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3. Dezember 2016

Freiheit und Naturzustand

Die paradoxen Effekte gesellschaftlicher Institutionen

"So werden wenigstens die Menschen von ihren eigenen Schöpfungen
verbrannt und konsumiert und nicht von der rohen Natur, wie Tiere.
Die Institutionen sind die großen bewahrenden und verzehrenden, uns
weit überdauernden Ordnungen und Verhängnisse, in die die Menschen
sich sehenden Auges hineinbegeben, mit einer für den, der wagt, vielleicht
höheren Art von Freiheit als der, die in ›Selbstbetätigung‹ bestünde."
(Arnold Gehlen, Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung)

Warum erleben wir uns so oft als unfrei? Wenn wir an Freiheit denken, dann sind wir intuitiv geneigt zu meinen, Freiheit sei Freiheit von Zwängen: Frei bin ich, wenn ich tun und lassen kann, was ich will und die ultimative Freiheit zeigt sich vielleicht in so einer Art Naturzustand, wo es keine Regeln und Vorschriften, keine Bürokratie und Polizei, ja vielleicht sogar nicht einmal Menschen gibt. Ich will hier zeigen, warum das ein Missverständnis ist und dass es sich vielmehr genau anders herum verhält. Und ich meine, dass wir mit aufgeklärterem Verständnis vielleicht auch einen besseren Zugang zu den Schwierigkeiten im politischen und gesellschaftlichen Zusammenleben finden können.

Wo gibt es Freiheit? Vielleicht in einem Naturzustand?  (A.Ostrovsky: Kangchenjunga, Himalayas)

Freiheit gibt es nur in Kulturen

Jeder würde intuitiv zustimmen, dass es in der Wildnis, also in der Natur abseits jeglicher menschlichen Einflüsse, keine Unfreiheit gibt. Und genauso ist der Begriff "Freiheit" keiner, der sich sinnvollerweise auf Vorgänge in der Wildnis anwenden lässt. Oder pointiert gesagt: Freiheit (und Unfreiheit) kann es nur geben, wo es auch Menschen gibt. Freiheit ist also eine kulturelle Kategorie, deren Anwendung auf Domänen jenseits des menschlich-kulturellen keinen Gegenstand hat. Man könnte nun sagen: Aber in der Wildnis leben die Tiere doch in Freiheit. Und das stimmt, aber eben nur in dem vielleicht bedauernswerten Sinnzusammenhang, dass der Mensch die Natur in Kultur verwandelt und die Freiheit der Tiere damit bedroht ist, weil ihre Habitate von Autobahnen, Zäunen, Feldern und Häusern fragmentiert werden. Gäbe es solche menschlichen Einflüsse nicht, dann wäre die Rede von Freiheit inhaltsleer. Auf der Erlebnisebene muss man sagen, dass sich Tiere sicher nicht als frei oder unfrei erleben, denn sie haben keine solchen Begriffe. Vielmehr leben sie mehr oder weniger in ihrem Naturzustand und leiden mehr oder weniger an diesem oder jenem.

Freiheit gibt es nur in Grenzen

Die begriffliche Abgrenzung von Freiheit als kultureller Kategorie ist vielleicht den meisten noch plausibel, aber dass es Freiheit nur innerhalb von Grenzen gäbe – ist das nicht geradezu widersinnig? Dieses Missverständnis kommt daher, weil wir gern in Absolutismen denken. Aber es gibt eben keine absolute Freiheit, denn Freiheit gibt es nur in kulturellen Kontexten, wie oben gesagt. Schon darin zeigt sich, dass Freiheit immer begrenzt sein muss, denn es gibt keine Kontexte ohne Grenzen. Aber es kommt noch dicker: Freiheit braucht nicht nur begrifflich Grenzen, sondern ganz konkret brauchen wir als Menschen Grenzen, Gesetze, Verbote, Gebote, Sanktionen oder zusammenfassend gesagt Institutionen, um frei sein zu können. Wir kennen das bereits aus Hobbes Leviathan (1651) und dem daraus geläufigem Wort "ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, wenn man sich nicht kennt". Das ist der Hintergrund für die Ausprägung von Staatsgebilden mit Legislative (Gesetzgebung), Judikative (Rechtsprechung) und Exekutive (Vollzug). Sehr deutlich hat diese Position Arnold Gehlen (1904 – 1976) mit seiner Institutionenlehre vertreten:

