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22. Oktober 2017

Bilder des Trostes, H wie Habicht

Das Finden und Verlieren der Wildheit in der Natur

Die allerkleinsten und die allergrößten Dinge gehen gerade irgendwie kaputt. In unseren Böden gibt es kaum noch Insekten und an den Polen schmelzen unvorstellbar riesige Eismassen. Und zwischendrin bemühem wir uns darum, Pandas zu züchten und Seeadler wieder anzusiedeln.

"... da draußen gibt es eine Welt der Dinge – Felsen und Bäume und Steine und Grass und all die Dinge, die dort kriechen und laufen und fliegen. Sie sind alle Dinge an sich, aber wir legen für uns einen Sinn in sie hinein, der unsere Sicht auf die Welt stützt." (Helen Macdonald, übersetzt von mir aus dem englischen Original H is for Hawk, S. 275)

Zwei Seeadler über Rügens Strand (Foto: Gilbert Dietrich, Lizenz: CC BY 2.0)

Ich habe gerade eine goldene Herbstwoche auf Rügen verbracht. Dort habe ich unterm Reetdach geschlafen, bin durch die ältesten Buchenwälder Europas gewandert, habe die Kraniche auf ihrem Zwischenstopp beobachtet und natürlich Fischbrötchen gegessen. Ich bin durch Baumwipfelpfade gewandert, habe Seeadler beobachtet, Ziegen fotografiert, Kreidefelsen bestaunt und bin mit einer kohlestinkenden Dampflock nostalgisch durch die Landschaft gefaucht. Außerdem habe ich Helen Macdonalds H wie Habicht gelsen. Es war ein veritabler Natururlaub oder zumindest fühlte es sich so an.

Helen Macdonalds schreibt in ihrem Buch biografisch über ihre Leidenschaft des Jagens mit Greifvögeln. Die Falknerei ist eine über 4000 Jahre alte Kulturtechnik, die ihren Weg aus China über den arabischen Raum bis in den Westen gefunden hat. Hier hat sich die Falknerei im Mittelalter zu einem eher noblen Sport mit eigener Sprache und sogar einem Ränkesystem (kleine Falken für leibeigene Bauern, Habichte für freie Männer und Adler für Könige) entwickelt. Heute muss man diesen Jagdsport wohl eher absurd nennen und kann seine überaus unnütze Weiterexistenz eigentlich nur der Dekadenz eines exessziven Zeitalters der Langeweile oder Naturentfremdung zuschreiben. Und gleichzeitig verstehe ich durch die Lektüre, wie gerade dieser Anachronismus und die Nutzlosigkeit die Falknerei für eher aus der Zeit gefallene Menschen attraktiv machen kann. Natürlich ist da auch dieses für eine Zähmung höchst unwahrscheinliche Tier, das eine Herausforderung ist.

Vögel transportieren als enge Verwandte der Saurier eine äonische Entfernung und damit eine absolute Fremdheit, eine Inkongruenz zum Menschen und die Unmöglichkeit ihrer Zähmung. Mich hat sehr beeindruckt, wenn Macdonald schrieb, wie ihr Habicht Mabel ihr ans Herz gewachsen war und er sich auch ihr gegenüber freundlich verhalten hat, nur um dann abrupt völlig entfremdet und desinterssiert davon zu fliegen, sich auf einen Baum zu setzen und sich nicht mehr um den Menschen zu scheren. Oder der bestialische Jagd- und Blutrausch, der Mabel einfach überkam und sie blind für alles andere machte. Es ist da eine absolute und extreme Wildheit in diesen Tieren, eine Unmöglichkeit des Zurichtens und das macht die Tiere so über unsere Welt erhaben und die Falknerei so herausfordernd und attraktiv. Wer etwas über Raubvögel und das Leben mit ihnen lernen möchte und darüber, was es heißt, ein Mensch mit Liebe und Trauer im Angesicht der Wildheit und ihrem Verlust zu sein, der sollte H wie Habicht lesen.

