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5. Juli 2018

Wie es kam, dass wir die Erde beherrschten

Ein Mängelwesen wird durch Fiktionen zu Gott

Wer Geist und Gegenwart kennt, weiß, wie sehr es mir die Philosophische Anthropologie angetan hat, also die Frage: Was ist der Mensch? Bei aller Skepzis am Humanismus, also der religiösen Verherrlichung des Menschen und seiner unteilbaren Würde, ist es doch zulässig und eigentlich auch unumgänglich festzustellen, dass dem Menschen eine Sonderstellung im uns bekannten Kosmos zukommt. Katzen sind niedlicher und weicher, Hunde irgendwie knuffiger und liebenswürdiger, Gazellen sind schneller und Fische können besser unter Wasser atmen und schwimmen. Menschen jedoch beherrschen ganz buchstäblich die Welt mit allen Vor- und Nachteilen, die das für alle bringt.

Auf dieser Platte finden wir das Geheimnis unserer göttlichen Macht (Quelle: NASA, gemeinfrei)

Von den Vorteilen, ein Mensch zu sein

Vielleicht muss man zu den Vorteilen noch etwas sagen, denn die Nachteile für alle, die keine Menschen sind und auch für viele Menschen, liegen ja auf der Hand. Ein riesiger Vorteil für den Menschen selbst ist, dass es ihm gelungen ist, wie der Comedian Louis CK festgestellt hat, sich selbst aus der Nahrungskette herauszunehmen. Das sei ein "massive upgrade", so CK. Für die meisten Tiere ende das Leben damit, gefressen zu werden, nur Menschen stürben regelmäßig alt im Bett und könnten sich weinerlich von ihren Liebsten verabschieden. Da hat er schon Recht, ich würde es auch hassen, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit immer aufpassen müsste, dass ich nicht von Raubtieren angefallen und aufgefressen werde. Und auch, anderen aufzulauern, um ihnen die Kehle durchzubeißen, würde mir nicht immer gefallen.

Ein anderer Vorteil ist, dass wir überall hingehen können, andere große Säugetiere wie Eisbären, Delfine oder Elefanten können das nicht, denn sie sind zu sehr an ihre Nischen angepasst und würden außerhalb ihrer Nischen keine Nahrung finden und an Hitzeschock oder Erfrieren sterben. Noch ein Vorteil, der mir immer wieder in den Sinn kommt, ist die enorme Reichhaltigkeit des inneren Erlebens, das wir ständig durch neue Stimuli wie Sport, Besitz, Lektüre oder Drogenkonsum, um nur ganz wenige Beispiele zu nennen, anreichern können. Kein anderes Lebewesen ist so frei in der individuellen Ausprägung seines bewussten Erlebens.

Altes Gehirn mit neuem Feature

Wir sind also Götter, nicht nur in der Beherrschung der anderen Lebewesen, der uneingeschränkten Verbreitung vom Polarkreis bis in die Tropen und des beinahe endlosen Amüsierpotenzials, das nur noch bei den griechischen Göttern seines Gleichen findet. Inzwischen machen wir uns auch noch auf in Richtung Unsterblichkeit und zur irgendwann notgerdungenen Besiedelung anderer Planeten. Wie kommt gerade der Mensch dazu, dem es doch sowohl an großer Kraft als auch an Schnelligkeit und besonders leistungsfähigen Sinnesorganen mangelt? Anthropologen sagen, dass es eben gerade diese Nichtangepasstheit ist, die uns so viel Freiheit ermöglicht und uns so viel Kompensation über das Geistige abverlangt.

Im Buch Homo Deus konkretisiert Yuval Noah Harari auf interessante Weise diese geistige Kompensationsleistung. Er meint, dass eben nicht das Gehirn und seine Reflexionskraft, seine Offenheit oder sein Erfindungspotenzial uns zu Herrschern über den Planeten machte. Denn das Anthropozän, die absolute Überformung der Welt durch den Menschen, ist nicht besonders alt, sondern gemessen an der gesamten Dauer der Menschheit bisher ein sehr junges Phänomen. Unsere Gehirne haben sich in den letzten paar Tausend Jahren nicht besonders verändert. Was also gab den Ausschlag, dass wir mit diesen alten Gehirnen plötzlich die ganze Welt behherrschen?