"...zentral ist die Aussage, dass die Institutionen mit Notwendigkeit errichtet werden und über ihre Dauer und überpersönliche Gültigkeit erst ein Leben ermöglichen, wie wir es heute kennen, nämlich eine fortschreitende kulturelle Entwicklung. Damit werden die Institutionen letztlich auch zur Bedingung der Entstehungsmöglichkeit von Freiheit sowie der Entwicklung des Menschen hin zu einer Persönlichkeit." (Freiheit und Entfremdung in Arnold Gehlens Institutionentheorie: Eine Gegenposition zu Karl Marx)

In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Kernbegriff Gehlens wichtig: die Entlastung als Funktion der Institutionen. Das kann an ganz einfachen Beispielen wie der Ampel als Institution im Straßenverkehr gezeigt werden: Sie entlastet uns davon, umständlich jedesmal zwischen allen Verkehrsteilnehmern aushandeln zu müssen, wer zuerst fahren darf und sie entlastet Fußgänger davon, ständig um ihr Leben rennen zu müssen, wo ohne diese Institution das Recht des stärkeren Verkehrsteilnehmers gelten würde. Die Gesetzgebung ist klar: rot heißt stopp. Die Rechtsprechung urteilt im Zweifelsfall, ob ein Verstoß begangen wurde und die Exekutive vollzieht die Sanktionen, also entzieht etwa den Führerschein. Diese Trias als Beschützerin der Institutionen kommt uns schnell als Beschränkung unserer Freiheit vor, so zu handeln, wie wir wollen.

Große und kleine Freiheiten

Man kann dieses Beispiel ziemlich einfach übertragen auf alle anderen Lebensbereiche in der menschlichen Gesellschaft. Um noch einmal auf das ganz oben angesprochene Erlebnis von Freiheit zu sprechen zu kommen: Natürlich erleben wir die Institutionen nicht nur als entlastend. Im Gegenteil, wir nehmen sie vor allem als Beschränkung wahr und damit als etwas, dass uns als fremd gegenüber steht und uns von einem vorgestellten Naturzustand der Freiheit entfremdet. Da ist ja auch etwas dran, aber man kann mit Gehlen sagen, dass wir die kleinen Freiheiten eintauschen für die große Freiheit, ein unversehrtes und von Bedrohungen freies Leben in der Gesellschaft führen zu können.

Dieser Schutz der Freiheit gilt natürlich vor allem denen, die sich unter Wölfen nicht behaupten könnten. Das heißt, dass Institutionen oft besonders auf den Schutz schwächerer ausgerichtet sind. Das stört dann vor allem solche, die sich selbst als unheimlich stark und unabhängig wahrnehmen wollen und die dann im besten Fall irgend etwas von Sklavenmoral murmeln und im schlimmsten Fall Flüchtlinge oder anderen schutzbedürftigen Menschen in so einer Phantasie von Revierverteidigung Gewalt antun. Aber es wäre zu kurz gedacht, wenn man meinte, man sei stark genug. Denn egal wie stark jemand ist, die Energie, die ein ständiger Kampf und ein ständiges Behaupten im Naturzustand kosten würde, die will eigentlich keiner mehr aufbringen, denn dann bleibt keine Zeit für Fernsehen und Bier oder was man sonst so zur Entspannung tut.

Es gibt ja gerade wieder so einen Aufschwung an unreflektiertem Freiheitsfanatismus. Man denke an solche Spinner, die meinen, die BRD sei nur eine GmbH und man müsse sich nicht an die Gesetze halten, sondern könne viel mehr auf deren Vertreter der Exekutive schießen. Spätestens wenn sie im Knast sitzen, merken sie ganz physisch, dass ihre Theorie in gesellschaftlichem Zusammenleben nicht haltbar ist. Allen, die sich in so eine Art Naturzustand zurück sehen, bleibt damit nur zu sagen, dass sich das vielleicht erst mal ganz romantisch anhört, aber aus der Romantik einer "totalen Freiheit" wird ganz schnell die Barbarei des Rechts des Stärkeren und das ist das Gegenteil von Kultur und zivilisierter Gesellschaft und der Freiheit in solch einer Gesellschaft zu leben.



