Zur Insel-Sensibilität für das Thema Introversion
Gestern erschien in der Zeitung Die Welt der Artikel So starten introvertierte Mitarbeiter im Job richtig durch, für den man mich interviewt hatte. Leider war die Zeitung weder in der Lage, mir ein Belegexemplar zur Verfügung zu stellen, noch mir wenigstens rechtszeitig ein PDF zuzusenden. Meinen Versuch, ein Online-Abo abzuschließen habe ich an dem Punkt abgebrochen, als ich las, dass ich einen Brief schreiben und in die Post geben muss, um das Abo wieder zu kündigen. Einen Vertrag online abschließen, den man nur offline kündigen kann? Das ist "Digitalisierung made in Germany" und absolut unseriös. Die Logik ist durchsichtig: Einen Brief zu schreiben, bedeutet eine größere Hürde, als im Online-Konto das Abo zu kündigen. Man rechnet einfach damit, dass Abonnenten den Aufwand scheuen und so wider Willen zahlende Kunden bleiben.Der vielleicht schönste Arbeitsplatz für Intorvertierte (Swativ28 - CC BY-SA 4.0) |
Aber kommen wir zurück zum Thema Introversion und Arbeit. Der Artikel zitiert mich natürlich nur in einigen ausgewählten Sätzen und kann dem Thema aus meiner Perspektive nicht ganz gerecht werden. Da unterliegt jeder Journalismus der Tagespresse ganz verständlichen Beschränkungen wie Kürze und Lesbarkeit für ein breites Publikum. Deshalb könnt ihr hier meine ungekürzten Antworten zu den Interviewfragen lesen, wenn ihr möchtet.
Vermutlich sind viele Unternehmen unsicher oder auch überfordert im Umgang mit introvertierten Mitarbeitern – ist es wirklich so schwer, den Zugang zu ihnen zu finden?
Ich weiß nicht, ob Unternehmen speziell damit überfordert sind und bezweifle, dass das ein großes Problem ist. Introversion ist ja keine Krankheit, die einen bestimmten Umgang oder spezielle Rücksichtnahme erfordert.Man könnte vielleicht sagen, dass es generell schwierig ist, ein Umfeld zu schaffen, in dem verschiedenste Persönlichkeiten mit ihren Ausprägungen gleichermaßen erfolgreich sein können. Als Beispiel: In einem sehr an Forschung ausgerichteten Unternehmen haben es extrovertierte Mitarbeiter sicher auch nicht leichter als introvertierte, während das in einer Sales-Organisation ganz anders sein könnte. Wichtig ist im ersten Schritt, dass Führung in Organisationen ein Gespür für die Diversität von Persönlichkeiten entwickelt und nicht unbedingt eine Insel-Sensibilität für nur ein Thema wie Introversion.
Ist es schwer, einen Zugang zu introvertierten Menschen zu finden? Nein, wie gesagt, das sind ja ganz normale Menschen. Sicher gibt es extreme Ausrpägungen, aber die sind statistisch natürlich selten.
Was sollten Führungskräfte im Umgang mit introvertierten Mitarbeitern nicht tun? Und umgekehrt gefragt: Gibt es so etwas wie ein allgemeingültiges "Sesam, öffne dich" für die stillen Mitarbeiter?
Introvertierte Menschen sind eher reflektiert und mögen es überhaupt nicht, vor anderen in großer Runde aufgefordert zu werden, jetzt sofort eine Meinung zu einem neuen Problem zu äußern. Geben wir unseren Mitarbeitern Zeit, das neue Problem zu durchdenken und bitten wir sie, sich dann zu äußern. Dieses Problem kennen wir von Brainstormings, die von eher extrovertierten Mitarbeitern dominiert werden, wenn man vor dem "Storm" keine Reflexionszeit einrichtet.Und natürlich sollte man Introvertierten am Arbeitsplatz nicht mit einer Menschengruppe zu dicht auf die Pelle rücken. Man sollte ihnen die Zeit lassen, sich mal zurück ziehen zu können, ihnen nicht in den Pausen unbedingt Geselligkeit verordnen und ihnen z.B. durch eine vernünftige Meeting-Planung die Möglichkeit geben, sich vorzubereiten.