"Menschen beherrschen die Welt, weil nur sie ein intersubjektives Netz der Bedeutungen weben können: Ein Netz der Gesetze, Kräfte, Dinge und der Orte, die lediglich in ihren gemeinschaftlichen Vorstellungen existieren." (eigene Übersetzung aus dem englischen Original, Homo Deus, S. 175)

Andere Tiere mögen sich auch Dinge vorstellen, die im Moment nicht da sind, Beutetiere zum Beispiel, Rivalen oder Sexualpartner. Und viele Tiere können über diese Dinge auch in Gruppen kommunizieren. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass irgend ein anderes Tier als der Mensch sich Dinge vorstellen kann, die es nicht gibt, die sie nie wahrgenommen haben, die reine Phantasiegebilde sind. Anders formuliert, können Menschen in gemeinsamen Fiktionen leben, andere Tiere jedoch ausschließlich in Realien. Gute Beispiele für unsere gemeinsamen Fiktionen, sind Gesetze, Religionen, Menschrechte, juristische Personen (z.B. Firmen), Staaten und Nationen, Geld, Liebe und alles andere, das keine konkrete Entsprechung in der Welt hat.

Das entscheidende Merkmal solcher Fiktionen ist, dass sie lediglich durch unsere gemeinsame Überzeugung existieren, also nicht unabhängig von uns und unserem Glauben Bestand haben können. Man kann das gut am Beispiel der Religion oder des Geldes zeigen: Weder dem einen noch dem anderen käme irgendeine Wirklichkeit zu, wenn es niemanden gäbe, der an diese Fiktionen glauben würde. Wenn wir nicht an Steine glaubten, dann gäbe es sie dennoch. Wenn wir jedoch nicht an die Dogmen einer Religion glauben, dann gibt es diese Religion einfach nicht. Und wenn wir einen Koffer mit Millionen von Reichsmark fänden, dann gibt es zwar die Münzen und das Papier, aber wir wären trotzdem keine Millionäre, weil niemand mehr an diese Währung glaubt.

Wie unsere Fiktionen die Realität schlucken

Das Atemberaubende an diesen Fiktionen ist, dass sie inzwischen eine totale Kontrolle über die Realien erlangt haben: Nationen als Beispiel solcher Fiktionen bestimmen absolut wirkmächtig das Leben ihrer eigenen realen Menschen, sie bestimmen, welche anderen Fiktionen diese Menschen ausbilden. Und die wiederum bestimmen, wie diese Menschen miteinander umgehen, wie sie sprechen, wo sie hinreisen können, wie wohlhabend und gesund sie im Schnitt sind, ob sie in Frieden oder Terror leben und so weiter. Auch die Fiktion Geld hat einen enormen Einfluss darauf, wie gut reale Personen leben können. Inzwischen sind die Fiktionen so totalitär geworden, dass die gesamte Weiterexistenz dieser Erde und ihrer Bewohner von den Einstellungen, Meinungen, Überzeugungen, Wünschen, Interessen und Bedürfnissen abhängt, die aus all diesen Fiktionen resultieren.

"Nord Korea und Süd Korea sind von einander so verschieden, nicht etwa weil die Menschen in Pjöngjang andere Gene als die Menschen in Seoul hätten oder weil der Norden kälter und bergiger sei. Sie sind so verschieden, weil sie von ganz unterschiedlichen Fiktionen dominiert werden." (Ebd. S. 177)

Fiktionen haben die menschlichen und nicht-menschlichen Realitäten also weitestgehend geschluckt und werden zur stärksten Macht über uns und unsere Zukunft. Die Dinge werden auf den Kopf gestellt: Wenn vor gar nicht langer Zeit noch die klimatischen und geographischen Bedingungen den größten Einfluss auf das Leben und die Fiktionen der Menschen hatten, so haben inzwischen das Leben und die Fiktionen der Menschen den größten Einfluss auf das Klima und die Geographie. Das nennt man dann das Anthropozän.

