9. September 2017

Die vergnügliche Verzweiflung am Sein

Vom Elend des Menschseins auf dem asketischen Stern

»Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben«. (Silenos auf die Frage des Midas, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. In: Die Geburt der Tragödie, Friedrich Nietzsche, 1873)

Papst Innocent III, geboren als Lotario dei Conti di Segni (Fresko im Kloster San Benedetto um 1219)

Wir hören erst auf zu sterben, wenn wir aufhören zu leben. Das ist in etwa die Erkenntnis des Lotario de Segni in seiner Schrift "De miseria humanae conditionis", die er im 12. Jahrhundert verfasste, noch bevor er 1198 zum Papst Innocent III. berufen wurde. Diese Schrift war in den folgenden Jahrhunderten eine der populärsten und am meisten (noch vor dem Buchdruck) vervielfältigten Abhandlungen über das menschliche Dasein. Was war das für eine Zeit, als man sich in der sich selbst zugeschriebenen Unwürdigkeit suhlte? Vielleicht wäre unsere Geistesgeschichte eine andere, eine positivere geworden, wenn Lotario nicht Papst geworden wäre, sondern statt dessen die Zeit gefunden hätte, die geplante Gegenschrift von der Würde des Menschen zu verfassen. Das ist aber nie geschehen. So wurde diese pessimistische Schrift zu einer Grundlage unserer Weltverachtung wie wir sie seither von Luther über Schopenhauer bis Cioran kennen.

"Der Herr formte den Menschen aus dem Schleim der Erde, einem Element mit geringster Würde. Denn Gott formte die Planeten und Sterne aus dem Feuer, er formte den Wind aus der Luft, die Fische und Vögel aus dem Wasser, den Menschen aber und die Bestien formte er aus der Erde. So sieht der Mensch die Lebewesen im Meer, sodass er selbst niedriger ist als diese, wenn er die Lebewesen der Lüfte sieht, dass er noch niedriger unter ihnen ist und wenn er die Kreaturen des Feuers sieht, dass er selbst am niedrigsten unter all diesen ist. Er kann sich nicht aufschwingen zu den himmlischen Dingen, sich erheben über die irdischen, denn er findet sich selbst wieder auf einer Stufe mit den Bestien und er weiß, dass er ist wie sie." (Lotario, Vom Elend des menschlichen Daseins)

Lotario leitet – mit Tränen in den Augen, wie er selbst sagt – her, warum das menschliche Dasein ein Elend sei und zwar unter der Berücksichtigung der Fragen, 1.) woher der Mensch kommt, 2.) was er tut und 3.) wohin er geht:

  1. Der Mensch wurde aus Staub, Schleim und Asche geformt, ein Produkt des schmutzigsten Samens. Er wurde im Juckreiz des Fleisches, der Hitze der Leidenschaft und dem Gestank der Lust und – was das Schlimmste ist – im Makel der Sünde empfangen.
  2. Er wurde geboren, um zu schuften, zu leiden und sich zu sorgen, er wurde geboren, um zu sterben. Seine Taten sind verderbt und beleidigen Gott, seinen Nachbarn und sich selbst; es sind beschämende Taten, mit denen er seinen Namen besudelt, seine Person und sein Gewissen; und eitle Taten, durch die er alles wichtige, nützliche und notwendige übergeht.
  3. Am Ende wird er zum Heizmaterial jener Feuer, die für immer heiß brennen und hell, und er wird Nahrung des Wurms, der ewig an ihm nagt und ihn verdaut, eine verrottende Masse, die auf Ewig stinkt.

Doch damit nicht genug, Lotario lamentiert weiter über die Kürze des Lebens, die Unannehmlichkeiten des Alters, die Misere zwischen Reichtum und Armut, die Misere zwischen gut und böse, den Körper als Grab der Seele, die permanente Nähe des Todes und schließlich das abscheuliche und sträfliche Ende eines jeden Menschen. Der Mensch lebt wie ein Tier und er stirbt wie ein Tier. Im Angesicht dieses populären und sich durch die Jahrhunderte ziehenden weltverneinenden Pessimismus' prägt Nietzsche die schöne Formel von der Erde als asketischem Stern:

"... ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe thäten als möglich, aus Vergnügen am Wehethun: – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen." (Zur Genealogie der Moral, Friedrich Nietzsche, 1887)

Nietzsche sagt auch an selber Stelle, dass jegliche Askese ein Versuch sei, "sich »zu gut« für diese Welt vorzukommen." Das ist schön doppelbödig, psychologisch und auch sehr treffend formuliert. Es handelt sich bei Asketen also weder um Heilige, die zu gut für alles irdische seien, noch um arrogante Leute, die sich für zu gut hielten, sondern lediglich um arme Würstchen, die versuchten sich zu gut vorzukommen. Denn lieber das Nichts zu wollen, als nichts zu wollen liege in der Natur des Willens.