Viele Introvertierte mögen Aufgaben, denen sie sich autonom, konzentriert und ungestört widmen können, bevor sie wieder Energie haben, um sich in den Austausch mit anderen zu stürzen.
Aus welcher Motivation heraus unterstützen Sie Ihre introvertierten Mitarbeiter und mit welchen Maßnahmen und Erfolgen fördern Sie die Zusammenarbeit zwischen Intros und Extros?
Wie gesagt: Statt einer Sonderbehandlung einzelner Mitarbeiter, von denen man sowieso immer nur irgend etwas wie Introversion oder Hochsensibilität vermutet, bin ich lieber sensibel gegenüber der Art und Weise, wie meine Mitarbeiter ticken und stelle mich dann darauf ein. Wenn ich das Gefühl habe, jemand in meinem Team sei eher introvertiert, dann versuche ich das durch Angebote zu validieren. Z.B.: Willst du lieber dieses Event für alle organisieren und Ansprechpartner dort sein oder am Scheibtisch das Konzept für das Event entwickeln? Natürlich ist die erste Aufgabe eher etwas für Extrovertierte.Um eine angenehme und produktive Zusammenarbeit von diversen Persönlichkeiten zu ermöglichen setze ich gern auf Selbsterkenntnis in der Gruppe, z.B. in einem Workshop alle herausfinden lassen, wie sie selbst ticken, sind sie eher introvertiert oder extrovertiert, mögen sie sich lieber mit großen Konzepten oder den Details beschäftigen, treffen sie eher Entscheidungen mit Kopf oder mit Bauch, sind ihnen Regeln und Strukturen wichtig oder lieben sie es eher offen? Mit solchen Erkenntnissen kann man in der Gruppe gut diskutieren, wie man miteinander rücksichtsvoll und effektiv umgehen kann.
Bewusstwerdung beim Einzelnen und in der Gruppe hat den größten Effekt und macht weitaus mehr aus, als wenn ich versuche auf meinen Annahmen beruhend, Mitarbeiter in irgendwelche Schubladen zu stecken und sie dann vielleicht auch noch einseitig fordere und fördere.
Neben einem gesunden Arbeitsumfeld und der größeren Effektivität solcher Teams ist meine Motivation auch, jeden Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin er oder sie selbst sein zu lassen. Sich zu verstellen und Anforderungen anzunehmen, die nicht zu einem passen, kann kaum zu guten Ergebnissen führen. Außerdem hat doch jeder ein Recht auf den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit.
Das passt dazu:
Ja, sehr nett gemeint.
AntwortenLöschenAber letzlich nicht das, worauf es ankommt. Das ist nämlich die Unternehmens- bzww. Management-Ideologie, nach der gerade verfahren wird. Neuerdings wird gehyped, dass "jeder alles können" muss. Ein Schlag ins Gesicht aller echten Fachkräfte und Experten! Und blödestes, kontraproduktivstes Herangehen an die Aufgaben, die wirklich anliegen: den Kunden die Produkte und Dienstleistungen optimal anbieten, die sie benötigen!
Ich weiß nicht, vielleicht unterscheiden sich deine und meine Arbeitserfahrungen erheblich? Ich kann das nicht sehen, was du da behauptest. Willst du es mal belegen, dass es tatsächlich in der Breite so ist, wie du da schreibst? Behaupten kann man ja alles.
LöschenUnd es ist auch nicht "nett gemeint", sondern meine Management-Praxis, die ich da auf eine ganz spezielle Frage hin schildere. Neben der Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen gibt es viele viele andere Faktoren, die die Arbeit beeinflussen, auf die ich hier im Interview nicht eingegangen bin.
Noch eine Anmerkung: Ideologie ist, wenn jemand die Logik der Idee unterwirft. Bei mir ist es genau anders herum: Ich versuche meine Ideen auf Grundlage meiner Beobachtungen und der Logik zu entwickeln. Und so machen das viele in den Unternehmen. Aber wie gesagt: Ich weiß nicht, was deine Arbeitserfahrungen sind, aber es scheinen keine guten zu sein. Verallgemeinern kann weder ich noch du aufgrund unserer singulären Erfahrungen.