Das passt dazu:

15 Kommentare:

  1. Freiheit würde für mich bedeuten, weitestgehend frei zu sein von kindlichen "Prägungen", wie sie sich etwa ergeben können, wenn das Kleinkind glaubt, an den Zwistigkeiten der Eltern schuld zu sein.
    Schön wäre, nicht ad hoc zu glauben, man sei zuviel, man habe Schuld,Verantwortung man könne nichts richtig oder das Leben sei schwer und einsam.
    Solche "Mitbringsel" schleppen wir unnötig und manchmal höchst behindernd mit uns rum, wie die Pollen auf Insektenkörpern. Wir wissen sehr oft nicht, daß diese Hindernisse existieren. Und dann als nächstes, worauf sie gegründet sind. Ganz zu schweigen, was zu tun ist.

    Irgendwo in einem spirituellen Magazin (haha) las ich, daß wir alle "sinngemäss" Theaterstücke spielen.
    Selbst erwachte Geister sind nachwievor mit ihrem Schmerzkörper konfrontiert, durchschauen ihn aber eher und schneller als Otto Normalverbraucher.

    Neben diesen Schmerzen gibt es auch den großen Freiheitsschmerz, endlich zu sein und abtreten zu müssen, wann immer es dem Schicksal gefällt.

    Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Aussage von Hoimar von Dittfurth, der kurz vor seinem Tod in einem TV-Interview sagte, daß er es als DEMÜTIGEND empfindet, daß er gerade jetzt zu gehen hat, wo bestimmte wissenschaftliche Rätsel vor ihrer Auflösung stehen!

    Gerhard

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    1. Ja, das ist auch ein wichtiger Aspekt, der vor allem von Fichte und dann von Freud angegangen wurde. Entfremdete Persönlichkeitselemente sollen wieder angeeignet werden und damit der Zwang (Unfreiheit) aufgehoben werden. "Wo Es ist, soll Ich werden" lautete der Schlachtruf der Psychoanalyse.

      Richtig, der Zwang sterben zu müssen, kann auch als eine unglaubliche Kränkung der individuellen Freiheit empfunden werden, oder wie Elias Canetti meinte: Der Tod ist ein Skandal. Auf der anderen Seite sind wir nie so frei von Schmerzen, Verlangen, Enttäuschung etc. wie im Tod. Also auch eine oder vielleicht sogar die "absolute" Freiheit?

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  2. Das sehe ich eigentlich eher kritisch. Natürlich ist es wichtig und auch notwendig in zivilisierten Gesellschaften und insbesondere ab einer gewissen Anzahl von Menschen Regeln und Gesetze zu bestimmen an die sich jeder zu halten hat. Das befreit natürlich von der Angst das ständig in Gefahr zu zu sein oder das bsp. ein Radikaler Kommunist sagt "Eigentum ist Diebstahl; ich nehm dir dein Zeug weg!"

    Die Ampel ist da sicher auch ein gutes Beispiel.

    Dennoch können ja gerade die "unreflektiertem Freiheitsfanatiker" mit einer im Grunde extremen Ordnung den Menschen "Freiheit" verschaffen, die das selbst denken als unfrei empfinden, es lieber anderen zu überlassen und wie die Lemminge nur hinterzulaufen. Dazu zähle ich bsp. Neonazis genauso wie Islamisten. Freiheit bedeutet für einige ja, frei zu sein von der Mühe und Last ein selbstbestimmtes leben zu führen. Freiheit ist für diese also eigentlich extreme Ordnung. Das Gegenteil von Aufklärung.

    Diese Leute definieren Freiheit für sich vollkommen anderes als ich. Man schaue sich doch heute mal die ganzen Sendungen im TV an, insbesondere auf den "Männerkanälen": Baumhäuser, Alaska, Aussteiger am Ende der Welt, leben in der Wildnis ... ständig derartige Dokus usw. Es besteht offenbar einfach eine große Nachfrage nach einer Art Entlastung und Entspannung. Viele verbinden das eben mit der Natur. Häufig natürlich auch total naiv romantisch. Aber hey, wenns wirkt?! Wer baut sich denn nicht gerne ein paar Luftschlösser um runter zu kommen.

    Freiheit bedeutet für mich ein SELBSTbestimmtes leben führen zu können und ggf. eine Ampel auch mal in Frage zu stellen (ohne diese dabei zu ignorieren, klar).

