik des Gleichmutes ist die Grundlage, um Synchronisationskrisen zu entschärfen oder zu verhindern und die Spannung zwischen Lebenszeit, Echtzeit und einem sich zersetzendem kollektiven Zeitrhythmus zu lösen.

Sind wir nicht alle wie Migranten auf der Flucht?

Was könnte der Mensch jenseits der Geburt, des Konsums, der Effizienz und des Selbstverkäufertums sein? Was könnte er sein, jenseits der Maxime, dass Leistung und Performanz ihm einen Platz auf dieser Welt zuweisen? Und was könnte das Wirtschaften jenseits von Indentitätsmarketing sein? Ich stelle mir diese Fragen als unsichtbare und verstellbare Wände von Räumen vor, in denen Denken Weiterdenken bedeutet. Weiterdenken in diesem Sinne könnte bedeuten, dass wir Brücken zwischen dem Unverfügbaren und dem Unvorhersehbaren bauen. Erst dann sind wir unterwegs!

Wohlfühlen, wo wir nicht hingehören 

Erst wenn wir uns auch da niederlassen und wohlfühlen können, wo wir nicht hingehören, wenn wir uns gelöst haben von Flucht und Migration, können wir Passanten in dieser einen und endlichen Welt sein. Erst in den Räumen der eingangs genannten Fragen wird ein Änderungsprozess zu einem echten Unterwegsein. Das könnte bedeuten, sich von den Sitzplätzen einer "Guided-Tour" zu erheben und sich von so immunisierten Fragen zu lösen wie "Was brauche ich, um mich entwickeln zu können?" "Wozu brauche ich das?" "Wie bediene ich das?" "Mit wem vernetzte ich mich?"

Ein gutes und gedeihendes Leben zu führen, könnte bedeuten, ein Leben im Sinne einer "Ethik des Gleichmutes" zu führen. Dieses Leben wäre geprägt von der Würde als Muster des Handelns und Tuns. Eine solche Ethik widerspricht dem Gedanken der Migration und setzt ihr Resonanz als Beziehungsmodus entgegen.

Selbst- und Identitätsverkäufer

Nicht Flucht kann die Antwort darauf sein, dass uns im wahrsten Sinne des Wortes "der Boden unter den Füßen wegsackt", wie es Bruno Latour in seinem terrestrischen Manifest beschreibt. Auch der Markt mit seinen Selbst- und Identitätsverkäufern taugt als alleinige Grundlage nicht zur Lösung der Probleme im Jetzt. Die Menschen brauchen festen und begehbaren Boden unter den Füßen. Haben sie den nicht, können sie nicht unterwegs sein und dann werden sie zu Migranten und Flüchtigen. Unterwegsein zeichnet sich dadurch aus, dass die Zeit fließt und nicht drängt.

Zeitbildung gestalten und nicht dem Zeitdrängen zu unterliegen

Auf der Flucht sein ist nicht anderes, als der Raum, in dem man versucht vor etwas wegzurennen und gleichzeitig auf etwas zurennt, das man nur schwerlich erreichen kann. Das Drängen der Zeit unserer Zeit könnte man mit Günter Anders auch als "Dasein im Modus des Nichthabens" beschreiben. Wir sind demnach bedürftige Wesen, weil wir dasjenige, das wir wirklich bräuchten, nicht haben und weil wir "genötigt sind, das Nötige uns zu beschaffen" (Günter Anders). Solcherart die Zeitbildung zu gestalten, führt unweigerlich dazu, dass wir das Gefühl haben: Irgendetwas stimmt nicht! Und es führt zu "turbulenten Zeiten, in denen das, was man hat, oft kaum dem entspricht, was man ist, und das, was man gewinnt, nur in einem entfernten Zusammenhang mit dem steht, was man verliert", wie Achille Mbembe in Politik der Feindschaft diagnostiziert.

Sauve qui peut. Rette sich wer kann!

Viele Menschen haben das Gefühl, dass sich ihre Lage trotz maximaler Effizienz und Produktivität nicht ändert, während diejenigen auf der Sonnenseite sich alles leisten können. Angereichert mit der Haltung, dass jeder seinen Erfolg in den eigenen Händen hält, entsteht so etwas, das Lisa Herzog das "Rette-sich-wer-kann-Gefühl" nennt. Wer momentan erfolgreich ist, hat dies auch verdient, die anderen sind selber schuld. Was man gefühlt verdient, teilt man nicht gerne und was einem vorenthalten wird, holt man sich irgendwie. Und wenn ich es nicht tue, dann tut’s ein anderer!

