Muss man wirklich zu allem immer gleich eine Meinung haben?
Die Moral reguliert nicht mehr das Urteil über die Ereignisse,
sondern die Ereignisse prägen die Äußerung der Moral.
Wolfgang Schmidbauer, Helikoptermoral
Neulich hörte ich das
Philosophiosche Radio vom WDR 5. Man hatte den Psychologen Wolfgang Schmidbauer eingeladen, der über seine Wortschöpfung und das gleichnamige Buch
Helikoptermoral sprach. Ich fand den Begriff etwas sperrig und nicht gleich einsichtig, was er wollte. Dann kam der G20-Gipfel und mit ihm die ganze Schnellschuss-Entrüstung links und rechts auf Twitter, in den "etablierten Medien" und wohl auch auf Facebook (
von wo ich mich aber sowieso so gut es geht fern halte). Und plötzlich verstand ich Schmidbauer und seinen Begriff Helikoptermoral. Aber eins nach dem anderen... Was soll Helikoptermoral eigentlich sein?
"Wie ihr Pendant, die Helikoptereltern, ist auch die Helikoptermoral immer schon da, immer bereit, Stellung zu beziehen. Das tut sie unter viel Getöse mit schnellen Urteilen, um so die schnellen Affekte von Angst und Wut zu bewältigen, die angesichts einer unsicheren Zukunft in einer komplexen Welt dominieren. Es geht nicht mehr um eine gut funktionierende Moral, die das Zusammenleben regelt, sondern um das endgültige Urteil, die zu Superlativen übersteigerten Werte jenseits aller Realität." (Beschreibung zum Buch Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum)
Ob jetzt der Begriff gut gewählt ist, weiß ich immer noch nicht, aber die Beschreibung dieses Phänomens ist dringend angebracht, denn diese Art der Scheinmoral verhindert wirkliche Auseinandersetzung und letztlich moralisches Handeln. Zuerst beim entrüsteten Individuum selbst und damit auch in der Gesellschaft, wo man sich entweder gegenseitig lediglich bestärkt oder aber bekämpft und zwar ohne Bereitschaft bei überzeugenden Gegenargumenten die eigene Position wieder aufzugeben. Geht es überhaupt noch jemandem darum, etwas zu lernen, den eigenen Horizont zu erweitern, anderen zuzuhören, sie ernst zu nehmen? Oder geht es nur noch darum, die eigene Meinung unbedingt in die Welt zu setzen, sie gegen Argumente zu immunisieren und kogitive Dissonanz um jeden Preis zu vermeiden? Warum muss sich wirklich jeder über "den schwarzen Block" bei den G20-Protesten entrüsten? Habt ihr Angst, dass man euch für Sympathisanten hält, wenn ihr einfach mal den Mund haltet und die wirklichen Probleme überdenkt? (Siehe mangelnde Ergebnisse dieses "Gipfeltreffens".) Oder ist es einfach wieder mal die wöchentliche Chance, euren Frust und den Willen zu moralischer Überlegenheit auf wohlfeile Art und Weise rauszulassen? Ist ja auch egal, ob eure Wut die Fahrradfahrer, die Fleischesser, VW, die Nafris (oder was ihr euch sonst so für beschissene Begriffe für Flüchtlinge aneignet), die Medien oder die Merkel trifft. Hauptsache Wut, Hauptsache Empörung, Hauptsache ihr seid besser als all die anderen. Das ist "Minifanatismus in Tugendmaske", wie Schmidbauer formuliert. So – jetzt habe ich selbst gleich mal etwas Rage-Blogging betrieben. Natürlich nur beispielhaft und zur Anschauung für euch.