Askese Light

Und heute? Wo ist diese Weltverneinung, diese Selbstverachtung hin? Peter Sloterdijk meint in seinem neusten Buch Nach Gott: Glaubens- und Unglaubensversuche, dass die durch die Aufklärung in Gang gebrachte "religiöse Entropie [...] die asketischen Überspannungen [...] von Welt und Lebensverneinung unwiderruflich und in bemerkenswerter Eile" abgebaut hätte (S. 66). Aber sind diese pessimistischen Überspannungen wirklich ganz verschwunden?

Ich meine, sie ist keineswegs so tot wie ihr Gott, es haben sich nur die Vorzeichen umgekehrt. Niemand fände heute den Gedanken abscheulich, dass der Mensch ein Tier sei. Diese Kränkung, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert hatte (Darwins On the Origins of the Species erschien 1859 gefolgt von The Descent of Man im Jahr 1871), haben wir inzwischen so gut verwunden, dass sich die Argumentation komplett gedreht hat. Die heutige Klage der Misanthropen und Pessimisten gründet in der Entfremdung des Menschen von seiner Herkunft. Ihnen sind wir also nicht mehr Tier genug. Das Tier wird in unserem modernen Selbsthass der positive Bezugspunkt. Die vollständige Klage geht heute etwa so:

Der Mensch hält sich für etwas Besseres, dabei ist er selbst nur ein Tier. Ein pervertiertes Tier, dass seine eigene Lebensgrundlage zuerstört und alle anderen edlen Geschöpfe gleich mit. Fände er doch nur den Weg zurück, ein wahres Tier im Einklang mit seiner Umwelt zu sein und sich nicht über die Natur zu erheben!

So in etwa könnte man die Mehrzahl der misanthropischen Klagen zusammenfassen, die sich heute beispielsweise hier sammeln. Die Grundformel bleibt dieselbe: Immer geht es gegen den Hochmut des Menschen, damals gegen den Hochmut gegenüber Gott und heute gegen den Hochmut gegenüber der Natur, den Tieren und manchmal auch den Mitmenschen. Was wir heute sehen, ist gewissermaßen eine Askese Light. Wir finden sie, im Trend der Meditation oder dort, wo der Manager mal für zwei Wochen ins Kloster geht; wir finden sie im Minimalismus und im Vegetarismus; wir finden diese Askes Light im Trend des Kürzertretens. Nichts davon ist falsch, im Gegenteil – es ginge uns allen besser, wenn wir minimalistischer Leben würden. Was aber doch nervt, ist der durchschaubare Versuch, "sich »zu gut« für diese Welt vorzukommen." Dieser Moralismus, den man beispielsweise da entdeckt, wo uns ein Vegetarier spüren lässt, dass er meint, etwas Besseres zu sein, zementiert die Grenze zwischen den vermeintlich Erleuchteten und den angeblich Verwirrten.

Dabei ist diese Askese Light nun wirklich kein Opfer, das jemand erbringt und das ihm irgendwie höhere Weihen verleiht. Sie verdankt sich einzig dem technologischen Fortschritt der Menschheit, also genau dem, das moderne Möchtegernasketen tendenziell ablehen. Wenn wir eines lernen können aus der Geschichte des Selbsthasses und der Weltverneinung, dann ist es die Tatsache, dass Menschsein bedeutet, eben nicht im Einklang mit seiner Umwelt zu leben. Helmuth Plessner nannte das die Exzentrische Position des Menschen, der sich nie in einem Mittelpunkt seiner selbst oder der Umwelt befindet, sondern immer darüber hinasugeht. Sicher können wir es besser machen, weniger Ressourcen verbrauchen, weniger wegwerfen und verschmutzen. Aber wir werden immer Menschen bleiben, die exzentrich über ihre Verhältnisse leben. Man kann sich selbst dafür verdammen oder die hassen, über die man sich erhebt. Das geht immer und ist heute nur noch so eine Art Ventil im Umgang mit unseren kognitiven und moralischen Dissonanzen.



Das passt dazu:

11 Kommentare:

  1. Ich habe den Artikel überflogen..wie die meisten.
    Für mich ist Menschsein ein Versuch...mit wahrscheinlich positivem Ausgang.
    Tiere vor dem Menschen waren auch rabiat, durchgehend, aber mit dem Menschen hat das leider eine andere Dimension.
    Mein Glaube ist...und es ist definitiv ein Glaube, dass wir all unseren Supermist ausgleichen können.