    Absolute Freiheit ist natürlich eine Illusion. Dafür müssten wir menschen Frei von unserem Bewusstsein sein. Also instinktgesteuerte Menschenaffen. Aber dann wüssten wir nichts davon ;) Es gibt aber vielleicht Menschen die sich selbst aus Überdrüssigkeit oder Misantrophie nicht als soziale Wesen sehen und Freiheit empfinden indem Sie nichts (oder so wenig wir möglich) mit anderen Menschen zu tun haben zu wollen. Jemand der vollkommen allein in der Natur leben will, ggf. mit Tieren, und keinerlei Einfluss auf andere Menschen hat lebt im Grunde in keiner Gesellschaft. Erst die Gesellschaft macht Gesetze und Regeln notwendig. Man ist dann nicht frei von den Regeln und Gesetzen, sondern es gibt dafür dann einfach keinerlei Notwendigkeit.

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    1. Vielen Dank für die zahlreichen interessanten Aspekte, die hier hinzugefügt werden. Zunächst einmal zu den den "extremen Ordnungen", die Lemming-Menschen eine sehr unfreie Freiheit schaffen würden: Ja, klar gibt es das und hat es immer gegeben und da liegt ein großes Problem der Institutionen, nämlich dass sie soweit entlasten können, dass sich jedes Denken, Entscheiden und letztlich Handeln erübrigt. Solchen Institutionen gilt es entgegenzutreten, sie müssen demontiert werden. Wenn nicht, passiert das, was ganz oben im Zitat von Arnold Gehlen angesprochen wird: "die Menschen [werden] von ihren eigenen Schöpfungen verbrannt und konsumiert", "die Institutionen sind die großen bewahrenden und verzehrenden, uns weit überdauernden Ordnungen und Verhängnisse". D.h. also hier ist nichts nur gut oder nur schlecht... wie immer eigentlich.

      Warum ich aber wohlwollend auf die Institutionen hinweisen wollte, erklärt sich aus einem populären Missverständnis, das wieder vermehrt zu hören ist und dem Leute auch politisch zu schnell hinterherzurennen bereit sind:

      "Wenn nur all die Regeln und Gesetze und Politiker nicht wären, dann wären wir frei."

      Und da wollte ich nur sagen: Nein, das wäre keine Freiheit, das wäre das Recht des Stärkeren. Aber dazu kommt es ja nicht einmal, weil die, die dieses Missverständnis politisch ausnutzen wollen, gerade die mit Freiheitsversprechen unterwerfen, die sich ihnen an den Hals schmeißen.

      Ich habe auch selbst einen großen Drang zur Abgrenzung und fühle mich sehr wohl allein in der Natur, ohne andere Menschen (aber nicht ohne kulturelle Errungenschaften). Und natürlich erlebe ich das als Freiheit. Das kann man im Extremfall mal eine Weile durchhalten und schön finden, es ist aber kein Rezept für eine "Menschheit", um die es mir hier geht. Es gäbe keine Menschheit ohne Gesellschaft und ohne Kultur. Die Kultur ist die Natur des Menschen, sagt Gehlen.

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  3. Wie eigenartig, dass weder im Artikel noch in den Kommentaren der Antipode der Freiheit auftaucht: Sicherheit!
    Dabei legt das doch schon das Ampelbeispiel nahe: Wir gewinnen nicht "größere Freiheit" durch die Institution, sondern tauschen Freiheit gegen Sicherheit.

    Und das ist sogar Megatrend unserer Zeit: immer mehr Menschen sind "verunsichert" und wünschen sich deshalb mehr Regeln, Gesetze, Verbote - und akzeptieren immer größere Freiheitsbeschränkungen, wenn sie (vermeitlich) im Dienst der Sicherheit stehen.

    Andrerseits ist - gefühlt! - ein immer größerer Teil der Menschen offenbar bereit, sich nicht mehr an Gesetze und Verbote zu halten. Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Übergriffe und Gewalt gegen Minderheiten, aber auch Steuerhinterziehung, Korruption in 1000 Gestalten... "die Freiheit nehm ich mir!" ist ein Werbespruch, der die Freiheit als den Kauf einer Frauenzeitschrift versteht, was geradezu lächerlich rüber kommt. Dennoch "nehmen" sich immer mehr Leute die Freiheit, sich an nichts mehr zu halten, was lange Zeit zum Grundbestand des Lebens in unseren Gesellschaften galt. Und schämen sich nicht mal.

    Darauf wird mit neuen Regeln reagiert ("Hassrede"-Initiativen etc.), die immer mehr die Freiheit beschränken - und zwar die Freiheit aller, denn man muss ja nun darauf achten, nicht fälchlicherweise in Verdacht zu geraten!