Vermehrung der Gesichtspunkte

Unterwegs sein bedeutet hingegen, dass die Zeit fliesst; genau jetzt bildet sich neue Zeit und genau in diesem Jetzt können wir unseren freien Willen gebrauchen. Es ist aber nicht jene Zeit, die in der Flucht vor dem Status quo entsteht, nicht jene Zeit einer einzigen Sichtweise, die uns dazu führt unseren freien Willen einzusetzen. Das, was ich meine, ist jene Zeit der Zeitlosigkeit, die dem Gleichmut oder den Momenten von Resonanzerfahrungen entspringt, in denen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart eins werden. Ich meine jene Zeit, die unter Globalisierung versteht,

"dass man die Gesichtspunkte vermehrt, dass man eine größere Mannigfaltigkeit erfasst, eine größere Zahl von Wesen, Kulturen, Phänomenen, Organismen und Menschen in Betracht zieht." (Latour, S.19.)

Wenn wir zum Unterwegssein festen Boden unter den Füssen brauchen, so brauchen wir auch um weiterzudenken eine Zeit des festen Bodens unter unseren Gedanken. Die Denkfiguren der Würde und der Resonanz könnten einen solchen Untergrund darstellen, auf dem ein gedankliches Unterwegsein im Sinne des Gleichmutes möglich ist; denn Menschen brauchen zum Unterwegsein einerseits eine gewisse gedankliche Stabilität und Festigkeit und andererseits eine Offenheit für das Unvorhersehbare und das Unverfügbare, um mutig voran zu schreiten.

Die Ethik des Gleichmutes macht Menschen zu Passanten und verhindert, dass wir Drifter werden, deren Lebenspraxis sich durch "eine Erfahrung, die in der Zeit, von Ort zu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit driftet" auszeichnet, wie Richard Sennet das beschreibt. Passanten sollten von Gleichmut geleitet werden, denn nur "demjenigen, der sich in der Gegenwart des ihm Nötigen befindet […], schlägt keine Stunde", um noch einmal Günther Anders zu zitieren.




Thomas Marti hat Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaft in Zürich studiert. Er lebt und arbeitet in Davos. Sein Projekt Zeitbildung bietet zeitsoziologische und -philosophische Betrachtungen der Moderne und setzt sich insbesondere mit der Frage „Wie viel immer und überall hat im Hier und Jetzt platz“ auseinander. Unter www.zeitbildung.ch kann man dazu mehr erfahren und Thomas Marti kontaktieren.
Quellen:

3 Kommentare:

  1. Mit Verlaub, das erscheint mir als ein praxisfernes philosophisches Theoriegeschwurbel!
    "Erst wenn wir uns auch da niederlassen und wohlfühlen können, wo wir nicht hingehören, wenn wir uns gelöst haben von Flucht und Migration, können wir Passanten in dieser einen und endlichen Welt sein."

    Wer ist denn dieses "wir"? Den in Lybien gestrandeten kann man sicher nicht damit kommen, dass sie sich dort wohlfühlen sollten, wo sie nicht hingehören!

    "Viele Menschen haben das Gefühl, dass sich ihre Lage trotz maximaler Effizienz und Produktivität nicht ändert, während diejenigen auf der Sonnenseite sich alles leisten können."

    Das ist kein "Gefühl", das ist Fakt! Und dass sich eine Denkweise etabliert hat, "dass jeder seinen Erfolg in den eigenen Händen hält" ist eine katastrophale Fehlentwicklung, die kein bisschen zu den Tatsachen passt: kaum jemand der "Superreichen" hat seine Privilegien selbst erarbeitet! Und auch darunter partizipieren die meisten vom Erbe, vom immer schon privilegierten Status ihrer Herkunftsfamilien - grade für Deutschland wird diese ja immmer wieder festgestellt!

    Die "Die Denkfiguren der Würde und der Resonanz" helfen dagegen recht wenig - und "Gleichmut" führt nicht zwangsläufig in die "Gegenwart des Nötigen" - jedenfalls nicht für das untere Drittel der Armen und Prekären!

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  2. Besten Dank für Ihren Kommentar. Ich bin der Überzeugung, dass wir ein gutes und gedeihendes Leben, sei es im Lokalen, sei es im Globalen, nicht durch eine Radikalisierung des Unterschiedes herbeiführen können. Nur die Integration dieser Differenz kann aus meiner Sicht Früchte tragen. In modernen Zeiten ohne ethischen Horizont ist individuelle Orientierung leicht zu kriegen, was fehlt, ist eine gemeinsame Orientierung. Die Konzepte der Würde und der Resonanz sind ein Vorschlag zu einer gemeinsamen Orientierung. Unsere Orientierungspunkte müssen neu verankert werden und Würde und Resonanz sind, meiner Meinung nach, in diesem Zusammenhang neue Marker im Sinne von Bruno Latour: „Jedenfalls ermächtigt uns nichts mehr zur Wiederverwendung einstiger Marker wie »Rechte« und »Linke«, »Befreiung«, »Emanzipation«, »Kräfte des Markts«. Nicht einmal mehr jener von Raum und Zeit, die lange so selbstverständlich schienen wie »Zukunft« oder »Vergangenheit«, »lokal« oder »global«.“

    Gerade das von Guy Standing postulierte (auch hier in Davos am WEF) Prekariat zeigt doch deutlich, welche gesellschaftliche Gefahren in einer Situation lauern, die generell die Möglichkeit in sich birgt, dass den Menschen die Würde abhanden kommt.