Noch einmal zurück nach Rügen: Ein schöner Natururlaub, wie gesagt und doch hat mich die Leere der Landschaft in dieser typischen Vogelzugzeit erstaunt. Ein paar Kormorane in den Buchten, ein paar Enten und Gänse auf den Feuchtwiesen und am Himmel, einige Greifvögel und ansonsten Schafe, Ziegen, Kühe. Man muss sich diese Wiesen vor 150 Jahren vorstellen: Vogelkundler beschrieben Myriaden von Gänsen, Raben, Enten und Tauben – Millionen von Vögeln, die durch ihre schiere Menge zum Teil großen landwirtschaftlichen Schaden anrichteten. Eine massenhafte Bejagung, die Trockenlegung der vielen Feuchtgebiete (damals "lebensfeindliches Unland" genannt) und nicht zuletzt die Weltkriege und unsere intensive Landwirtschaft haben unsere Landschaften leergefegt (Johan H. Mooij, Wildgänse in Europa – gestern, heute und in Zukunft, 2009). Wenn wir heute touristisch unterwegs sind, fällt uns die Leere nicht auf, genauso wenig wie wir die Pestizide im Boden sehen oder die für menschliche Sinne schleichende und für globale Verhältnisse rasende Veränderung unseres Klimas.

"Maßstäbe verstehen wir nur sehr schlecht. Die Lebewesen im Erdreich sind zu klein, als dass wir uns um sie sorgten. Der Klimawandel ist zu riesig, als dass wir ihn uns vorstellen könnten. Auch die Zeit verstehen wir kaum. Wir können uns an nichts erinnern, das vor uns lebte; wir können das nicht lieben, was es nicht mehr gibt. [...] In Bildern finden wir Trost und wir tilgen jegliche Geschichte aus unseren Landschaften." (Helen Macdonald, übersetzt von mir aus dem englischen Original H is for Hawk, S. 265)

In Nordeuropa haben sich die Bestände der Zugvögel nach einem absoluten Tiefpunkt Mitte des 20. Jahrhunderts leicht erholt und nun stabilisiert (Johan H. Mooij, Wildgänse in Europa – gestern, heute und in Zukunft, 2009). Die Myriaden auf den Feuchtwiesen von vor 150 Jahren werden wir wohl nie wieder sehen. Auch große Raubvögel wie Fisch- und Seeadler, größere Säuger wie Bieber und Wölfe siedeln sich wieder an. Von all diesen dort draußen kriechenden, laufenden und fliegenden Dingen sind solche sichtbaren Tiere eher die Bilder, in denen wir Trost finden. Sie erinnern uns an eine Zeit, an die wir uns nicht erinnern können, weil sie vor uns statt fand. Diese Erinnerungsfantasie ist besser als nichts, aber sie ersetzt keine vor Leben strotzende Wirklichkeit. Um die fundamentalen Strukturen wie die Mikroorganismen und Insekten im Boden, das Klima oder die ausgedehnten, selbsterhaltenden Lebensräume steht es trotz dieser tröstenden Bilder nicht besonders gut und die globale Prognose unter den Einflüssen einer weiter wachsenden und an Konsum aufholenden Südhalbkugel ist denkbar schlecht.

Ich begreife mich selbst als ein in diesem Moment Lebender mit sehr begrenzter Macht über die Dinge. Der vielleicht 70 oder 80 jährige Ausschnitt dieser Welt, den ich sehen darf, ist alles, was ich habe – ein Augenblick, von dem nichts bleiben wird, von dem ich nichts mitnehmen werde. Nur das Heute mit seinen Bildern, Fantasien, dem Trost oder der Trauer und der Liebe für das, was ich sehe. Vielleicht geht einfach nicht mehr.  Der Aktivismus, die Wut, das dagegen Anschreien und manchmal daran Verzweifeln gehören dazu. Keiner wird diese Welt retten, aber jedes Quäntchen, das den nächsten Moment für so viele andere Menschen wie möglich etwas erträglicher macht, ist jeglichen Kampf wert.


Johan H. Mooij prognostoziert übrigens in Wildgänse in Europa – gestern, heute und in Zukunft, dass mit weiteren drastischen Populationsrückgängen wegen vermindertem Reproduktionserfolg (intensive Landwirtschaft) und der Klimaerwärmung zu rechnen sei, die arktische Tierarten wesentich stärker betrifft, als alle übrigen in Europa.

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1 Kommentar:

  1. Das kann ich unterzeichnen.
    Seien wir nett zueinander.
    Von den Beschreibungen der Verfolgung ethnischer Minderheiten in den letzten Jahrhunderten ist mir in Erinnerung geblieben, daß es einzelne Akte der Gnade und Barmherzigkeit gab.
    Dieses unentwegte Zermalmen hatte auch zwischendrin Pause.
    Andere Bilder: In der Nachkriegszeit schoben Mütter ihre Säuglinge in Kindersessen zum Schwätzchen im Park. Es schien die Sonne und alles war Aufbruch. All das Elend war im Moment vergessen.

    Es hat eben so kommen müssen, jetzt geht es nur noch "um (Über-)leben im Schutt."

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