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  2. Vor vielen Jahren habe ich mich mal beschäftigt, woher der Begriff des Teufels kommt.
    In Erinnerung habe ich die Gnosis als Ursache. Es soll zeitgleich im griechischen Raum Religionen gegeben haben, die Verdammnis nicht brauchten.
    Die exzentrische Position des Menschen ist vielleicht kein Novum in der Erdgeschichte. Jede echte Innovation in der Evolutionsgeschichte führte zu ähnlicher Aussenlage.
    Speerspitzen der Evolution.

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  3. Der Mensch, das Wesen der Dissonanzen...
    Erhoben hat er sich schon in der Frühzeit, ein Max Planck - Institut beschäftigt sich mit den frühen Eingriffen.
    Eine Frage:
    Gab es also je ein Tierwesen, das so mächtig war, dass seine Dominanz, die ja eig. nach evolutivenspielregeln nicht auftreten sollte, nur durch zufällige Katastrophen zu stoppen war?

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    1. Danke für deine Kommentare, Gerhard! Wie immer sehr inspirierend und herausfordernd. Ich weiß gar nicht, ob wir "nur durch zufällige Katastrophen zu stoppen" sind. Vielleicht schaffen wir uns ja unsere eigene(n) Katastrophe(n), dann wäre das gar nicht zufällig. Bei den Dinosauriern weiß man nicht, was aus ihnen geworden wäre, aber sie wurden ja nun wirklich durch eine zufällige, wohl kosmische Katastrophe gestoppt.

      Das mit dem Teufel ist interessant. Ich meine gelesen zu haben, dass "der gute Gott" eine recht späte Erfindung war und dass es zuvor eher strafende Götter waren, von denen die Menschen besessen waren (mal abgesehen von den allzumenschlichen antik-griechischen Göttern).

      Was Plessners Exzentrik jedoch voraussetzt, ist das Bewusstsein und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Mir sind keine anderen Speerspitzen bekannt, denen das möglich war. Insofern gab es vielleicht andere "Exzentriker", aber unsere Exzentrik ist ein Novum, so viel wir heute wissen.

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  4. Nichts lebt "im Einklang mit der Natur" - das hab' ich beim Gärtnern gelernt.

    Die Ameisen gehen emsig ihren Geschäften nach und ZACK, taucht eine Horde doppelt so großer Waldameisen auf und greift sie an, macht sie nieder, entführt die Larven... Einklang?
    Der Mangold lässt die Blätter hängen, doch liegt es nicht am Wassermangel. Was ist los? Die Ameisen haben sich unter ihm angesiedelt, den Boden mit ihren Gängen so gelockert, dass die Wurzeln keine Nährstoffe mehr aufnehmen können. Einklang?
    Wilde Pflaumen wuchern unterirdisch und kommen überall hoch, wachsen schnell, bringen Schatten, verdrängen andere Gewächse... für diese ist es mit "Einklang" vorbei. Eine Brombeerpflanze überwuchert alles, was ihr im Wege steht mit einer irren Geschwindigkeit. Und vom biochemischen Krieg vieler Pflanzen, die andere neben sich einfach eingehen lassen, fang ich gar nicht erst an!

    Pflanzen, Tiere, Bakterien - alles will sich ausbreiten und wendet alle zur Verfügung stehenden Mittel an. Mal sind die Bedingungen günstig, dann verdrängen die Erfolgreichen die Anderen, mal sind sie ungünstig (Wetter, Boden..), dann gelingt es nicht, vielleicht sterben sie sogar.

    Es gibt keine stabile Harmonie, keinen "Einklang", sondern nur das vielgestaltige Bemühen um Leben, Fortpflanzen, Überleben, Ausbreiten..

    Als es in Mode kam, "ein Biotop zu haben", also einen Gartenteich mit Pflanzengesellschaft, Fischen und Wassertierchen etc., merkten alle sehr schnell, dass es keine Stabilität gibt, sondern man stets kämpferisch auf der Matte stehen muss, um das sog. "Gleichgewicht" zu verteidigen. Z.B. gegen die Larven der schönen blauen Libelle, die - einmal da - alles andere auffressen. Und vieles andere mehr... "Biotop haben" ist mittlerweile nicht mehr so angesagt. :-)

    Genau wie Tiere und Pflanzen ihrer Umwelt ausgeliefert sind, so waren es auch Naturvölker, von denen wir immer meinen, sie hätten "im Einklang mit der Natur" gelebt. Klar, mit wenig Individuen und einer Menge Natur rund rum hält sich so ein Menschenbiotop eine Weile halbwegs stabil - aber wie lange? Kaum sind sie, weil erfolgreich, MEHR geworden, fällt ihre Kultur den Klimakatastrophen zum Opfer. 10 bis 50 Jahre Dürre - und Schluss wars mit den Städten der Maya. Was keine Ausnahmen war, sondern vielen so ging.

