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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

23. Dezember 2016

Warum brauchen wir in einer aufgeklärten Welt Feiertage?

Ein kleiner Gedanke zu Weihnachten

Alle Religionen haben ihre Feiertage, an denen heiligen Personen, natürlichen Erscheinungen und Zyklen gedacht oder etwa für eine reiche Ernte gedankt wurde. Heute handelt es sich für viele nur noch um arbeitsfreie Tage mit einem verkaufsoffenen Sonntag davor. Wozu brauchen wir diese Momente des Gedenkens heute noch, wenn im Supermarkt immer Ernte ist, wenn wir vielleicht an keine Heiligen mehr glauben und meinen, für unseren Erfolg auf Wunder verzichten zu können?

Wem oder was gedenken wir heute, wenn alles nur Physik ist? (Navicore, CC BY 3.0)

19. Dezember 2016

Im Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit

Die Suche im Durchschnittlichen, im Alltag, auf der Oberfläche

Der Sinn des Lebens? Haben wir längst als eine naive Floskel erkannt! Und doch oder gerade deshalb finden wir uns heute in einer Zeit, wo die Sinnsuche wieder ganz hoch im Kurs steht. Wobei ich ja immer wieder gern darauf hinweise, dass ich die Suche nach Sinn für aussichtslos halte. Wer es ernst meint, muss Sinn schaffen und dafür gibt es einige naheliegende Möglichkeiten. Dazu später mehr.

Wir alle haben heroische und eher pragmatische oder auch melancholische Seiten in uns und so ist es auch in der Philosophie. Es gibt eine heroische Tradition, die das Oberflächliche, den Alltag und das Durchschnittliche des Menschseins nicht erträgt. Ihre melancholischen Gegenspieler sagen aber, dass gerade in diesem Ertragen und trotzdem Weitermachen die eigentliche Leistung des Menschseins läge. Die pragmatischen Gegenspieler der heroischen Philosophie finden hingegen, dass die Oberfläche ohnehin der einzige Ort sei, an dem wir leben können. Das Wühlen in den metaphysischen Tiefen halte uns nur davon ab, ein wenn auch nicht immer erfülltes, so doch wenigstens erträgliches Leben zu führen. Das ist in etwa die Bandbreite der Philosophie zwischen Heroin und Vitamingetränk.

Leerer Raum? Was gibt's denn da draußen noch, außer der Physik? (Flammarion Holzstich, 1888)

12. Dezember 2016

Das Unbehagen in der Kultur

Entfremdung, Freiheit und Idealismus bei Sigmund Freud

Wer fühlt sich schon wohl und behaglich in der Gesellschaft? Die meisten von uns müssen sich täglich mit Leuten umgeben, von denen sie einen beträchtlichen Prozentsatz für Idioten halten. Wir dürfen nicht tun und lassen, was wir wollen, wir werden gegängelt vom Kindergarten bis ins Hospiz. Unsere innersten Leidenschaften und Wünsche spielen für diese Welt keine Rolle. Schon immer haben die Menschen darunter gelitten und nur die wenigsten gehen so konsequent wie der Marquis de Sade dagegen vor.

Sigmund Freud 1921 (Fotografie von Max Halberstadt)

Dieses Unbehagen zu verstehen, ist ein Fokus im Denken des 20. Jahrhunderts. Einer der Grundbegriffe moderner Philosophie, wo sie uns als Menschen in solch einem unbehaglichen Weltverhältnis beschreibt, ist der Begriff Entfremdung. Arnold Gehlen, einer der in dieser Hinsicht originellsten Denker des 20. Jahrhunderts, sagt, es handle sich um eine "echte Kategorie, die für die Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit [...] unentbehrlich ist" [Gehlen 1983, S. 366]. Was jetzt folgt, ist ein längerer Artikel, der jenen zu empfehlen ist, die Spaß an philosophischen, psychologischen und soziologischen Begriffsfindungen haben. Zu diesem Zweck scheint es mir sinnvoll, mindestens drei große Begriffskomplexe rund um Entfremdung zu unterscheiden, die auf verschiedene Weisen verknüpft sind:

9. Dezember 2016

Am Anfang war das Wort

Die Bibel – zur Sonderausgabe des Philosophie Magazins

Die abendländische Philosophie, so Susan Neiman, bei der ich in Berlin ein Semester zu Moral und Literatur studiert habe, sei ohne die Bibel nicht zu denken. In unserer Geschichte sei Philosophie die längste Zeit eng an Theologie gekoppelt gewesen und viele der philosophischen Grundfragen kämen aus der Bibel, wie z.B. die nach dem Bösen, nach dem Guten, die nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft oder ob Gehorsam vor der eigenen Moral kommt oder umgekehrt. Das Philosophie Magazin stellt mit seiner aktuellen Sonderausgabe die Frage, ob die Bibel auch für die heutige Philosophie noch relevant sei.

"Ja, unbedingt! Nicht zuletzt deshalb, weil es doch auch darum gehen muss, den Graben zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen zu überwinden. Wir können, gerade angesichts der Entwicklungen der letzten 25 Jahre, nicht mehr davon ausgehen, dass Religionen einfach aussterben, dass sie im besten Fall unvernünftig, im schlimmsten Fall gefährlich sind … Ein in dieser Weise radikal säkulares Denken ist nicht klug. Da ist etwas, das wird auf absehbare Zeit Teil unserer Kultur bleiben, und damit müssen wir uns auseinandersetzen." (Susan Neiman, Philosophie Magazin, Sonderausgabe 07, S. 7)


Sonderausgabe 07 des Philosophie Magazins

3. Dezember 2016

Freiheit und Naturzustand

Die paradoxen Effekte gesellschaftlicher Institutionen

"So werden wenigstens die Menschen von ihren eigenen Schöpfungen
verbrannt und konsumiert und nicht von der rohen Natur, wie Tiere.
Die Institutionen sind die großen bewahrenden und verzehrenden, uns
weit überdauernden Ordnungen und Verhängnisse, in die die Menschen
sich sehenden Auges hineinbegeben, mit einer für den, der wagt, vielleicht
höheren Art von Freiheit als der, die in ›Selbstbetätigung‹ bestünde."
(Arnold Gehlen, Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung)

Warum erleben wir uns so oft als unfrei? Wenn wir an Freiheit denken, dann sind wir intuitiv geneigt zu meinen, Freiheit sei Freiheit von Zwängen: Frei bin ich, wenn ich tun und lassen kann, was ich will und die ultimative Freiheit zeigt sich vielleicht in so einer Art Naturzustand, wo es keine Regeln und Vorschriften, keine Bürokratie und Polizei, ja vielleicht sogar nicht einmal Menschen gibt. Ich will hier zeigen, warum das ein Missverständnis ist und dass es sich vielmehr genau anders herum verhält. Und ich meine, dass wir mit aufgeklärterem Verständnis vielleicht auch einen besseren Zugang zu den Schwierigkeiten im politischen und gesellschaftlichen Zusammenleben finden können.

Wo gibt es Freiheit? Vielleicht in einem Naturzustand?  (A.Ostrovsky: Kangchenjunga, Himalayas)

26. November 2016

Familie – der letzte Schutzraum des Individuums

Das Philosophie Magazin fragt: Zuflucht oder Zumutung?

Cover Philosophie Magazin
Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017
Familie? Ich würde mal sagen, ich habe Glück gehabt. Denn niemand kann sich die Umstände aussuchen, in die er geboren wird. Ich habe noch sehr deutliche Erinnerungen an das immer wiederkehrende und furchtbare Gefühl des Verlorenseins, als ich als Kind den Institutionen übergeben wurde. Egal ob Kindergarten, Schule, Ferien- oder Trainingslager – ich wäre lieber im Schoße der Kleinfamilie geblieben. Ich schrieb verzweifelte Briefe voller Heimweh aus den Ferienlagern an meine Eltern. Ich bat sie dringend, mich abzuholen und wenn irgendwo in der Nähe ein Hubschrauber vorbei flog, gab ich mich der Fantasie hin, dass er im Hof landen würde und meine Mutter ausstiege, um mich abzuholen. Ich weinte bitterlich. Familie war für mich immer Zuflucht, immer Geborgenheit und Schutz vor dem Chaos da draußen. Jetzt, da ich selber eine Familie "gegründet" habe, kommen diese Gefühle manchmal zurück und ich würde lieber gern bei Frau und Kind bleiben, anstatt raus zu gehen und mich dem Kampf um den Radweg oder den Parkplatz, dem Wettbewerb um Anerkennung und der Willkür im Verhalten anderer Menschen auszusetzen. Aber natürlich kommt die Sehnsucht danach erst daher, dass es kein Dauerzustand ist. Wäre es einer, dann würde ich die Differenz vermissen und die Geborgenheit nicht fühlen.

