Warum du dein Selbst nicht tief in dir findest
"Niemand kann dir die Brücke bauen,
auf der gerade du über den Fluss des Lebens
schreiten musst, niemand ausser dir allein."
(Friedrich Nietzsche)
Robert Pen Warren 1968 |
"In den Worten [sich selbst finden] verbirgt sich die Idee einer bereits existierenden Entität, das Selbst wie eine platonische Idee, in einem mystischen Raum jenseits von Zeit und Wandel. [...] Das ist die essentielle Passivität, das Glück ohne eigenes Zutun. Und es ist ebenso eine absolute Absurdität, denn das 'Selbst' kann niemals gefunden, sondern muss aktiv geschaffen werden, es ist nicht der glückliche Zufall in Passivität, sondern das Produkt Tausender Handlungen, großer wie kleiner, bewusster und unbewusster und eben nicht im Rückzug von der Welt, sondern in ihrem Angesicht, im Guten wie im Schlechten, in der Arbeit und Muße eher als im Nichtstun." (Warren, Democracy and Poetry, S. 88 f., Übersetzung von mir)
Dieses selbst Erschaffen schließt keinesfalls Glück und Zufall aus, aber Glück und Zufall müssen eben in die Wege geleitet werden, sie stellen sich nicht automatisch ein. Und natürlich ist es legitim zu fragen: Wer bin ich jetzt, was macht mich aus, was interessiert mich, was erregt mich? Sich selbst zu kennen, ist etwas anderes, als zu hoffen, dass man sich selbst irgendwie findet. Oder, wie Nietzsche durchaus im Stil eines Ratgebers und Coaches schon vor 140 Jahren schrieb:
"Aber wie finden wir uns selbst wieder? Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig abziehn und wird noch nicht sagen können: »das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale«. [...] Um aber das wichtigste Verhör zu veranstalten, gibt es dies Mittel. Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaftig geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir, durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst. Vergleiche diese Gegenstände, sieh, wie einer den andern ergänzt, erweitert, überbietet, verklärt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermeßlich hoch über dir, oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst." (Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen, Chemnitz, 1874)
Nun gut, der letzte Satz wäre heute in keinem Ratgeber mehr zu finden, es muss ja heute alles in 5 Schritten zu finden sein und darf um Gottes Willen nicht "unermeßlich hoch" über mir sein und damit nur schwer zu erreichen. Aber genau das ist die Pointe: Es geht nicht darum, etwas tief in mir verborgenes zu entdecken, sondern mir die Werte und Ideale, die mir wichtig und erstrebenswert sind, zu vergegenwärtigen und mir dann dieses Selbst im Angesicht der Welt zu erarbeiten. Das Kloster oder die Meditationen und Kontemplationen können im ersten Teil durchaus helfen, aber dann erst beginnt die Erschaffung des Selbst entlang der mithilfe der Werte und Ideale aufgemachten Vertikalspannung.
Nietzsche macht deutlich, dass das wahre Ich nicht tief in unserem Innern zu finden sei, sondern sich ohnehin an der Oberfläche, in unserem Handeln zeigt. Und Robert Penn Warren zieht in Democracy and Poetry auch eine politische Parallele:
"Das Selbst ist eine Art des Seins, sich kontinuierlich ausdehnend in einem lebendigen Prozess der Definition, Affirmation, Revision und des Wachstums; ein Prozess, der – so würden wir meinen – auch das Vorbild für den Lebensprozess einer gesunden Gesellschaft ist." (Warren, Democracy and Poetry, S. 89, Übersetzung von mir)
Wir sollten uns von der passiven Hoffnung emanzipieren, dass wir nur etwas Ruhe und Rückzug brauchen, um "uns selbst zu finden". Nicht "nach innen geht der Weg", wie die Romantiker vielleicht meinten und wie wir heute immer noch hoffen, um ja nicht im Außen und in der Auseinandersetzung mit den anderen tätig werden zu müssen. Alles hat seine Zeit: Kontemplation und Rückzug, Abgrenzung von anderen, die Öffnung für die Auseinandersetzung mit der Welt und das Wirken und Handeln in ihr.
Das passt dazu:
Meines Erachtens zeigt ehrliche Meditation auf, dass es kein beständiges Selbst gibt und wir uns deswegen mit dem auseinandersetzen müssen, was wir derzeit in unserem Leben erfahren. Nietzsche hat mit seiner dekonstruktiven Selbstüberwindung auch eine Art der Meditation betrieben, die ihn schließlich zu der Erkenntnis geführt hat, dass all die Vorstellungen über ihn selbst nicht sein Selbst sind. Die Verwechslung von Meditation mit Selbstfindung ist der Kommerzialisierung und Therapeutisierung einer ursprünglich mystischen Methode geschuldet.
AntwortenLöschenZudem ist Meditation ein höchst aktiver Prozess, ich muss Anstrengung oder zumindest Bereitschaft zeigen, um mich gegenüber meiner momentanen Erfahrung zu öffnen. Handeln ist oft passiv, wenn man bedenkt, wie viele Menschen bei vielen Aktivitäten einfach nur hin- und hergetrieben sind, sie nicht bewusst ausführen oder sich selbst als nicht aktiv Gestaltende wahrnehmen. Der Gegensatz zwischen Meditation und aktivem Wirken zur Selbsterfahrung ist nur ein scheinbarer, der durch die Verkennung der Bedeutung von Meditationstechniken in der Mainstream-Selfhelp-Maschinerie aber leider verstärkt wird.