Die zweischneidige Singulärität unserer Fiktionen

Harari meint also, dass die Kommunikation dieser intersubjektiven Fiktionen es uns ermöglicht, uns in unüberschaubaren und sehr mächtigen Dimensionen zu organisieren, die weit über die ansonsten zur Kooperation nötige persönliche Bekanntschaft hinaus gehen. Es sind nicht mehr nur kleine Horden, die über ihre Nachbarhorden herfallen, es sind ganze Staaten, Nationen, Kulturen die sich zusammenschließen oder übereinander herfallen, einfach deshalb, weil sie an gemeinsame Fiktionen glauben. Diese Erklärung ist zum einen sehr intuitiv und zum anderen hat sie den Vorteil, dass man mit ihr nicht nur geschichtliche Phänomene, sondern auch die momentane Beschleunigung durch die zunehmende Globalisierung erklären kann.

Man könnte die Globalisierung auch als Singularität der menschlichen Fiktionen beschreiben. Sie hat die Herrschaft des Menschen über die Welt bis ins Extrem gesteigert und gleichzeitig hat sie die kleineren fiktionalen Einheiten wirtschaftlich so voneinander abhängig gemacht, dass man auf gegenseitige Kooperation angewiesen war und alle störenden Einflüsse wie z.B. Kriege zu vermeiden suchte.

Gleichzeitig sehen wir gerade einen gegenläufigen Trend: Staaten- und Wirtschaftsbünde bröckeln und ihre Einheiten werden wieder nationalistischer. Das wird die Welt nicht mehr vor der totalitären Herrschaft des Menschen retten, aber es birgt die zusätzliche Gefahr, dass wir wieder wie Horden übereinander herfallen, wenn wir es nicht mehr für nötig halten, miteinander auf der Makroebene zu kooperieren. Der drohende wirtschaftliche Abschwung ist dabei also die kleinere Gefahr.

Mit dieser Wirkmächtigkeit der Fiktion deutet sich auch an, dass unser ein paar Jahrhunderte andauerndes Beharren auf Vernunft und Fakten nicht notwendigerweise den Trend eines geistigen Fortschritts beschreiben muss. Es ist keineswegs so, dass wir immer vernünftiger und sachlicher werden. Vielmehr werden wir den Fiktionen der Zeit folgen, die uns irgendwie erfolgsversprechend scheinen. Mich wundert es jetzt auch weniger, wie "realitätsresistent" vernünftige Menschen sein können. Wahrheiten scheinen wieder weniger wichtig zu sein, offensichtliche Lügen werden gern toleriert, wenn sie der passenden Fiktion dienen und Verschwörungstheorien (siehe Trumps Faszination mit dem sogenannten Deep State) dienen inzwischen dazu, die Politik der immer noch mächtigsten Nation der Welt zu bestimmen.

Fiktionen haben uns also – bildlich gesprochen – von den Bäumen herunter und ins Weltall katapultiert. Wir haben uns die Welt nur durch sie komplett untertan gemacht und jetzt fallen wir diesem Erfolg zum Opfer. Hier sehen wir die untergründige Struktur unserer Existenz als Entfremdungszusammenhang. Die Fiktionen werden mit uns verschwinden. Bleiben wird eine Gesteinsschicht aus dem Abfall des Anthropozäns und vielleicht die Flaschenpost, die wir einmal als Golden Record der Voyager mitgegeben haben, damit unsere Fiktionen auf ewig (bzw. 500 Millionen Jahren lang) auch nach unserem Aussterben noch durchs All irren mögen.



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1 Kommentar:

  1. "Kein anderes Lebewesen ist so frei in der individuellen Ausprägung seines bewussten Erlebens. Wir sind also Götter ..."

    Du hast doch irgendwann mal Philosophie studiert - kommt dir dieses Schwelgen in non sequiturs und Aporien nicht ein bisschen, je ne sais pas, billig vor?

    "Die Fiktionen werden mit uns verschwinden. Bleiben wird eine Gesteinsschicht aus dem Abfall ..."

    Vielleicht hilft eine Therapie eher, als über Jahre wie Midas durch die Psycho-Philosophie zu mäandern, alles zu Pathos machend ...

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