19. November 2016

Wie gefährlich sind Trump und Konsorten?

Was ist Faschismus und ist er heute wieder möglich?

Ich wuchs in den 70er und 80er Jahren in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR auf. Es verging kein Tag, an dem wir nicht irgendwie in der Schule oder durch die Medien vom Kampf des Kommunismus gegen den Faschismus hörten. In den 90ern hatten wir dann in Berlin, nun die Hauptstadt des vereinigten Deutschlands, die sogenannten Faschos: gewalttätige Dummköpfe mit Glatzen und Baseballschlägern. Faschismus war für mich immer ein Wort des Verbrechens, der Grausamkeit und vor allem der Unmöglichkeit. Ausgeschlossen, dass der Faschismus in der Gegenwart oder Zukunft irgendwie gesellschaftlich wieder relevant werden könnte. Nun hat Jakob Augstein in einer Kolumne auf Spiegel.de im Zusammenhang mit Trump die Rückkehr des Faschismus in die Politik ausgerufen. Mein erster Gedanke und der von Freunden war: Trump ein Faschist? Das ist dann wohl doch etwas weit hergeholt.

Ein Präsident Trump ist nicht normal (Poster von Act now to stop war and racism, San Francisco)

18. November 2016

Die Bandbreite des Lebens wiederentdecken

Die wertvolle Nutzlosigkeit von Kunst und Literatur

Kunst kann uns stimmen.
Stellen Sie sich eine verstimmte Geige vor!
Sie zu stimmen, dass sie wieder in Harmonie ist,
das ist, was Kunst kann. (Michael Longley)

Unsere Leben sind oft hektisch und zerstreut, geprägt von profanen Sorgen um Arbeit, Beziehungen, Politik und das, was in der Zeitung steht. Nicht selten sind es aufgebauschte Kleinigkeiten, die uns sehr groß und bedrohlich erscheinen. Man könnte sagen, dass diese Form des Seins uns nur sehr einseitig fordert und uns und unsere Wahrnehmung damit zu verengen und zu verzerren droht. Das Leben ist doch größer als die immer währenden Besorgungen des Alltags. Da stimmen wir sicher alle zu. Und trotz dieses Wissens geht die Größe des Lebens oft verloren, sie entzieht sich immer mehr, wird unsichtbar und damit irgendwann auch unerreichbar. Was können wir tun, um uns die ganze Bandbreite des Lebens offen zu halten?

12. November 2016

Was ist Künstliche Intelligenz und was heißt das für uns?

Wenn Utopie und Dystopie in der Technik zusammenkommen

Künstliche Intelligenz, Machine Learning und Robotik werden die meisten von uns arbeitslos machen und den Rest von uns in extreme Gering- und extreme Hochverdiener spalten.

Nein, das ist nur die vierte Stufe einer industriellen Revolution, von der wir alle in ungeahntem Ausmaß profitieren werden.

Das waren in etwa die zu erwartenden Positionen auf der Littler Konferenz in Berlin letzte Woche zur Frage, welche Herausforderungen Künstliche Intelligenz, Machine Learning und Robotik an unsere Gesellschafts- und speziell die Arbeitsorganisation und Legislative stellen. Wer hat nun Recht, der Pessimist mit seinem Szenario von Arbeitslosigkeit und weiterer gesellschaftlicher Spaltung oder der Fortschrittsoptimist? Nun, die Antwort lautet wie immer: Es kommt darauf an. 

Ganz so harmlos wird die Zukunft wohl nicht aussehen

8. November 2016

Das Zeichen wahrer Liebe

Was wir von unserer Liebe zu Kindern lernen können

Es ist wundervoll, in einer Welt zu leben,
in der so viele Menschen nett zu Kindern sind.
Es wäre sogar noch schöner, wenn wir in einer Welt lebten,
in der wir gegenseitig etwas netter zu den kindischen Seiten
in uns wären. (Alain de Botton, The Course of Love*, S. 120)

Unlängst schrieb ich verwundert über die Liebe, die wir Erwachsene gegenüber Kindern aufbringen. Ich machte mir Gedanken, wo die Liebe herkam und mutmaßte, dass es etwas mit der kindlichen Unschuld, der Sorglosigkeit und dem Spielerischen des kindlichen Verhaltens zu tun haben müsste. Und nun las ich all das so schön zu Ende gedacht und auf den Punkt gebracht in zwei Sätzen von Alain de Botton:

"Gesellschaften werden für die Qualitäten empfindlich, die ihnen fehlen. Eine Welt, die einen hohen Grad an Selbstkontrolle, Zynismus und Vernunft verlangt und die sich durch extreme Unsicherheit und Konkurrenzdenken auszeichnet, erkennt in der Kindheit die fehlenden Tugenden – Qualitäten, die sehr strikt und definitiv aufgegeben werden mussten, um Zutritt zur Erwachsenenwelt zu erlangen." (Alain de Botton, S. 117)

Wir lieben also in den Kindern das, was wir wohl irgendwie verloren oder abgegeben haben und nach dem wir uns zurücksehnen. Wir verzeihen unseren Kindern darüber hinaus auch jeglichen Blödsinn, jede Unvernünftgkeit und Ungerechtigkeit, die sie mit der Regelmäßigkeit und Naturgesetzlichkeit von Ebbe und Flut über uns kommen lassen. Das Unreife in den Kindern, das wir "durch die Linse unserer erwachsenen Erfahrungen sehen", erscheint uns als besonders liebenswert. Wenn wir jedoch Zeugen eines unreifen Verhaltens von Erwachsenen werden, erscheint uns das als besonders unangebracht.

30. Oktober 2016

Postwachstum: Müssen wir uns gesundschrumpfen?

"Degrowth" statt "Wachs oder stirb!"

Die Ausbreitung des Ökologischen Imperativs über die letzten 30 Jahre kann sich den kapitalistischen Entfremdungsdynamiken nicht entziehen. Wie alles gut gemeinte, kann das populäre Ökobewusstsein unter dem Strich nicht mit ausschließlich gewünschten Ergebnissen, also etwa gesunkenem Ressourcenverbrauch oder mehr Natur punkten: Windparks statt Wälder, SUVs statt Käfer und Billig-Bio im Discounter. Zugrunde liegt auch ein Prinzip, nachdem uns effizientere Technologien nicht zum Sparen bringen, sondern dazu, mehr davon zu nutzen und damit zum selben oder zu einem größeren Ressourcenverbrauch zu kommen.

Was hat die Schnecke dem Menschen voraus? Sie kennt keinen Konsumstress zum Beispiel.

Es ist so ähnlich, wie wir auch nicht mehr Freizeit dadurch bekommen, dass wir die Dinge nun schneller erledigen können, denn wir machen dann eben einfach mehr und kommen so unter Zeitdruck. Und wie ökologisch (un-) verträglich die Fertigung und Entsorgung all der Akkus für unsere Elektroautos sein wird, die nun bald den Verbrennungsmotor ersetzen sollen, wird sich noch zeigen. Der Post-Wachstums-Blues macht sich breit.

21. Oktober 2016

Der allwissender Gott – Reloaded

Technische Trenszendenz und Weltgewissen

Ich mag den neuen Peter Sloterdijk, der sich in seiner Essay-Sammlung Was geschah im 20. Jahrhundert? als Konservativer im ökologischen Sinne outet. In einigen Essays des Buches äußert er sich mahnend dazu, was es für uns Menschen heißt, ein ganzes geologisches Erdzeitalter als Anthropozän zu prägen oder wie kurzfristig unser Leben der Verschwendung und jenseits jeder Normalität sein dürfte.