    Na, ich assoziiere so vor mich hin... und will eigentlich nur sagen: Ohne das Spannungsfeld zu "Sicherheit" kann man Freiheit heute eigentlich kaum sinnvoll diskutieren.

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    1. Danke Claudia, für diese Schärfung der Betrachtung!

      Ich meine aber, dass Sicherheit gerade nicht der Antipode von Freiheit ist, sondern der Garant von Freiheit. Das ist gewissermaßen der Clou des hier ausgebreiteten Gedanken. Du hast Recht, der Begriff wird nicht genannt, aber das Ampel-Beispiel ist natürlich in seinem Kern mit dem Thema Sicherheit verschmolzen. Wenn Fußgänger davon entlastet werden, ständig um ihr Leben rennen zu müssen, dann gehen Entlastung und Sicherheit Hand in Hand, die Entlastung bringt Sicherheit.

      Das heißt aber nicht, dass ich ein Sicherheitsfanatiker wäre. Natürlich führt übertriebene Sicherheit paradoxer Weise zum Verlust von Freiheit, obwohl sie gleichzeitig der Garant von Freiheit ist.

      Du sagst "Wir gewinnen nicht 'größere Freiheit' durch die Institution, sondern tauschen Freiheit gegen Sicherheit." Teilst du also nicht die Ansicht, dass nur durch diese Sicherheit eine größere relative Freiheit für alle gewonnen wird, während ohne diese Sicherheit einige wenige (die "Stärkeren") unverhältnismäßig große Freiheiten gewinnen und damit die Freiheit der vielen eingeschränkt wird?

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  4. Doch, ich stimme zu: Die "Entlastungsfunktion" der Freiheitsbeschränkung schenkt uns Sicherheit als Voraussetzung dafür, Dinge tun zu können, zu denen wir nicht kämen, wenn wir dauernd "aufpassen" müssten. Das stimmt fürs Ampelbeispiel, aber ob man sagen kann, dass das für alle Regeln und Gesetze gilt?

    Eine klare Trennung von Regel (Freiheitsbeschränkung) und Folge (Sicherheitsgewinn, der als "mehr Freiheit" genutzt werden kann) finde ich dennoch wichtig in Zeiten, da ein Innenminister ein "Grundrecht auf Sicherheit" erfindet - und man ahnt schon, dass er an eine ganze Latte von neuen Freiheitsbeschränkungen denkt. Je totaler etwa Überwachung wird, desto unfreier werden alle. Nicht nur (potenzielle) Straftäter, sondern alle, weil man sich dann überlegen muss, ob irgend ein Tun nicht "falsch verstanden" werden kann.
    Oder die irre aufwändigen Doku-Pflichten im Pflege-Bereich: WER empfindet das als Freiheitsgewinn, wenn immer weniger Zeit für die eigentliche Pflege bleibt?
    Die Frage, WESSEN Freiheit da dirch die jeweiligen Regelungen geschützt wird, ist sehr interessant und man muss sie immer mitdenken.

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  5. Die Überlegungen auf meinem Blog zielten darauf ab, dass es im Wesen des Menschen liegt, Freiheit gegen Abhängigkeit zu tauschen. In seiner Entwicklung ist der Mensch von Generation zu Generation immer abhängiger geworden, zum einen von Fremdenergien (fossile Brennstoffe, aber auch regenerative Energien), zum anderen von seinen Mitmenschen (durch Arbeitsteilung, Erfindung von Berufen, Handel, Geldverkehr). Diese Abhängigkeit drückt sich auch darin aus, dass der moderne Mensch süchtig nach Anerkennung und Liebe ist.

    Im Zentrum dieser Entwicklung steht, was Gilbert an anderer Stelle Outsourcing genannt hat. Outsourcen macht nicht frei, sondern abhängig. Abhängigkeit und Freiheit stehen einander diametral gegenüber. Man kann nicht gleichzeitig total abhängig und frei sein. Entweder - oder. Es liegt im Wesen des Menschen, dass er den Weg zunehmender Abhängigkeit geht. Das tut er seit er sich mit dem Feuer eingelassen hat, also seit rund einer Million Jahren. Das hat schon angefangen, bevor es den Homo sapiens gegeben hat.

