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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

21. Juli 2018

Dein Gehirn ist zum Gehen da

Protest gegen die tägliche Tretmühle

Wozu haben wir ein Gehirn? Der Neurowissenschaftler Daniel Wolpert sagt, damit wir uns bewegen können. Deswegen brauchen stationäre Lebewesen wie Bäume auch kein Gehirn. Sein schönstes Beispiel für die Plausibilisierung seiner These ist die sogenannte Seescheide (Ascidiae). Dieses Tier bewegt sich am Anfang seines Lebens, um einen geeigneten Platz zu finden, auf dem sie siedeln kann, damit sie sich für den Rest des Lebens nicht mehr bewegen muss. Und was passiert dann?

"...beim Ansiedeln auf dem Felsen, wo sie immer bleiben wird, verdaut sie als erstes ihr eigenes Gehirn und Nervensystem als Nahrung. Sobald man sich nicht mehr bewegen muss, braucht man den Luxus eines Gehirns nicht mehr." (Daniel Wolpert: Der wahre Grund für Gehirne)

Das Bewegen, das Gehen, das Wandern sind nicht zuletzt deswegen auch immer schon beliebte Themen der Philosophie gewesen. Denn die Liebe zur Weisheit (wörtliche Übersetzung von Philosophie) hat ja gewissermaßen das Gehirn als seinen Fetisch und ohne Bewegung kein Gehirn und ohne Gehirn keine Weisheit und erst recht keine Liebe.

Gehen in der Schlucht von Verdon, Frankreich

Unser Hirn ist im Rhythmus des Gehens getaktet

Die letzte Sonderausgabe des Philosophie Magazins heißt schlicht "Wandern" und beschäftigt sich mit dieser Leidenschaft aus der Perspektive zeitgenössischer und historischer Denker. Der französische Philosoph und Kommunikationstheoretiker Michel Serres stellt den Zusammenhang ganz physiologisch her: Das rythmische Gehen zwingt den Atem sich zu regulieren und das wiederum ermöglicht uns eine Musikalität als Vorläufer des Sprechens und damit des Denkens und Schreibens. Und neurophysiologisch wird das vom Hirnforscher Gerd Kempermann mit der Tatsache unterfüttert, dass der Hippocampus, in dem die Übernahme von Informationen ins Langzeitgesdächtnis stattfindet, durch einen Rhythmus günstig beeinflusst wird, in den wir durch das Gehen mit mittlerer Geschindigkeit kommen. Dieser Takt ist es, in dem unser Gehirn schwingt, wenn wir denken und lernen. Dann wundert es also niemanden mehr, wenn Philosophen beim Denken immer hinundher schreiten oder Dichter so versessen aufs Wandern sind.

Leben heißt Risiko des Stolperns und Selbstverlust

Noch grundlegender auf die menschliche Existenz bezieht sich Alexis Lavis, wenn er ans Gehen denkt: "Existieren kommt vom lateinischen ex-isto, also verlagert zu sein in Bezug auf das, was steht." Und: "Gehen heißt, ein Ungleichgewicht zu leben" (Philosophie Magazin Sonderausgabe 10, S. 129). Darin kommt das Risiko des Stolperns und Fallens zum Ausdruck, das den Menschen als Zweibeiner immer begleitet. Ohne dieses Risiko können wir weder gehen noch überhaupt existieren. Das Gehen hat neben diesem Risiko aber auch den Vorteil, dass es einen "Zustand der inneren Sammlung [ermöglicht], in dem der Geist nicht mehr zerstreut und gleichzeitig offen und ohne Erwartungen ist" (Ebd. S. 127). Und der Autor des Wanderbuchs Der Weg des geringsten Widerstands, Florian Werner, hebt einen ziemlich originellen Aspekt des Gehens und Wanderns hervor: Er sieht beim Wandern und besonders beim Pilgern einen Selbstverlust einsetzen:

"Mit der Reduktion des Gehenden auf seine Füße, sein Beine, sein urtümliches Dasein als anonymer homo viator, ein Wallfahrer unter vielen: Beruf, sozialer Stand, Titel und Nachname spielen auf dem Pilgerweg keine Rolle. Es geht beim Wandern also nicht darum, sein 'wahres Selbst' zu finden, eine wie auch immer geartete Identität wiederzuerlangen. Es geht vielmehr darum, diese hinter sich zu lassen, ja, der Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein authentisches Ich, zu entfliehen." (Ebd. S. 100)

Das widerspricht vielleicht so mancher Erwartungshaltung, von modernen Pilgern, die auf dem Pfad nach Compostela sich selbst suchen. Aber wer sich selbst verliert, hat damit viel mehr gewonnen, als wenn er sich in eine vermeintlich stabile Identität verirrt.

Gehen als Protest gegen den Hausarrest

Man kann aber mit Fug und Recht behaupten, dass man nicht nur beim Wandern, sondern auch beim täglichen Gehen dem modernen Bewegungszustand des "Eingepferchtseins" entkommen kann. Der Philosoph Pascal Bruckner hebt die eigenartige Paradoxie hervor, dass Bewegung in der Moderne eigentlich Stillstand bedeutet, ein rasender Stillstand, wie wir mit Paul Virilio inzwischen bereits sagen:

"U-Bahn, Bus, Auto, Flugzeug – einen großen Teil unserer Zeit verbringen wir in rollenden Kisten. In korrekter Haltung sind wir hintereinander in unseren Sitzen ausgerichtet, eingeschnürt in Gurte und sehen unseren Körper auf seine organische Funktionen reduziert [...] Es braucht sitzende Wesen für eine Gesellschaft, die selbst stagniert und dennoch auf Ströme fixiert ist." (Pascal Bruckner, Philosophie Magazin Sonderausgabe 10, S. 89)

Hektik und Stagnation verschmelzen so und wir als vor dem Computer sitzende oder in rasenden Maschinen angeschnallte müssen uns ganz anders als mit den Füßen immer abstrampeln, um wenigstens am Fleck zu bleiben und nicht hinten von der Tretmühle herunterzufallen. Mit dem Gehen und Wandern entkommen wir diesem Irrsinn wenigstens vorübergehend. Und auch das ist schon ein großer Schritt, denn es zeigt uns, dass wir als Indidviduen keineswegs veruteilt sind, uns dem rasenden Stillstand hinzugeben. Wir können auch einfach davongehen, das Gehen als Protest gegen den Hausarrest, wie Bruckner sagt.

Auch Thea Dorn meint, das Wandern sei etwas Widerständiges, dem "das Moment der Unberechenbarkeit, der Anarchie nicht auszutreiben ist" (Ebd. S. 85). Das Bedürfnis nach Entschleunigung sei ihr zufolge zumindest in Deutschland, dem Land der Wanderlust, nicht neu. Bereits der Romantiker Joseph von Eichendorff stieg aus der Eisenbahn wieder aus und ging zu Fuß weiter, weil ihm die Landschaft, die er lieber erleben wollte, zu schnell an den Fentern vorbeiflog. Darin spiegle sich die hartnäckige Sorge der Deutschen, den Kontakt zur Natur zu verlieren.

Wie dem auch sei, gehen und wandern sind immer gute Ideen. Gehend öffnet man sich für Erfahrungen und schwingt sich ein in Kontemplation, das ist also allemal besser verbrachte Zeit, als sich von Social Media und TV den Geist pürieren zu lassen und sich dabei auf der Couch dem finalen Bandscheibenvorfall stillsitzend anzunähern. In diesem Sinne: Steht auf und geht hinaus!



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1 Kommentar:

  1. Nicht umsonst fällt bei so manchem in der flotten Bewegung der "Groschen". (Sprichwort).

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