    Das Konzept der Würde als Muster unseres Handelns, Tuns und Denken ist vielleicht genau diese neue Praxis, die schlussendlich aber auch auf einer Ökonomie des 21. Jahrhunderts, wie sie Kate Raworth vertritt, aufbaut. Gerade die erwähnten Fehlentwicklungen bauen nicht zuletzt auf Fehleinschätzungen des Kapitalismus auf. Erwähnter Guy Standing und da wären wir auch wieder beim Thema Zeit, hat sich in Davos zu den Mythen des Kapitalismus geäussert. Einsichten, die genug Potenzial haben, im globalen strukturbedingten Beschleunigungsprozess kurz innezuhalten:


    1. Kapitalismus basiert auf freien Märkten.
    2. Der Kapitalismus braucht starke Rechte an geistigem Eigentum, um teure Forschung und Entwicklung abzusichern.
    3. Starke Eigentumsrechte schaffen Wachstum.
    4. Gewinne sind abängig von gutem Management und Risikobereitschaft.
    5. Arbeit ist der beste Weg aus der Armut.


    Daher ist mir die Haltung des Passanten wichtig, eine Haltung, die es erlaubt, Grenzen zu überqueren und Brücken über Leerräume zu bauen, damit wir uns auch da niederlassen (gedanklich und geografisch) können, wir nicht hingehören. Oder eben gemeinsam unterwegs zu sein. Sind sie dabei?

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  3. Das weiß ich nicht, denn WOBEI GENAU? Auch Ihr Kommentar (herzlichen Dank dafür!) bleibt da sehr abstrakt!

    Vermutlich hätte niemand gegen "Würde und Resonanz" Einwände. Aber was bedeuten sie denn in konkreten gesellschaftlichen Widersprüchen und Auseinandersetzungen?

    Derzeit legen die "Gelbwesten" jeden Samstag ein Stück Frankreich in Schutt und Asche - und ganz sicher verstehen sie ihre Aktionen als RESONANZ und als Kampf um die Würde der Armen und Marginalisierten. Auch die Reaktion des Präsidenten, der gestern geredet und viel versprochen hat, ist eine Resonanz - mit Würde vorgetragen.

    Es gäbe noch unzählige derartige Beispiele, die zeigen, dass "Würde und Resonanz" ganz untauglich sind, um Begriffe wie »Rechte« und »Linke«, »Befreiung«, »Emanzipation«, »Kräfte des Markts« - oder gar so grundlegendes wie "Zukunft", "Vergangenheit", lokal und global. Jeder dieser Begriffe ist natürlich im Bezug auf ein konkretes Geschehen mal mehr, mal weniger passend - aber das bedeutet doch nicht, dass sie ERSETZBAR wären durch "Würde und Resonanz".

    "Das Konzept der Würde als Muster unseres Handelns, Tuns und Denken ist vielleicht genau diese neue Praxis, die schlussendlich aber auch auf einer Ökonomie des 21. Jahrhunderts, wie sie Kate Raworth vertritt, aufbaut."

    Kommentargespräche sind wenig ergiebig, wenn sie sich darin erschöpfen, dem Gegenüber aufzuzeigen, es möge sich erstmal belesen (Latour, Rawort, Guy Standing). Würde ich das alles nachlesen, müsste ich mich erst einmal ein paar Tage von meiner Erwerbsarbeit verabschieden!

    Die erwähnten "Mythen des Kapitalismus" kann man natürlich im Detail auseinander nehmen, kritisieren, Gegenteiliges behaupten und belegen. Das haben auch immer wieder viele getan und tun es noch. Aber was hat es gebracht?

    Und daran, dass es wenig gebracht hat, ändert eine "Haltung des Passanten" genauso wenig wie das Beharren auf "Würde und Resonanz".

    Und: sich gedanklich und geografisch niederlassen, wo man nicht hingehört, ist heute Standard bei den meisten, die Karriere machen wollen! Das ist die Flexibilität in Kopf und Körper, die der globalisierte Kapitalismus heute erfordert, will man zu jenen gehören, die mehr als ein paar Krümel vom großen Kuchen abhaben wollen.


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