    Mit dem Tier verhält es sich anders. Wir denken gern, ein Tier ist total abhängig von seiner Umwelt, vom Wetter, von der Nahrungsfülle, von seinen körperlichen Bedürfnissen. Schließlich muss das Tier jeden Tag seine Nahrung suchen, in einem kalten Winter erfriert es. Da sich das Tier darüber aber keine Sorgen macht, weil ihm dieses Bewusstsein dazu abgeht, ist es frei. Es ist kein Fremdkörper in seiner Umgebung, sondern sozusagen Fleisch gewordener Ausdruck seiner Umgebung. Der Mensch hingegen ist dank seines Bewusstseins zu einem Fremdkörper in seiner natürlichen Umgebung geworden, genau aus diesem Grund erschafft er sich ja permanent eine künstliche Umwelt (eben Kultur). Da er Fremdkörper ist, ist er gezwungen, kulturschaffend zu sein. Eine Kultur zu schaffen, bedeutet Abhängigkeiten zu schaffen, also Unfreiheit zu schaffen.

    Der Kern meiner Überlegung: Bewusstsein macht unfrei, nicht frei. Es verkauft sich uns selbst gern als Freiheit, aber das ist bloß ein Kunstgriff, damit wir nicht an uns selbst verzweifeln. Man kann nicht mal sagen, der Mensch hat die Freiheit, unfrei zu werden. Aufgrund unseres Bewusstseins bleibt uns gar nichts anderes übrig.

    Die Sicherheit, die Claudia ins Spiel bringt, ist ein Aspekt von Abhängigkeit. Dahinter steckt das Todesbewusstsein. Im Grunde glaubt der Mensch, er kann seinen Tod umgehen, indem er immer mehr von sich outsourct - dh. im Klartext: immer abhängiger wird - für den Tod durch dieses Sich-selbst-auf-Andere-Verteilen nicht mehr greifbar ist. Auf diese Weise will der Mensch seine Unsterblichkeit sicherstellen. Ein tolles Bild hierfür sind die Horkruxe in "Harry Potter, Band 7".

    In der neueren Vergangenheit hat sich der Staat dadurch legitimiert, dass er vor allem Fürsorgepflichten erfüllt hat: Bildung, Altersvorsorge, Gesundheitswesen. Jetzt stehen wir in der Problematik, dass der Staat sich das nicht mehr leisten kann. Der Bürger zahlt gleichzeitig immer mehr Steuern und muss mehr und mehr wieder selber für seine Bildung, Altersvorsorge etc. tun. Deshalb braucht der Staat eine neue Legitimation. Also inszeniert er sich jetzt als Garant für Sicherheit, was wiederum noch mehr Unfreiheit mit sich bringt.

    Das permanente Outsourcing mündet in der Sucht nach Anerkennung durch Andere. Wenn man die Sorge für sein eigenes Leben an Andere delegiert hat, hat man nur noch eine Daseinsberechtigung, wenn man sein Leben damit verbringt, was für Andere zu tun. Man lebt nicht mehr aus sich selbst heraus.


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    1. Schön beschrieben. Ich halte den Mensch (bzw. die Spezies Mensch) gerade wegen Ihres Bewusstseins evolutionär eher für einen Irrtum. Im Vergleich zu nahezu allen anderen Lebensformen auf unserem Planeten sind wir ja extrem Jung. Die Tatsache das sich das Bewusstsein eigentlich selbst zu schwer ist spricht für sich. Es gibt so viele Beschreibungen dafür: Acedia, Taedium vitae, Lebenswehmut, Weltschmerz ... Cioran schreibt von dem Nachteil geboren worden zu sein ... Schopenhauer (find' ich sehr zutreffend) von dem ewigen Pendel zwischen Schmerz und Langeweile. Schmerz und Langeweile könnten hier in dem Kontext auch gut für Freiheit und Sicherheit stehen, wobei manche eben Sicherheit als Langweile und Freiheit als Schmerz sehen und manche umgekehrt.

      Eine Lösung gibt es nicht, ein ewiger Kampf. Weder kann man je komplett frei sein (das geht nur im "nichtsein", meiner Meinung nach) noch kann man komplett sicher sein. Ich beispielsweise finde jede Art von Abhängigkeit schrecklich: Materiell, ökonomisch und emotional. Am liebsten würde ich nicht mal von der Luft abhängig sein, die ich atmen muss. Irrational, klar. Aber selbst wenn ich total isoliert selbstversorgend weitestgehend unabhängig existieren würde bleibt langfristig nur eins: Langeweile. Der Mensch braucht Aufregung, obwohl Sie Ihn nur aufregt ;)

      "Ich denke, also bin ich!" sagte Decartes.
      "Ja, leider, wir haben ja keine Wahl" könnte man meinen.