"Meines Erachtens zeigt ehrliche Meditation auf, dass es kein beständiges Selbst gibt und wir uns deswegen mit dem auseinandersetzen müssen, was wir derzeit in unserem Leben erfahren."
AntwortenLöschen"Ehrlich" ist wahrscheinlich das, was im Gegensatz zum Unehrlichen genau das aufzeigt, was gezeigt werden soll. Aber Scherz beiseite: Es gibt genügend Meditationstechniken, die aufzeigen, dass Selbst, Vishnu, Brahman, die goldene Banane etc. real sind. Diese Pseudo-Wissenschaftlichkeit, mit der vor allem westliche Fans des Buddhismus die gänzlich subjektiven Erfahrungen verbrämen, ist schade, da gerade der Buddha, auf jeden Fall in den "ehrlichen" Anekdoten, ja gerne mit einem Augenzwinkern auftritt. Das Doppeldenk mag der spirituellen Dialektik eingeschrieben sein, aber vergessen sollte man das dann doch nicht.
Meines bescheidenen Erachtens, meiner Erfahrung nach funktioniert Alltags-Spiritualität, die zuviel "Übersetzungsarbeit" braucht, nicht auf Dauer: Wer vom Alltags-Erleben zu den gewonnenen spirituellen Erkenntnissen hin und zurück abstrahieren muss, um die Brücke schlagen zu können, wird sich früher oder später eine abgespeckte Variante dessen suchen, was ihn einst so ganzheitlich fasziniert hat.
Wir stehen ziemlich am Anfang der intersubjektiven Ergründung dessen, was wir so leichthin "Bewusstsein" nennen. Aber glücklicherweise machen sich immer mehr Menschen von Titanen-Vorbildern frei, die sie und ihr ureigenstes Bewusstsein und ihre Existenz verzwergen. Glück oder eine fluktuationsfreie Existenz ist eine ziemlich relative Sache, die man sich durch das, was man in der Spiritualität gern "Begierde" nennt, auch schön verhunzen kann.
Wer aus der Ruhe seine Kraft zieht, auch in der Auseinandersetzung mit Welt und Mensch, für den funktioniert das. Formate wie "Philosophen X, Y und Z haben (schon damals) herausgefunden, dass ..." sind nur ein Autoritätsargument, da deren Konzepte und Erkenntnisse nie intersubjektiv belastbar sind, ohne sich auf (verschwiegene) Prämissen erst einlassen zu müssen und andere Überzeugungen abwerten zu müssen. Was das Ganze als psychologische Übung offenbaren würde, wenn wir Menschen heute in die transzendente Wahrheit als Universal-Gewürz nicht so vernarrt wären, dass wir sie, unter anderem als "Wissenschaft", überall reinstreuen: Alles muss szientistisch daherkommen, vom Kleinwagen bis zur Großphilosophie. Naja, ist eine Frage des Stils - vieles funktioniert auch ohne Konfrontationstherapie und Existenz als Leidenschafts-Agens in einer Welt, die solchen Energie-Systemen hauptsächlich Entropie entgegenbringen wird.
Letztendlich muss jeder selber erfahren, wohin ihn/sie mystische Praxis bringt und was sie verändert. In den Schwierigkeiten der intersubjektiven Kommunikation sehe ich aber keinen Anlass,das Feld den dogmatischen Verschleierungen zu überlassen, von denen Gurus/Coaches/Lehrer unfairerweise profitieren. Ich erlebe Spiritualität (wie Sie?) als etwas direkt erfahrbares, simples und nichts Besonderes. Über solche Erfahrungen zu sprechen, muss ja nicht zwingend den Ton der Wissenschaft übernehmen und kann im Besten Fall zum Nutzen der Beteiligten sein.
LöschenNaja, jeder hat seine Konzepte - aber dann gibt es noch die Leute, die das "Nicht-Konzept" als Konzept ausklammern wollen und allen ihre nicht-reine reine Lehre aufbürden wollen, bevorzugt über naturphilosophische oder gar naturtheologische Prämissen. Man muss solche Systeme, die nicht ohne Grund gerne im Nonverbalen sich abspielen und auch eher in der Kaffeefahrts-Psychologie beheimatete Techniken nutzen, eben intellektuell durchdringen können. Diesen kritischen Geist geben gerade junge Leute gerne an der Ashram-Garderobe ab, weil sie dem Psycho-Trick der meisten uralten spirituellen Systeme, hier irgendwas Charmantes, beinahe unanständig-Mystisches gefunden zu haben, auf den Leim gehen. Der Rest ist meist ziemlich banale Geschichte, die sich durch Copy & Paste in Wordpress und geringem Personalisierungs-Aufwand wenigstens klonen lässt, ohne selbst nach Indien reisen zu müssen.
LöschenDen Witz der Sache, dass diese Dinge nur so attraktiv sind, weil man sein Körpersystem auf subtile Art und Weise destabilisiert, wirkt für die meisten nicht erhellend. Weil: Das machen Kaffee, Discomusik und anderes ja auch. Eben. Viel Spaß damit!