    Das Leben "im Einklang mit der Natur" ist ein Mythos von Stadtmenschen - die sich um übrigen nicht ernsthaft wünschen, so zu leben wie jene, von denen man meint, sie hätten tatsächlich so gelebt.

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    1. Super dieser Kommentar, danke! Ich war am Wochenende am "Eichwerder Steg" in Berlin. Eine Moorlandschaft, in der sogar einstmals Orchideen blühten, Tausende Vögel rasteten und sich ein einmaliges Biotop entfaltete. Dann aber plötzlich starb alles. Warum? Weil der Mensch das Gebiet aufhörte zu bewirtschaften und sich überall Erlen und Birken durchsetzten und im Nu war es keine aufregende Moorlandschaft, sondern ein langweiliges Gestrüpp. Faszinierend. Inzwischen wird es wieder "hergestellt" und bewirtschaftet.

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    2. Das ist dann aber auch eine eher androzentrische Sicht ;) Die Erlen und Birken sowie das Gestrüpp finden sich selbst vielleicht gar nicht so langweilig.

      Ist aber wie immer ein Guter Artikel Gilbert. In Gewisser Hinsicht kann ich Loratio gut verstehen, da ich einiges ähnlich sehe. Weniger das der Mensch etwas schlechtes oder niederes ist, das nicht unbedingt. Aber auch ich betrachte Tiere aller Art sehr gerne und beneide die Regelrecht für Ihr Sein ohne (Bewusst)-Sein.

      Das bewirtschaften von Fläche kann auf einem vernünftigen Niveau Lebensraum schaffen, ja, aber darüber hinaus zerstört es doch nur noch.
      Siehe Braunkohletagebau Garzweiler ... oder in Patagonien, wo riesiege Flächen wegen eines Staudammes überflutet werden sollen, aus Energie- und Geldgier.

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    3. Ja, solche Sachen wie Garzweiler oder die Abholzung und Bewirtschaftung mit Palmen in Sumatra sind natürlich extreme Beispiele, von denen es mittlerweile so viele gibt, dass die gesamte Welt darunter leidet. Mein Beispiel mit dem Eichwerder Steg soll auch verdeutlichen, dass es "die Natur" aus menschlicher Sicht gar nicht gibt. Das, was wir oft am schönsten finden ist eher der Park als die Wildnis.

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  5. Interessant ist allerdings, dass die Populationen in natürlichen Biotopen im Normalfall in einer von Schwankungen begleiteten, aber ausgeglichenen Art und Weise zusammenleben können. Mag sein, dass sich der Mensch nicht gieriger verhält als Viren, Räuber, etc., aber wir schaffen es leider, das Ökosystem Erde so sehr zu in Schieflage zu bringen, dass unser Ableben ohne Verhaltensänderungen oder technologische Revolutionen nicht mehr allzu lange aussteht. Mag sein, dass das zur Zeit die Mehrheit der resignierten/betäubten Erdbewohner nicht interessiert, aber wenn's soweit ist, darf sich wohl niemand beschweren.

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    1. Ja oder es ist eben so, dass auch uns als Population "nur" eine drastische Dezimierung bevorsteht, so wie in anderen überstrapazierten Ökosystemen. #WirKommenWieder

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  6. "Unter Mühen geht der Tag dahin, die Nacht unter Schlaflosigkeit." De misera conditionis humanae, I, 4:1

    Wirklich ein erbauliches Textchen. Ich würde weder behaupten, dass sich pessimistische Tendenzen verflüchtigt, noch, dass sie sich in eine Art Askese Light transformiert haben. Pessimism is alive and well, könnte man sagen, aber vielleicht ist das nur meine Blase: Der Verfall der USA, der Aufstieg Chinas, der Klimawandel und andere anthropozäne Miseren, denen der (westliche) Einzelne resigniert gegenübersteht, sind Wasser auf den Mühlen des Pessimismus. Antinatalismus, Efilismus, negativer Utilitarismus, Wild Animal Suffering etc. sind aktuelle pessimistische Auswüchse einer verfeinerten Wahrnehmung und insofern natürlich auch kompatibel mit deiner Herleitung aus dem wachsenden Wohlstand: Leid als solches erkennen muss man sich leisten können. Dazu passt auch ClaudiaBerlins hervorragender Kommentar: Die Erkenntnis der brutalen Wechselwirkungen in einem Garten bedürfen der Muße und verfeinerten Wahrnehmung des Gärtners. Wissen macht unglücklich.

    Die exzentrische Stellung des Menschen ist übrigens keine Erfindung Plessners: Hölderlin sprach von der "exzentrischen Bahn" des Menschen und meinte damit eben die typisch romantische Entfremdung vom (in sich zentrierten) Kind zum zu Bewusstsein gelangten (exzentrischen) Erwachsenen, der einen neuen Weg ins Paradies suchen muss, um seine Mitte wiederzufinden.

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