Sputnik 1: "Dawn of the Space Age" (Gregory R Todd CC BY-SA 3.0)

Im Essay "Starke Beobachtung: Für eine Philosophie der Raumstation" (kann auch in der NZZ nachgelesen werden) bringt Sloterdijk eine unerwartete Parallele ins Spiel – die von Technik und Gott, oder genauer gesagt von Satellitentechnik und einem allwissenden, alles sehenden und am Ende jeden richtenden Gott. Sloterdijk geht darin über die bisherige Technikphilosophie hinaus, die Technik immer als Prothesen und Erweiterungen der menschlichen Sinne und Aktionsradien beschreibt. Zum einen ist die Raumstation keine bloße Erweiterung menschlicher Fähigkeiten oder ein Vordringen in neue Räume, sondern ein wirklich neues Erschaffen von "Weltraum", in dem sich der Mensch aufhalten kann: "Die Einpflanzung einer Welt in ein vormaliges Nichts" (Sloterdijk, S. 179). Zum anderen ist es die erste wirklich gottgleiche Perspektive, die hier von Menschen erschaffen wird. Während sich die verschiedenen Religionen noch streiten und im Kern erodieren (Wer fühlt sich heute schon in seinem sündhaften Treiben von oben beobachtet?), "hat die Astronautik bereits eine pragmatische Form von gemeinsamer Transzendenz hervorgebracht, die alle [...] in gleichem Abstand umkreist und gleichmäßig überblickt."

18. Oktober 2016

Die unerwartete Leichtigkeit, Eltern zu sein

Ich bin erst spät Vater geworden, das hat viele Vorteile, unter anderen den, dass ich nicht das Gefühl habe, viel verpasst zu haben. Viele Eltern (laut YouGov etwa 20%) bereuen später, Kinder gezeugt zu haben, weil sie z.B. unter dem Eindruck sind, ihre persönlichen Entfaltungs- und Karrieremöglichkeiten hätten gelitten. Dazu will ich nicht zählen. Verschiedene Partnerschaften, um die Häuser ziehen, Reisen, lange studieren, an anderen Orten leben, verschiedene Arbeiten ausprobieren und sonst auch Dummheiten machen und unvernünftige Risiken eingehen... all das möchte ich als Vertreter der in die Länge gezogenen Jugend nicht missen. Und lange dachte ich, ich möchte auch nicht unbedingt Vater werden und all die Einschränkungen der Freiheit hinnehmen, die diese Rolle zwangsläufig mit sich bringt. Es ist ein anderes Leben.

Faszination Baby: Plötzlich ein Star (Elvis Presley und Priscilla mit Lisa Marie, Februar 1968)

Nun waren wir gerade zu Besuch bei meinen Schwiegereltern in Frankreich, der erste lange Road Trip mit dem drei Monate alten M. Natürlich ist so eine Reise auf viele Arten anders und auch anstrengender, als wenn man zu zweit oder gar allein unterwegs ist. Pausen sind häufiger und drehen sich um den Kleinen und seine elementaren Bedürfnisse. Wir hören beim Fahren nicht mehr laute Rockmusik oder Hip Hop, sondern entweder nur den Motor oder leicht verträgliches Gedudel. Ich könnte viele Dinge aufzählen, die anders und auch anstrengender sind und die ich auch erwartet hatte. Ich möchte aber auf eine Sache eingehen, die ich gar nicht erwartet hatte: Ein Element der Leichtigkeit, seit dem ich Vater geworden bin.

14. Oktober 2016

Fakten helfen nicht gegen Populismus, was dann?

Es hilft nur eins: Stimmung machen!

Hilflos sagen deutsche Politiker nach der Konfrontation mit dem Mob in Dresden: "Die wollen sich ja gar nicht argumentativ mit uns auseinandersetzen!" Und fassungslos schaut die Mehrheit der Amerikaner und Europäer auf Trump und fragt: "Warum folgt dem überhaupt jemand, wo er doch aus seiner Charakterlosigkeit, seinen niederen Beweggründen und seiner Unehrlichkeit keinen Hehl macht?" Wir Vernünftigen haben das alles komplett missverstanden. Es geht nicht um Argumente oder Ehrlichkeit! Es geht um Stimmung und das müssen wir endlich verstehen und vor allem ernst nehmen, wenn wir nicht gegen die Populisten und Wahnsinnigen verlieren möchten.

Männer wie Donald Trump und Organisationen wie die AFD bieten ein Ventil für all die, die sich nicht mit einer Kultur identifizieren können, die auf Gleichberechtigung, Toleranz und Anstand besteht. Endlich, so empfinden viele Anhänger solcher Populisten, sagt mal jemand öffentlich, was sich andere nicht trauten. Zu sehr scheinen sich zu viele Menschen von der herrschenden "Political Corectness" bevormundet zu fühlen.

Trump in Stimmung (Karikatur von DonkeyHotey, CC BY-SA 2.0)

7. Oktober 2016

Warum die Liebe nicht gelingt

Die neue Wertschätzung des Bauchgefühls ist
das Erbe einer kollektiven traumatisierten Reaktion
gegen zu viele Jahrhunderte unvernünftiger Vernunft.
(Alain de Botton, S. 37)

Wie ich neulich schon auf dem Blog der School of Life schrieb, war ich bei einem Vortrag des Gründers der School of Life Alain de Botton. In dem Vortrag ging es darum, wie schädlich die romantische Idee der Liebe für unsere Beziehungen sein kann. Warum?

"Nun, weil die mit diesen Ideen einhergehenden Ansprüche und Erwartungshaltungen kaum zu befriedigen sind und daher für so viele Missverständnisse, den ganzen Frust und die enorme Enttäuschung verantwortlich sind, die nun beinahe jedes einmal so romantisch verliebte Pärchen früher oder später einholen und oft zugrunde richten." (G. Dietrich, Alain de Botton spricht über die romantische Liebe)

Inzwischen lese ich Alain de Bottons neues Buch Der Lauf der Liebe. Es hat die Genrebezeichnung "Roman" und es hat auch romanhafte Elemente, nämlich eine fiktive Geschichte zwischen den zwei erst verliebten und dann verheirateten Kirsten und Rabih. Allerdings hat es auch etwas von einem Lehrbuch, denn die Geschichte wird von meistens kurzen und immer kursiv gedruckten Absätzen mit historischen, psychologischen und philosophischen Einlassungen, Abhandlungen oder Aphorismen unterbrochen. Das ist sicher erst einmal gewöhnungsbedürftig, trägt aber dann erheblich zum Lesespaß bei.

Wenn de Botton im Zitat oben sagt, dass die neue Wertschätzung des Bauchgefühls das Erbe einer kollektiven traumatisierten Reaktion gegen zu viele Jahrhunderte unvernünftiger Vernunft sei, so ist das nicht nur ein cleveres Bonmot, das auch wie die Faust aufs Auge unserer postfaktischen Politik passt, sondern es beschreibt ziemlich genau, warum die Liebe mit dem 19 Jahrhundert plötzlich von der typischen Vernunftehe zu einer romantischen Raserei geworden ist, deren Luftschlösser allenthalben für irdische Enttäuschung sorgen. De Botton schreibt:

25. September 2016

Wann wird die Herrschaft des Volkes gefährlich?

Zur Philosophie-Zeitung HOHE LUFT mit dem Schwerpunkt Demokratie

Cover der aktuellen Ausgabe (5/2016)
Für alle, die Lust am Lesen und Denken haben, das ist das Motto des Magazins HOHE LUFT. Das Magazin betrachtet aktuelle und bewegende Themen aus Gesellschaft und Kultur, Politik und Wirtschaft aus einem philosophischen Blickwinkel. Genau das Richtige in einer Gesellschaft, die immer weiter in etwas abdriftet, das durch ein Wort der deutschen Kanzlerin nun als "postfaktisch" in den Duden kommen wird. Philosophie ist ein potentes Mittel gegen ein Verschwinden der Gesellschaft in bloßer Stimmung.

In der neuesten Ausgabe ist es beispielsweise der Schwerpunkt "Demokratie" mit solchen Fragen wie: Wie können wir Demokratie heute praktizieren, wenn sie von Populisten unterwandert wird? Eine in der Tat aktuelle Frage in einer Zeit, in der Demagogen wie Marine Le Pen, Donald Trump, Boris Johnson und bei uns in Deutschland die professionell noch leicht unterentwickelten von Storch, Petry oder auch die oft unbedarft provinziell daher kommenden, aber nicht minder gefährlichen Seehofer und Söder behaupten, für das Volk und mithin die Demokratie zu sprechen.

16. September 2016

Wer hat Angst vor Cookies?

Wie viel Sorgen müssen wir uns um unsere Privatsphäre machen?

Das gerade erschienene Philosophie Magazin trägt den Titel "Wie berechenbar sind wir?" und hebt damit auf eine Angst ab, die sich inzwischen in den Mainstream reingefressen hat. Dabei haben es der Redaktion besonders die sogenannten Cookies unserer Internet-Browser angetan. Und es stimmt schon, dass es die Cookies sind, die bestimmte Aktionen unseres Surf-Verhalten aufzeichnen und diese Informationen zur Verwendung durch den Website-Anbieter bereit halten. Dadurch müssen wir uns z.B. nicht immer wieder neu anmelden, wenn wir eine Seite wie Amazon wiederholt besuchen und können dort andere personalisierte Services wie virtuelle Warenkörbe und flüssige Navigation sogar nach einem Verbindungsabbruch nutzen.

