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21. Mai 2017

Das regelmäßige Versagen unserer Demokratien

Tyrannei ist immer möglich

Die Zeit, da man als Verfechter von Institutionen als politisch rechts galt (wie z.B. Arnold Gehlen im Gegensatz zu T. W. Adorno), ist ein Glück vorbei. Dabei ist sowieso das Gegenteil wahr: Die Rechte zeichnet sich schon immer durch einen romantischen Impuls aus, die Institutionen zu zerstören oder, um es in den Worten Donald Trumps zu sagen: "den Sumpf trocken zu legen". Ein großer intellektueller Kritiker dieser rechten populistischen Politik heute ist der US-Historiker Timothy Snyder, den das Philosophie Magazin für seine neueste Ausgabe interviewt hat. Snyder ist bekannt für den Gedanken, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass die Institutionen (Parlamente, Universitäten, Gerichte, Polizei) uns im Angesicht der Tyrannei retten werden, vielmehr – so Snyder in Über Tyrannei: Zwanzig Lektionen für den Widerstand – müssten wir die Institutionen retten.

"Mit Tyrannei meine ich eine Situation, in der ein Einzelner oder eine Gruppe genug Macht erlangt hat, um den Rechtsstaat zu umgehen." (Snyder, Philosophie Magazin Nr. 04/2017, S. 33.)

Die Demokratien sollen eben diesen Fall ausschließen, jedoch haben sie mit "historischer Regelmäßigkeit" (ebd.) in dieser Sache immer wieder versagt. Die nahe liegende und heute wieder sehr drängende Frage ist also: Warum versagen unsere Demokratien?

Einsamkeit und Marginalisierung

Die britische Historikerin Lindsay Stonebridge, genauso wie Snyder sehr von der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt geprägt, meint im Interview von OnBeing, dass gesellschaftliche Isolation, Einsamkeit und das Gefühl, überflüssig zu sein, Totalitarismus und Tyrannei vorbereiten. Dass Totalitarismus organisierte Einsamkeit sei und dass diese Einsamkeit die gemeinschaftliche Basis für Gewalt sei, ist ein Gedanke Hannah Arendts aus ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, der auf die dunkle Seite der Institutionen verweist: Entfremdung zum Beispiel in Gestalt von Bürokratisierung und gesellschaftlicher Marginalisierung. Man könnte das auch in Zusammenhang mit dem von Hartmut Rosa entwickelten Begriff von Resonanz bringen: Wir würden immer wieder den Totalitarismus einem Leben vorziehen, in dem wir gar keine sinngebenden Bindungen und Rückmeldungen haben. Oder plastischer gesagt: Wer vereinsamt an den Rand gestellt wird, freut sich, wenn er doch irgendwo mitmarschieren darf.

In den letzten US-Präsidentschaftswahlen ist ja genau das passiert. Die vergessene und marginalisierte Arbeiterklasse (freilich nicht nur die) hat sich versammelt und jemanden gewählt, der versprochen hat, den Sumpf trocken zu legen, der angeblich oder auch tatsächlich für ihre Marginalisierung verantwortlich ist. Damit das klar ist: Die Politik hat diesen Zynismus auch verdient, nur ist die Zerstörung der Politik nicht die Lösung. Dass es dann sowieso ganz anders kommt und dass eine infantile Marionette wie Trump letztlich die Bereicherung einiger ganz weniger und die Marginalisierung der ganz vielen noch vorantreibt (siehe "Donald Trump setzt den Rotstift an - bei Bedürftigen und Behinderte"), scheint ebenso eine Regelmäßigkeit der Geschichte zu sein.

Das Denken und Erzählen kann uns retten

Wenn die in allen Gesellschaften nötige "Administration des menschlichen Lebens" (Stonebridge) in so etwas wie bürokratische Prozesshörigkeit umschlägt, wo das Einhalten des Prozesses über dem individuellen menschlichen Leben steht, dann haben Institutionen das Denken der administrierenden Menschen ausgeschaltet. Diese Menschen sagen dann, sie hätten nur Befehle ausgeführt oder die nötige Ordnung wieder hergestellt und wir kennen das sowohl aus extremen Beispielen wie den Konzentrationslagern der Nazis als auch aus heutigen Beispielen wie der Definition von "sicheren Herkunfstländern", die ganz offensichtlich alles andere als sicher sind. Unsere Verfassung hat unter anderem gegen diese Prozesshörigkeit zwar die Unantastbarkeit der Würde des Menschen in Stellung gebracht, aber das ist eine Formel, die wir vehement und kontinuierlich davor schützen müssen, zur bloßen Floskel zu verkommen. Snyder setzt genau hier an, wenn er meint, wir müssten die Institutionen retten:

"Wenn ich sage, wir müssen unsere Institutionen schützen, dann denke ich dabei zunächst an das System der checks and balances, das die amerikanische Verfassung garantiert. Zweitens denke ich an gesellschaftliche Funktionsträger wie Juristen, Ärzte und Polizisten, deren professionelles Ethos auch eine institutionalisierte Größe ist. Es ist entscheidend, dass sie dieses Ethos bewahren und nicht willfährig irgendwelche Befehle ausführen." (Ebd.)