Eine gespenstische Herrschaft der Cookies?

Chefredakteur Wolfram Eilenberger sieht gar Gott im Cookie wieder auferstehen und auch Maurizio Ferraris, ein Vertreter des neuen Realismus, sieht eine gespenstische Herrschaft durch die Cookies.

29. August 2016

Die Vermessung des Angestellten

Welche Daten zukünftig über uns erhoben werden

Secrets are Lies
Sharing is Caring
Privacy is Theft
The Circle

Mein berufliches Spezialgebiet ist derzeit, was man auf Business-Deutsch People Analytics nennt. Einige von euch kennen noch den Vorgänger aus der BWL, Fachrichtung Personalwesen, als "Kennzahlen-Reporting" oder so. Geschäftsführer wollten damals wissen, wie viele Leute eigentlich im Betrieb arbeiten (es gibt immer noch Unternehmen, die das nicht wissen), wie viele im letzten Monat krank waren und was der ganze Spaß gekostet hat.


Big Data als Fetisch in HR, hier Visualisierung einer Netzwerkanalyse (Wikipedia)

Heute ist das oft schon ein bisschen weiter. Die am weitesten verbreitete Frage der People Analytics ist heute die nach der sogenannten Attrition. Das ist ein Begriff aus dem Militär und bedeutet so viel wie Abrieb, Verschleiß – Schwund also. Bei den sich sorgenden Arbeitgebern ist das der Teil der Mitarbeiter, die das Unternehmen auf eigenen Wunsch verlassen. Unter uns Personalern ist das so ein typischer Fetisch: Sag mir deine Attritionrate und ich sage dir, was für ein Arbeitgeber du bist. Dahinter steht die Annahme, dass Arbeitgeber mit guten Bedingungen, interessanten Aufgaben, einer transparenten Geschäftsführung und angemessenen Vergütung relativ geringen Schwund haben.

16. August 2016

Post Fact World: Hauptsache es fühlt sich wahr an

Genug mit der Wahrheit, jetzt werden Fakten geschaffen!

Das Volk in diesem Land hat genug von Experten.
Michael Gove, britischer Ex-Bildungsminister

Der Skandal ist nicht so sehr die Tatsache, dass Politiker lügen oder einfach Geschichten erfinden (das haben einige schon immer getan), der Skandal ist, dass es uns plötzlich egal zu sein scheint, dass sie das tun. Sie bekommen auch dann – nein: gerade dann – Zulauf, wenn jede vierte ihrer Aussagen falsch oder überwiegend falsch ist, wie bei Frauke Petry, die dicht gefolgt von Markus Söder die Hitparade der Falschaussagen bei Faktenzoom.de anführt. Wieso eigentlich?

Mit einem kann es nicht mal Petry aufnehmen: Fakten-Checks in den USA bescheinigen Donald Trump eine Falschaussagenquote von mehr als 70% (siehe z.B. politifact.com). Leute wie Söder, Petry oder Trump nennt man wohl (mindestens) "Populisten". Übrigens, um philosophisch korrekt zu bleiben, will ich zu Bedenken geben, dass Falschaussagen nicht unbedingt Lügen sein müssen, es könnten Irrtümer sein oder Halbwahrheiten mit gezieltem Weglassen von wichtigen Fakten oder eben auch dreiste Lügen. Am Ende ist ein notorischer Lügner in der Politik genauso haarsträubend wie jemand, der dermaßen dumm ist, dass er oder sie sich ständig irrt. Bei so einer hohen Quote, wie sie Trump vorlegt, kann eigentlich nur beides zusammenkommen.

Hitparade der Falschaussagenden (Screenshot von Faktenzoom.de, 15.08.2016)

Populismus – Verachtung des Verstandes

He got the facts wrong but the story right
House of Cards, S4

Eine interessante Frage wäre, warum gerade die am meisten Mist erzählen, die im Rundumschlag immer allen anderen vorwerfen, sie würden lügen oder "das System" manipulieren. Noch interessanter finde ich aber die Frage, warum diese notorischen Populisten solch einen Zulauf bekommen. Sicher kommt es irgendwie als rebellisch rüber, wenn Populisten systematisch behaupten, sie würden jetzt gegen das Establishment vorgehen (jedenfalls bis sie sich dann selbst z.B. im Europaparlament die Ärsche plattsitzen). Übrigens ist die Ablehnung von Establishment, der Anti-Intellektualismus und das Preisen des Völkischen gegen das Elitäre eine PR-Masche, die schon Hitler "erfolgreich" gemacht hat.

12. August 2016

Donald Trump ist ein Politroboter aus der Zukunft

Die Künstliche Intelligenz hat noch ein paar Bugs

Es ist oft beobachtet worden, dass Donald Trump kein Politiker (im herkömmlichen Sinne) ist, etwa mit Überzeugungen, Werten oder einer Agenda. Vielmehr erstaunt er alle Beobachter dadurch, wie er innerhalb von wenigen Minuten eine Sache und ihr Gegenteil behaupten kann und wie er es schafft, selbst Verbündete zu erbitterten Gegnern zu machen. Das liegt vor allem daran, dass seine Agenda keine andere ist, als Aufmerksamkeit zu erzeugen und zu erhalten. Aber damit gibt es ein Problem...


Trump mag zwar keine Überzeugungen und Werte haben, aber er hat eine binäre Methode. Cathy O'Neil (aka Mathbabe) hat gezeigt, dass hinter Trump ein ganz einfacher, aber fehlerhafter Algorithmus stecken könnte. Cory Doctorow von Boingboing erklärt die Technik so:

6. August 2016

10 Dinge, die ich in der Elternzeit gelernt habe

Elternzeit für Väter ist ein Muss, aber nicht ganz ungefährlich...

Als mein Sohn M. geboren wurde, entschloss ich mich, einen Monat zusammen mit ihm und seiner Mutter zu Hause zu bleiben und dann zwei Monate nur 50% zu arbeiten. Im ersten Monat war ich nicht einen Tag arbeiten, habe keine E-Mails gelesen oder geschrieben und habe meinem Team nur einen kurzen Überraschungsbesuch abgestattet. Diese Zeit zu Hause war schön und anstrengend und auch nötig. Hier sind 10 Dinge, die ich in der Elternzeit gelernt habe. Durch die ersten 8 Punkte habe ich mich persönlich sehr weiter entwickelt und die Punkte 9. und 10. muss man wirklich berücksichtigen, wenn man Elternzeit und Karriere vereinen möchte. Auch Firmen können aus solchen Erfahrungen lernen...


2. August 2016

Mein Säuglingssohn hat mich zum Singen gebracht

Der Abendstern und andere Lieblingslieder

Mein Sohn ist jetzt noch keine fünf Wochen alt und hat bereits uralte und längst vergessen geglaubte Teile meines Geisteslebens wiederbelebt, zum Beispiel das Singen. Als Kind hatte ich Musikunterricht und ich hatte nicht viel dafür übrig. Besonders all die Arbeiter- und Kampflieder, die ich im sozialistischen Unterricht lernen musste, konnten mir gestohlen bleiben. Ich glaube, der Unterricht hat mir das Musizieren eher verleidet, als irgend etwas sonst. Kurz nach M.s Geburt jedoch fand ich heraus, dass das Singen nicht nur eine sehr wirksame Art und Weise ist, ihn zum Einschlafen zu bringen, ich habe auch gelernt, dass das Singen mir selbst unheimlich viel Spaß macht.


 In dir, du dunkler Abendstern, seh' ich mich selber wie von fern, wie von fern...

Es ist wie Magie, wenn man einen ansonsten nicht zu beruhigenden Säugling durch die eigene Stimme und etwas Rhythmus und Melodie zum Schlafen bringen kann. Das alleine ist bereits ein mächtiges Gefühl. Aber auch, sich selbst singen zu hören, die Resonanz der eigenen Stimme in dem kleinen Leib zu spüren, den ich an mich presse, das ist unmittelbare Erfahrung des Selbst und des anderen in einer Einheit.

27. Juli 2016

Die drei Phasen des Feuers

Eine Grundfrage der Philosophie: Was ist der Mensch?

Von Marian E. Finger

Seit mehr als zweitausend Jahren diskutieren Philosophen, Theologen und Wissenschaftler über diese Frage. Meistens geht es darum, ob der Mensch durch Gott, die Seele oder sein Schicksal, durch Gene oder Umwelt oder durch seinen freien Willen bestimmt ist. Die verschiedenen Positionen sind entweder idealistisch oder materialistisch oder eine Mischung aus beidem. In der Nacherzählung unserer Menschwerdung zeichnet sich eine weitere Perspektive ab, die den klassischen Gegensatz zwischen idealistisch und materialistisch auflöst und den Menschen stattdessen einfach als evolutionsbiologische Neuheit begreift.

Eine übermächtige Erscheinung: Waldbrand (John McColgan, 2005)

Die Geschichte unserer Menschwerdung begann vor etwa fünf Millionen Jahren, als unser schimpansenähnlicher Vorfahre sein Leben in den Regenwäldern aufgab und in die Savannenwälder zog. Was er dort suchte, war die Nahrung, auf die er sich spezialisiert hatte, eventuell war es die Yamswurzel. Das Leben in den Bäumen gab der Waldaffenmensch deswegen noch lange nicht auf. Erst zweieinhalb Millionen Jahre später entwickelte er mit dem aufrechten Gang, dem schwächeren Unterkiefer und einem größeren Gehirn die ersten menschlichen Züge. Es ist kein Zufall, dass das Auftauchen dieser Merkmale mit dem Beginn einer neuen Eiszeit in eins fällt. Die Vereisung des Nordpols führte in Afrika zu einer langanhaltenden Dürre, die die Fruchtbäume in den Savannen verschwinden ließ und unseren Vorfahren endgültig auf den Boden zwang.

Neben Tundra, Taiga und Steppe ist die Savanne ein Ökosystem, in dem Feuer ein häufig auftretender Umweltfaktor ist. Vor zweieinhalb Millionen Jahren begegnete unser Vorfahre in der nunmehr von extremer Trockenheit geprägten Savanne dem Phänomen, das seinen weiteren Werdegang entscheidend prägte: dem Feuer.

24. Juli 2016

Im Zeitalter der Kuscheltiere

Unsere neu entdeckte Liebe zur Kreatur

Als frisch gebackenem Vater fallen mir tagtäglich Dinge auf, die zu einem ansonsten unhinterfragten Alltag der meisten Menschen hier in Westeuropa gehören dürften, wie zum Beispiel all die Tiere in den Bilderbüchern, in den Kinderliedern, überall als Aufdrucke auf den Kinderkleidern und als Kuscheltiere in den Kinderzimmern.

Kinderzimmer: Eine Welt der versöhnten Kreaturen

Wir bekommen zur Zeit so viele praktische und unpraktische Dinge von Freunden und Familienmitgliedern geschenkt und beinahe jeder dieser Gegenstände kommt selbst als Tier daher (die erste Sparbüchse für M. in Form eines Frosches, die Moby-Dick-Spieluhr und all die Kuscheltiere) oder ist mit Aufdrucken von Tieren versehen, wie jedes einzelne Kleidungsstück, das wir M. im Moment anlegen. Tiere überall. Auch vor dem Hintergrund, dass es dem kleinen M. scheißegal ist (nach drei Wochen auf dieser Welt hat er noch kein Konzept von Tieren oder gar Tierrepräsentationen), frage ich mich, was all die Tiere bedeuten?

17. Juli 2016

Die Zeit kommt aus der Zukunft

Gespräche zum Akzelerationismus und zum Augenblick

"Wer es rundweg ablehnt zu spekulieren, 
liefert sich dem Gegebenen aus. Der spekulative
Realismus entdeckt neue Möglichkeiten, indem
er eine neue Zeit denkt." (Armen Avanessian)

Ein gutes philosophisches Gespräch zeichnet sich dadurch aus, dass der Zuhörer hin und her gerissen ist und nicht weiß, wem er Recht geben soll. Solch ein Gespräch findet sich im aktuellen Philosophie Magazin zwischen dem "Resonanztheoretiker" Hartmut Rosa und dem "Akzelerationisten" Armen Avanessian. Schon die beiden Begriffe Resonanz und Akzeleration (Beschleunigung) scheinen miteinader in Feindschaft zu stehen: Der erste Begriff zielt auf ein "orphisches" Weltverhältnis des "Hörens und Antwortens" ab (und was könnte daran falsch sein?!) und der andere Begriff zielt auf die "prometheische" Machbarkeit durch Technik und eine Verfügbarkeit über die Zukunft. Schließt sich das gegenseitig aus? Meine Oma hätte gesagt: Alles zu seiner Zeit!

Armen Avanessian und Svenja Flaßpöhler im Gespräch (Foto: Gilbert Dietrich)

Apropos Zeit: Wo kommt die Zeit her? Läuft sie aus der Vergangenheit durch uns in die Zukunft? Diese Frage stellte Avanessian heute beim Sonntags-Talk der School of Life in Berlin und beantwortete sie gleich: Die Zeit komme aus der Zukunft auf uns zu und fließe in die Vergangenheit ab. Wenn wir zurück in die Geschichte blicken, dann können wir sehen, wie sich die alte Zeit dort sammle. Was aber heißt das für unser Handeln? Vor allem, dass wir es an der Zukunft ausrichten müssen, denn die Vergangenheit kann uns kaum die Antworten geben, die den heutigen Anforderungen ans Morgen genügen. Und das ist der Grund, warum Avanessian den Trend so stark angeht, den er Achtsamkeitsfanatismus nennt. Während wir meditieren oder Achtsamkeit üben, wird über uns weiter verfügt, sagt Avanessian auf dem Podium. Oder im Philosophie Magazin:

14. Juli 2016

Der Fremdenhass in dir und mir

Es kostet viel Energie, die anderen zu ertragen

Ich lebe am Rande der Großstadt Berlin, da wo es ein bisschen grün ist und wo man mit Fahrrad und Auto eigentlich alles ganz gut erreichen kann. Ich gebe es zu: Ich entziehe mich dem Personennahverkehr gern und ziehe den Individualverkehr vor. Zur Not fahre ich auch weite Strecken im Winter mit dem Fahrrad und freue mich über jeden Grund, der das eigentlich unentschuldbare Autofahren irgendwie zu legitimieren scheint. Heute jedoch fuhr ich wieder einmal S- und U-Bahn. Ich musste zum Standesamt, die Geburtsurkunde unseres Sohnes holen und ich dachte, das ist doch auch mal schön: in der Bahn sitzen, was lesen und ganz entspannt ankommen, ohne Stau oder gefährliche Ausweichmanöver auf dem Rad.

Was mir zuerst auffiel: Berlin ist voll geworden. Und was mir dann auffiel: Viele Leute, die es sich leisten können, machen es wie ich und verzichten auf den Personennahverkehr. Mit anderen Worten, es kommt (vor allem auf bestimmten Linien) zu einer mobilen Ghettoisierung in den Bussen und Bahnen. Man sieht die Alten und die Kranken, die Armen und die Obdachlosen und die einzelnen Mütter mit Kinderwagen, die Grüppchen Halbstarker. Überall wird gelärmt, gebettelt, rumgemotzt. Es stinkt nach Schweiß, Bier und alten ungewaschenen Haaren. Was im Image-Film der BVG ganz lustig daherkommt, ist im Alltag mitunter nur schwierig zu ertragen.


Vielleicht doch nicht ganz egal!

8. Juli 2016

Freitickets: Augenblick verweile... mit Armen Avanessian

(diese Veranstaltung liegt in der Vergangenheit, es gibt keine Tickets mehr)

 

Svenja Flaßpöhler im Gespräch mit Armen Avanessian

Unsere beschleunigte Welt scheint uns in eine Art Romantik zu drängen: weg von der Hektik, rein in den Garten, raus aufs Land. Mal runter schalten, meditieren und den Augenblick genießen. Oder gar Downshifting und Drop Out? Was für einzelne - vor allem jene, die es sich leisten können - gehen mag, geht für die ganze Gesellschaft nicht mehr. Oder gibt es einen Weg zurück? Svenja Flaßpöhler vom Philosophie Magazin und der Akzelerationist Armen Avanessian sprechen darüber und werden dabei Fragen wie die folgenden diskutieren:

"Was genau heißt es eigentlich, den Augenblick zu genießen? Liegt das wahre Glück in der Flüchtigkeit oder in der Dauer? Im Selbstverlust oder der Selbstfindung? Der Ekstase oder der Askese? Und: Welche Probleme sind mit dem zeitgenössischen Achtsamkeitskult verbunden? Vergessen wir in unserer Gegenwartsfixierung den Blick für die Zukunft?" (aus der Gesprächsankündigung der TSOL Berlin)

Lauern hinter Achtsamkeit und Entschleunigung vielleicht sogar Gefahren? Der Untertitel "Gegenwartsfixierung und Zukunftsverschlossenheit" lässt das vermuten. Ich werde mir dieses Gespräch auf keinen Fall entgehen lassen, auch wenn ich mir jetzt schon vorstellen kann, welche Position Avanessian einnehmen wird. Denn als deutscher Vorreiter des Akzelerationismus will er gerade nicht entschleunigen, sondern sieht unsere einzige Chance in der Beschleunigung des Systems. Das ist ein bisschen wie in David Cronenbergs Film "Crash": Alles irgendwie subversiv, crazy und gefährlich, dann aber auch sexy und wieder sehr rational. Was mehr könnte man sich von einer heutigen Philosophie wünschen?