Das heißt also, dass wir, die wir in den Institutionen leben und arbeiten, uns nicht das Denken von irgendwelchen Prozessen (und Prozessoren) abnehmen lassen dürfen. Wer nicht denkt, kann keine ethische Position einnehmen. Insofern ist Denken eine Voraussetzung für ein moralisches Fühlen. Dieses moralische Verhalten und Entscheiden, das Verhalten von uns Bürgern ist das, was Snyder zufolge den Ausschlag geben wird. Das ist noch ein bisschen abstrakt, denn was nun soll man wirklich tun? Außerdem kann man einwenden, dass wir heute sehen, wie wenig viele Menschen dazu in der Lage sind, in so einer Art und Weise zu denken und damit moralische Entscheidungen zu treffen. Vielen fehlen schlicht die Voraussetzungen dazu, sei es weil sie selbst zu prekär leben müssen, sei es weil ihnen die Grundlagen der Bildung und Erziehung vorenthalten wurden oder weil sie aus gewaltsamen Verhältnissen kommen, deren Botschaft ist, dass alles ein Kampf gegen die anderen sei.

Stonebridge führt mit Arendt die Erkenntnis ins Feld, dass wir nicht davon ausgehen können, dass allein Denken, Wahrheit und Fakten irgendwen von irgend etwas überzeugen würden:

Und man kann den Leuten noch so viele Fakten entgegen schleudern, wie es viele Kollegen, Universitäten und Journalisten unablässig tun. Es wird nichts ausrichten. Ich denke, was [Arendt] meint [...] ist, dass Wahrheit zwischen Menschen passieren muss, um sie für die Welt sinnvoll zu machen.
[...]
Was wir brauchen, ist eine Kultur der Künste und des Geistes. Was wir brauchen ist mehr Erzählung, mehr Gespräch. Was wir brauchen, ist mehr Vorstellungskraft. Wir brauchen mehr Kreativität in diesem Sinne und ein Verständnis davon, was diese Worte und Erzählungen mit uns jeweils zu tun haben. (Stonebridge, Thinking and Friendship in Dark Times: Hannah Arendt for Now)

Es hilft ebenfalls nicht, so Stonebridge, die schwierigen Realitäten zu verschweigen und in humanistischen Utopien zu schwelgen. Vielmehr komme es darauf an, Schwierigkeiten und Gegensätze anzuerkennen und trotzdem das Richtige zu tun. Vielleicht war das ein Fehler der optimistischen Linken, wenn sie von urbanen Multi-Kulti-Schmelztiegeln träumten. Das mag hier und da für ein paar Jahre klappen, die Realität ist aber, dass das Zusammenleben verschiedener Kulturen auf begrenztem Raum sehr anstrengend sein kann und seine Grenzen hat. Aber deswegen kann man nicht die Tür zuschlagen und sich abschotten, denn das führt zurück in die Barbarei.

Das Denken, das miteinander Reden, das Erzählen – all das benötigt Institutionen, Bildungseinrichtungen zum Beispiel. Und es braucht integere Menschen in diesen Institutionen, Menschen, die moralische Entscheidungen treffen und sich selbst nicht das Denken abnehmen lassen. Das können Leute wie der aufgrund seiner Courage gefeuerte FBI-Chef Comey sein oder eine Kanzlerin, die trotz erwartbarer Schwierigkeiten eine menschliche Entscheidung trifft und natürlich sind es Leute wie du und ich, die dort wo sie arbeiten, leben und lieben Integrität zeigen und moralisch anspruchsvoll handeln.



Das passt dazu:

6 Kommentare:

  1. Gern gelesen!
    Ein Appell.
    "Was wir brauchen, ist eine Kultur der Künste und des Geistes."
    Ich denke, das war auch eine Position von Beuys.
    Wir brauchen KREATIVITÄT. Aktives, intelligentes Handeln. Verantwortung.
    Und...Denken, wie Du auch zitiert hattest.
    Gerhard

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    1. Dem kann ich nur zustimmen. Es tut gut diesen Artikel zu lesen. Leider erlebe ich viel zu oft, dass sich Menschen das Denken abnehmen lassen (wollen), um selbst nicht einmalfür ihr eigenes Leben verantwortlich zu sein. Für die Zukunft hoffe ich, dass aber die denkenden Menschen mehr werden. Angelika

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  2. Vielleicht muss neben den Prozessen auch das "Betriebssystem" der Demokratie weiterentwickelt werden? Zum Beispiel, indem die Menschen alle wichtigen politischen Entscheidungen im Rahmen von Abstimmungen selbst treffen - statt nur ihre Entscheidungsstellvertreter zu wählen?

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    1. Ja, direkte Demokratie... setzt voraus, dass die Mehrheit sich nicht wie ein Mob aufführt, der anderen (Frauen, Ausländern, Behinderten) an den Kragen möchten.

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  3. Dazu ein Auszug aus Chaplin's Der Große Diktator....Die Gier hat die Seelen der Menschen vergiftet – sie hat die Welt mit einer Mauer aus Hass umgeben – hat uns im Stechschritt in Elend und Blutvergießen marschieren lassen. Wir haben die Möglichkeit entwickelt, uns mit hoher Geschwindigkeit fortzubewegen, doch innerlich sind wir stehen geblieben. Die Maschinen arbeiten nicht nur für uns, sie denken auch für uns. Unser Wissen hat uns zynisch, die Schärfe unseres Verstandes hat uns kalt und lieblos gemacht. Wir denken zuviel und fühlen zu wenig...

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    1. Sehr schön (bis auf die Entgegensetzung von Fühlen und Denken, die philosophisch nicht haltbar ist und auch nichts bringen, wie wir im Wutbürger sehen)!

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