Ich bin gespannt auf das Gespräch und wie die School of Life und das Philosophie Magazin die Kurve kratzen werden, um das Publikum, das vielleicht zu einem Gutteil von den Freunden der Achtsamkeit gestellt werden wird und eher weniger von intellektuellen Linksradikalen, zu denen man wohl die Akzelerationisten zählen müsste. Außerdem verspreche ich mir natürlich ein Runterbrechen der akzelerationistischen Grundideen, denn ehrlich gesagt, ist dieser neue philosophische Entwurf noch sehr vage, diffus und nicht ohne Weiteres zu verstehen.



Zum Thema:

7. Juli 2016

Mit Beschleunigung zum Postkapitalismus

Die Akzelerationisten und ihre gesellschaftliche Utopie

Die Zukunft muss noch einmal aufgeknackt werden 
– und unsere Horizonte werden frei für die 
unbegrenzten Möglichkeiten des Außen.

Aus der Philosophie des Spekulativen Realismus, die hier schon des Öfteren thematisiert wurde, entsteht gerade die postkapitalistische Utopie der Akzelerationisten: Den Kapitalismus mit Mitteln des Kapitalismus stürzen. Von Bruno Latour haben sie gelernt, dass die Technik und das Soziale untrennbar miteinander verbunden sind und dass jede Veränderung auf einer Seite die Veränderungen auf der anderen verstärken.

Helmut Georg, Pipelines 1978-79 (Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 4.0)

Die Akzelerationisten meinen, dass es zu ihrem globalisierten Postkapitalismus, der aus einer intellektueller Infrastruktur, den Medien in öffentlicher Kontrolle und politischen Zusammenschlüssen aus Mehrheitsinteressen zu erarbeiten wäre, nur eine Alternative gäbe: "eine allmähliche Fragmentierung hin zum Primitivismus, zur permanenten Krise und zum weltweiten ökologischen Zusammenbruch." Dass ihnen die global beobachtbaren Symptome von Brexit über Finanzkrise, Donald Trump und ökonomischen und ökologischen Dauerkrisen eine belastbare Argumentationshilfe bieten, kann man wohl nicht bestreiten. "Am bedeutendsten ist der Zusammenbruch des Weltklimas," sagen die Akzelerationisten und schauen unter dem Stichwort Anthropozän schon einmal von einem Zeitpunkt auf uns zurück, zu dem es gar keine Menschen mehr gibt.

3. Juli 2016

An meinen Sohn M.

Da verbringt man vierzig Jahre damit zu versuchen, die Welt und - schlimmer noch - sich selbst zu verstehen und dann bringt man etwas hervor, ein kleines Menschlein, das mit all dem Mist noch einmal ganz von vorn anfangen muss. Mein Sohn wurde gerade geboren. Es war der unglaublichste Moment in einem Leben. Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen, aber als dann dieser kleine fragile Körper, der irgendwie auch zu groß erschien, als dass er gerade aus meiner Frau gekommen sein konnte, ans Licht kam, hat mich das total erschlagen. Mit Tränen in den Augen und einem Riesenkloß im Hals beobachtete ich die ersten Szenen seines Lebens und war weder dabei noch bei mir. Es war ein Schock, der sich erst im Laufe des ersten Tages in Glück verwandelte. Dieser Text ist für meinen Sohn M.

M's Ohr, ein Tag alt.

30. Juni 2016

Der Staat bin ich!

"Es ist gefährlich Recht zu haben, wenn die Regierung falsch liegt." – Voltaire. Wie siehst du die politische Situation in Europa bzw. die wirtschaftsliberale Politik, das uneingeschränkte Streben nach Shareholder Value, Hyperkapitalismus und die damit zusammenhängenden ethischen Fragen? Ist es Zeit für selbstkritische Besinnung?

Es ist immer Zeit für selbstkritische Besinnung. Und Voltaire hatte sicherlich damals Recht, aber das ist etwas, das wir inzwischen auch mit seiner Hilfe in Europa erreicht haben: Es ist nicht mehr gefährlich, eine andere Meinung zu haben.

Occupy Berlin, Reichstag, Berlin (Corner of a Life CC BY 2.0)

Mir fällt auf, dass wir es uns angewöhnt haben, Meinungsbürger und Wutbürger zu sein, aber wir haben es verlernt, Bürger zu sein. Anstatt der Staat zu sein, grenzen wir uns ab und schimpfen über alles, was die Politik macht. Ein Grund mag sein, dass die Problemlagen so komplex geworden sind, dass wir sie nicht mehr durchschauen und stattdessen meinen, "die da oben" hätten die Kontrolle verloren (oder wahlweise: kontrollieren uns alle). Deine Stichworte Shareholder Value und Hyperkapitalismus stehen ja auch für solche "Angstbegriffe". Frag mal jemanden im Einkaufscenter, was Shareholder Value ist. Außer einer diffusen Meinung, werden die meisten dazu nichts sagen können.

26. Juni 2016

Entgrenzte Horizonte: Ein Leben ohne Normalität

Unerwartete Phantomschmerzen des technischen Fortschritts

Die Erde ist ein Powerhaus. Das wissen wir, seitdem wir entdeckt haben, dass sich ihre Eingeweide wie Kohle, Gas und Öl verbrennen und in titanische Kräfte umwandeln lassen, von denen wir vor zweihundert Jahren noch nicht einmal zu träumen wagten.

Verschieben Horizonte: US-Ölfelder (Original von Arne Hückelheim CC BY-SA 3.0)

In früheren Zeiten mussten wir unsere körpereigene Kraft auf dem Feld oder bei der Jagd ausbeuten, dann folgte die Ausbeutung der Kraft der Tiere und die anderer Menschen. Das ist zum Glück vorbei, das Powerhaus Erde hat uns und zu einem großen Teil auch unsere Haustiere von diesen sklavischen Formen der Energieerbringung entlastet. (Inzwischen kommen wir mit dieser Entlastung so weit, dass nicht nur die körperlichen Kräfte nicht mehr aufgebracht werden müssen, sondern auch die geistigen schon ersetzt werden.) Wenn wir zwar feststellen können, dass sklavische Tierkraft entbehrlich geworden ist, so müssen wir doch festhalten, dass Energiegewinnung als Nahrung aus den Tieren durch technischen Fortschritt erst Recht zu einem mörderischen Höhepunkt gelangt ist, der genau derselben Umkehrdynamik von Ausnahme und Normalität unterliegt wie alle modernen Verschwendungsphänomene.

11. Juni 2016

Weisheiten der Mystik in einer Welt der Vernunft

Bertrand Russell und die Erfahrungsweise der Matrix

Im dem seit Menschengedenken andauernden Versuch, die Welt in ihrer Gesamtheit zu verstehen, bekämpfen und befruchten sich zwei menschliche Prinzipien des Verstehenwollens: das eine kann als wissenschaftliches und das andere als mystisches Prinzip beschrieben werden.

Schon bei den antiken Philosophen sehen wir diese Differenz, etwa beim mystischen Parmenides und dem wissenschaftlichen Aristoteles. Manchmal gibt es, wie etwa in Platons Ideen erkennbar, den Versuch diese beiden ziemlich gegensätzlichen Prinzipien zusammenzubringen. Mit der durch die Ideengeschichte voranschreitenden Ausdifferenzierung von Religion, Philosophie, Kunst und Naturwissenschaften ist auch der Graben zwischen Mystik und Vernunft nur größer geworden.

Heute leben wir in einer Welt, die in ihrer Hard- und Software ganz überwiegend durch wissenschaftliche Prinzipien gesteuert wird, was wiederum uns kleinen einzelnen Menschlein hart und seelenlos vorkommen mag. Denn unser Seelenleben verlangt nach Geschichten, nach Innerlichkeit, der Einbettung ins große Ganze und vermeintlich tieferen Gründen unserer Existenz. Aus diesem Konflikt heraus verlangt es die einen nach Poesie und Kunst und die anderen nach Verschwörungstheorien und Esoterik. Im Mainstream wird aus diesen beiden Polen dann zum Beispiel ein Film wie Die Matrix (den ich übrigens liebe, und zwar alle seine drei Teile).

4. Juni 2016

Die nicht endende Zähmung des Menschen

Stufen der Domestikation der Kulturen

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Zähmung. Und zwar nicht nur die Zähmung von Haustieren, sondern die des Menschen selbst. Eine Zähmung sorgt für kulturelle Nischen in der Wildnis, in denen die natürliche Selektion auf Eis gelegt wird. Es überleben nicht die an die Natur bestangepassten Tiere, sondern jene, die mit den Verhältnissen in dieser Nische am besten zurechtkommen.

Der Mensch ist der König unter den Haustieren (Quelle: National Library of Ireland)

28. Mai 2016

Schlechte Gefühle aus guten Gründen

Die evolutionären Funktionen schwieriger Emotionen

"Alle negativen Gefühle haben ihre Wurzeln in der Angst und das Gegenteil von Angst ist Vertrauen." Wenn wir solch einen Satz lesen, ertappen wir uns wahrscheinlich dabei, wie wir mit dem Kopf nicken und sogleich an Beispiele aus unserem eigenen Leben denken, die diese Behauptung untermauern. Aber: Stimmt dieser Satz oder stimmt er nicht?

Detail einer Illustration zur Physiognomik, 19. Jahrhundert (Quelle: Wikipedia, gemeinfrei)

Nein, er stimmt nicht und er zeigt, wie die Psychologie sehr anfällig dafür ist, dass selbsternannte Experten und wir selbst als Erforscher unseres eigenen Seelenlebens mit vereinfachten und zusammengestückelten Halbwahrheiten kompletten Blödsinn als glaubhaft verkaufen und empfinden können. Gerade die sogenannte Positive Psychologie ist der populären Vereinfachung derart zum Opfer gefallen, dass sich solche Ansichten durchgesetzt haben wie, man müsse nur lächeln und schon sei alles nicht mehr so schlimm oder "negative Gefühle" könne man durch "positive Energie" eliminieren.

Das Gute an Langeweile, Trauer, Schuldgefühlen und Angst

Todd Kashdan, amerikanischer Professor für Psychologie beschreibt in Warum wir mehr Wissenschaft und weniger Spekulation über Angst, Trauer und Glück benötigen, wie er in einer Radiosendung den oben zitierten Satz zur Angst als Wurzel aller "negativen Gefühle" hörte, "vorgetragen mit großem Selbstbewusstsein und unter vager Andeutung einer wissenschaftlichen Studie". Kashdan erforscht Zusammenhänge zwischen solchen schwierigen Gefühlen und psychischem Wohlbefinden. Er zeigt sich besorgt über solches Halbwissen, das es den Laien erschwere, die eigenen Gefühle zu verstehen und in ein gelungenes Leben zu integrieren. Alle schwierigen Gefühle, so Kashdans Grundgedanke, haben ihre Funktionen in unserem Leben.
 
Kashdan beschreibt zum Beispiel wie Langeweile körperliche Reaktionen und Verhaltensweisen hervorrufe, die ganz und gar nicht mit Angst vereinbar seien. Langeweile sei ein Zeichen von Unterforderung und nicht von Angst. Das Gefühl der Langeweile motiviert uns dazu, unsere inneren und externen Zustände auf neue Reize hin zu untersuchen und die Unterforderung zu beenden.

21. Mai 2016

Gaia! Können wir uns noch retten?

Menschendämmerung im Anthropozän

Viele von uns kennen Gaia als den Begriff für unsere Erde als lebendes, ja fühlendes und willensgesteuertes System. Wir finden vielleicht so etwas wie Hoffnung, Trost oder auch Trauer in dem Gedanken, dass die Erde, von der wir tagtäglich zehren, die wir auszehren und zugrunde richten, selbst ein lebendes Wesen mit Gefühlen und Rechten ist. Trauer: Wie können ihr wir so etwas nur antun? Trost: Sie wird sich zu wehren wissen und letztlich überleben, indem sie sich der Menschen wie Parasiten entledigt. Hoffnung: Sie wird als die große Mutter Erde einen Weg des Überlebens für uns alle finden.

Atlantik-Küste von Namibia: Sandwinde und Schwefelwasserstoffe (Bild gemeinfrei von NASA)

Eine Fülle handelnder Kräfte

Allein, solche allzumenschlichen Impulse helfen uns nicht weiter, wenn wir verstehen wollen, wie genau wir das System Erde beeinflussen und wir wir es und somit uns über die nächsten Jahrzehnte retten können. Der französische Philosoph Bruno Latour sagt:

"Es macht überhaupt keinen Sinn, Gaia Gefühle oder Absichten solcher Art zu unterstellen! In der griechischen Mythologie ist Gaia sogar eine ziemlich furchterregende Göttin. [...] Allein die Lektüre des Mythos sollte uns vor kitschigen Versionen der Gaia-Hypothese warnen. Und wir sollten nicht vergessen, dass sie sich auf einen mythologischen Diskurs bezieht, nicht auf eine offenbarte Wahrheit!" (Latour im Gespräch mit dem Philosophie Magazin Februar/März 2016, S. 36)

13. Mai 2016

Unsere westliche Panik vor dem Ende der Ich-Autonomie

Haben wir keine größeren Probleme als das Internet?

Wir wünschen uns von unserem technologischen Fortschritt immer auch ein Besserwerden der gesamten Menschheit. Und wenn man zurück schaut, dann muss man schon sagen, dass es im Schnitt gesehen, den Menschen immer besser geht. Selbst mancher, der zu den Armen zählt, hat heute ein reicheres und gesünderes Leben, als Menschen, die vor einigen Hundert Jahren zu den Reichen zählten. Hunger, Seuchen und Säuglingssterblichkeit sind in den meisten Teilen der Erde historisch auf dem Rückmarsch. Aber natürlich ist das nur eine Perspektive, es gibt andere.

Wer hat Angst vor dem Computer? (Bild gemeinfrei von Historic Computer Images)

Ein Zweifel, den ich beispielsweise als begeisterter Nutzer moderner Technik, immer im Hinterkopf nagen spüre, ist, ob denn all diese neuen Technologien wirklich so umweltfreundlich sind, wie wir es gern glauben. Zum Beispiel Elektroautos: Wie ist das mit den Batterien? Wie werden die produziert, wie lange halten die, aus welchen Stoffen sind die und was passiert, wenn die alle entsorgt werden müssen? Oder all die Tablets und Smartphones, die sozusagen einmal jährlich durchgewechselt werden. Sind die nicht aus Schwermetallen und anderen problematischen Rohstoffen, für die Minenarbeiter in Entwicklungsländern sich selbst und ihre Umwelten vergiften?

6. Mai 2016

Ein überraschendes Merkmal tiefgründiger Wahrheiten

Die Weisheit des Ergänzungsprinzips

Wir kennen das alle aus dem Alltag, sei es zu Hause oder auf der Arbeit: Es geht darum, Recht zu haben und Recht zu behalten. Menschen tun absonderliche Dinge dafür. Im Job werden Projekte samt Budget gegen die Wand gefahren, im Privatleben gehen Partnerschaften zu Grunde, im schlimmsten Fall brechen Kriege aus und Menschen sterben. Und alles nur, damit irgendwer Recht behält. Aber was ist das schon, "Recht behalten"? Nirgends führt irgend jemand ein Konto darüber, wie oft wir Recht hatten oder uns irrten oder gar unsere Meinung änderten. Es ist doch nichts weiter, als ein kindischer und zerstörerischer Selbstbehauptungstrieb, der dahinter steht. Je unreifer und egomanischer eine Person ist, desto rechthaberischer. Sie verwechseln Recht behalten damit, eine Persönlichkeit zu sein.

Licht: Partikel oder Welle? Thomas Young kam 1799 der Welle auf die Spur.

20. April 2016

Von der Abstraktion zum realen Leben kommen

David Whyte über unsere Verbindung zu den Dingen der ersten Ordnung

Kennt ihr das Gefühl, dass irgendwie nichts mehr real zu sein scheint, und wir nur abstrakten Sorgen und Bedürfnissen hinterher rennen? Ziele erreichen ist alles: Karriere, Besitz, Status. Dabei wissen wir doch, dass das am Ende nicht viel zählen wird. Der britische Autor David Whyte hat dagegen eine Medizin: Zurück zu den Dingen! Ein poetischer Realismus. Whyte sagt in dem Interview The Conversational Nature of Reality (zum Anhören im Original unter dem Zitat eingebettet):
"Der Ort, an dem die Dinge real werden, ist die Grenze zwischen dem, was du für dein Du hältst und dem, was du nicht dafür hältst. Was immer du von der Welt möchtest, wird nicht genau so passieren, wie du es magst. Und was immer die Welt von dir möchte, wird auch nicht passieren. Was eigentlich passiert ist dieses Treffen an der Grenze. Aber es ist erstaunlich, wie viel Zeit wir von dieser Grenze abgewendet verbringen, abstrahierend, außerhalb unserer Körper und jenseits unserer direkten Erfahrung."



13. April 2016

Eine Lebensphilosophie der Stärken und Schwächen

Von hinten gehetzt oder von oben gezogen?

Stärken werden verständlicherweise oft im Kontext von Arbeit und Karriere diskutiert, vor allem mit dem Fokus, ob jemand die entsprechenden Stärken für einen Job mitbringe oder wie man solche Stärken entwickeln könne. Oder die Frage wird umgedreht und man sucht den Job, der zu den vermeintlich schon vorhandenen Stärken passt. Ich würde die Perspektive gern einmal insgesamt ändern und behaupten, dass wir Stärken überhaupt zum Leben und ganz dringend auch im Privatleben brauchen und dass sich der Job dazu eignet, Potenziale zu erkennen und Stärken auszubilden.


10. April 2016

Hab Mitgefühl mit deinem Körper!

Schmerz ist, wenn dein Leib um dein Leben kämpft

Die alten Griechen sagten, der Körper sei das Grab der Seele. Und ja, am Ende ist es der Körper, der uns stilllegen wird. Wären wir nur Geist, so könnten (oder müssten) wir wohl endlos leben. Wenn unser Geist auf unseren Körper angewiesen ist, dann heißt das aber auch, dass unser Körper nicht nur das Grab, sondern auch der Garten der Seele sein muss.

Das Leben in den Knochen spüren (Bild gemeinfrei)
  
Wenn man vierzig wird, hört man es zunehmend von Freunden und spürt es selbst in den Knochen: Der Körper gibt nach, baut ab, steht einem manchmal mehr im Wege, als dass er Hilfe auf dem Weg ist. Ich habe bereits eine Hüftoperation hinter mir, gute Freunde haben Organschäden oder Gelenkschmerzen. Das sind nicht die Art von Wehwehchen, die wir mit zwanzig hatten und die nach zwei Wochen wieder verschwanden. Der Abbau hat begonnen. Das Gefühl, es gehe nun bergab und die beste Zeit liege hinter uns, kann einen deprimieren.

7. April 2016

Was machen Geisteswissenschaftler nach dem Studium?

Interview mit der Universität Leipzig

Macht, was euch Spaß macht und worin ihr gut seid!

Gerade fragte das Human Resources Manager Magazin, ob wir im Beruf auch Philosophen sein müssten (siehe Bild). Leipziger Studenten hingegen trieb die Frage um, was Philosophen eigentlich überhaupt für Berufsaussichten hätten. Claudia Schoder vom Career-Service der Universität meint, die "Verzweiflung" unter den Studierenden sei recht groß, weil ihnen zum einen ein konkretes Bild von dem fehle, was nach dem Studium kommen könnte und ihnen zum anderen das Bewusstsein über das eigene Können und Wollen fehle. Also hat sie mich dazu befragt und um ein paar Tipps gebeten...

Claudia Schoder: Was machst Du in Deiner derzeitigen Position genau?

Im Wesentlichen manage ich ein Team. Das Team sorgt dafür, dass in einer internationalen Technologie-Firma solche Prozesse wie Bezahlung, Weiterbildung, Übersiedlung aus dem Ausland, das Erlangen und Verlängern von Visa, Personal-Kennzahlenreporting usw. funktionieren und weiter entwickelt werden. Es handelt sich also um Personalwirtschaft, aber ich habe zuvor bereits Marketing- und Support-Teams geleitet, denn das Managen von Teams ist leicht übertragbar und ich als Manager muss nicht unbedingt alle Details selber kennen.

HRM Magazin, "Kompetenzen", April 2016, S. 10

26. März 2016

In der Falle des Authentischseins

Die philosophischen Höllen des Byung-Chul Han

Byung-Chul Han ist ein interessanter Philosoph der Gegenwart, einer, dessen Texte ich nicht leiden kann. Gerade deshalb kann ich mich natürlich gut daran reiben und gerade deshalb regen sie mich zum denken an. Warum ich sie nicht leiden kann? Weil sie in Sätzen wie "die Diversität ist eine neoliberale Strategie der Produktion" mit einem ideologischen Furor daherkommen, der sich nicht um Differenzierung bemüht und weil sie in der Aneinanderreihung von Behauptungen deren Begründungsnotwendigkeit schlicht ignorieren. Byung-Chul Hans Texte sind in dieser Hinsicht arrogant und das ist in meinem Verständnis anti-philosophisch. Ideologisch kann man Han deswegen nennen, weil er ohne Interesse an den möglicherweise vielfältigen Zusammenhängen der gesellschaftlichen Phänomene lediglich auf das sogenannte "Neo-Liberale" und den "kapitalistischen Markt" abzielt. Nicht, dass ich damit nicht sympathisiere, aber diese Aspekte allein machen noch keine Realität.

IKEA Katalog: die Konformität des anderen Gleichen

So auch in seinem Text "Der Terror des Andersseins" (Auszüge aus Die Austreibung des Anderen, das im September 2016 erscheinen soll) im neuen Philosophie Magazin. Terror? Wirklich? Ich weiß nicht, aber das ist ein starker Begriff in einer Zeit, in der Terror ganz praktisch bedeutet, dass Leute in den U-Bahnen unserer Städte ihre Beine oder ihr Leben verlieren, in einer Zeit, wo die Gemeinschaften im Ursprungsgebiegt unserer Zivilisation zwischen gierigen Diktatoren auf der einen Seite und fanatischen Glaubenskriegern auf der anderen Seite pulverisiert werden. Han setzt noch einen drauf, wenn er sagt, dass dieser vermeintliche Terror des Andersseins "in die Hölle der Konformität" führe. Lautes Gebrüll für einen teilhabenden Beobachter der Wohlstandsgesellschaften.

20. März 2016

Was könnte das sein, ein wahres Selbst?

Oder wie man sein Tattoo nach innen trägt

Das neue Philosophie Magazin macht mit der Frage auf: "Wer ist mein wahres Selbst?" (Und einem Cover, das diesmal in seiner Offensichtlichkeit jeglichen Witz vermissen lässt.) Mein Professor pflegte bei solchen Anlässen immer zu sagen: "Das ist die falsche Frage!" Wörter wie "wahr" und "das Selbst" sind sehr tückische Wörter, weil sie es zwar in sich haben, aber jeder aus seinem Alltagsverständnis heraus meint, ganz genau zu wissen, was sie bedeuten. Im gemeinsamen Zusammenhang sind solche Wörter natürlich noch tückischer. Ob die Frage, wer mein wahres Selbst sei, überhaupt sinnvoll ist, können wir nur klären, wenn wir wissen, ob es so etwas wie ein wahres Selbst gibt und wenn ja, ob es ein Subjekt gibt (zum Beispiel "ich"), dem dieses "wahre Selbst" zugeschrieben werden kann.

Wahr will in diesem Zusammenhang auf eine Art Kern verweisen, der einem Selbst innewohnt. Was soll dieser Kern sein? Ist es die jeweils eigenartige Weise, auf die jeder Körper mit seinen Organen bis hin zu seinen Fingerabdrücken zusammengestellt ist? Das reicht wahrscheinlich nicht, denn hat solch ein bloßer Körper schon ein Selbst? Und bin ich nicht mehr "ich selbst", wenn ich eine Niere abgebe oder neue Fingerabdrücke transplantiert bekomme? Nein. Ist es mein Erleben, meine Persönlichkeit, die Art und Weise, wie ich denke und mich verhalte? Schon eher ist das gemeint. Und so stoßen wir im Philosophie Magazin auf Begriffe wie "Authentizität" und "Aufrichtigkeit".