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    2. Naja, das Bewusstsein hat seinen Preis, würde ich sagen. So wie jede Entlastung ihren Preis hat, der sich regelmäßig in Entfremdungszenarien (materiellen, seelischen, ökologischen...) zeigt. Das gehört gewissermaßen zur Grundaussage des Textes: Die Entfremdung ist nur für den etwas, "der wagt", wie Gehlen oben sagt.

      So, wie Sie sich hier ausdrücken, könnte man meinen, Sie wagten nicht. Jeder wie er kann und will... aber deswegen das Kinde mit dem Bade auszuschütten, würde ich nur wirklich melancholischen (oder medizinisch depressiven) Menschen erlauben.

      Ein Irrtum der Evolution ist der Mensch mit seinem Bewusstsein sicher nicht, denn das schöne ist, dass die Evolution nicht irrt. Sie ist ja lediglich ein Prozess, der sich entlang an ökologischen Notwendigkeiten und phänotypischen Gegebenheiten entfaltet. Evolution hat also (wenn man das schon personifizieren möchte) notwendigerweise Recht.

      Übrigens liebe ich Ciorans dunkle Aphorismen. Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass gerade in der Melancholie das Bewusstsein seine höchsten und schönsten Ausprägungen zu Markte trägt. Welch Ironie...

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    3. Lieber Fingerphilosoph, ich glaube das Problem unseres Missverständnisses liegt in der fehlenden Definition deines Freiheitsbegriffes. Du hast einen sehr weiten, absolut anmutenden und daher leeren Begriff von Freiheit. Freiheit kann es aber nur in Kontexten geben, in menschlichen, gesellschaftlichen vor allem. Was ist dein Kontext? Wenn du von deinem Freiheitsgefühl redest, wie kannst du dann nur im Entferntesten so eine Aussage treffen wie "Tiere sind frei"? Könntest du Freiheit definieren?

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  6. Hallo Herr Dietrich,
    ich verfolge ihren Blog erst seit ca. einem Jahr. Sowohl ihre Artikel als auch die Kommentare dazu lese ich mit Freude. Ich freue mich immer über die hohe Qualität der Beiträge. Ich finde, Menschen die denken sind ein wenig selten geworden in letzter Zeit. Der Großteil scheint eher dem eigenen Gefühl allzuviel Bedeutung beizumessen (und auch jedem eigenen Gedanken).

    Bis jetzt hatte ich noch nie die Gelegenheit mich zu Wort zu melden, aber zum Thema Freiheit habe ich Gedanken die ich gerne anbringen würde.

    Ich bin der Meinung, das den Menschen als Irrtum zu betrachten recht anmaßend und negativ formuliert ist. Er ist die Ausnahme, zumindest in diesem Sonnensystem, deshalb ist er noch lange kein evolutionärer Irrtum.

    Mir ist schon öfter aufgefallen, dass der Mensch in seiner Gesamtheit in der Kritik eher schlecht wegkommt. Ich teile durchaus misanthropische Ansichten. Mir ist der Mensch als solches oft zu wider. Dennoch möchte ich nicht ohne einige von ihnen sein. Und ich selbst bin sehr zufrieden mit meinem Sein trotz all der Abhänigkeiten. Man kann sich arrangieren wie ich finde. Und man hat immer die Wahl. Das vergessen die meisten. Ich habe wirklich immer die Wahl. Das ist die einzige garantierte Freiheit.

    Im Universum ist das Leben die Ausnahme. Leben ist grob gesagt die Veränderung eines Zustandes. Nämlich von Nichts zu Etwas. (Meine Formulierung ist etwas abstrakt, Harald Lesch formuliert das in "Warum nicht Nichts ist?" etwas zugänglicher)
    Das Leben besteht aus Bewegung. Mit Bewegung ist der Wechsel von Zuständen gemeint. So ist auch das Leben des Menschen. Das Hin und Her nimmt auch uns mit und wir können aus diesem Zyklus nicht aus. Diese Unfreiheit, denke ich, ist was den Weltschmerz auslöst. Weltschmerz haben reflektierte Menschen. Die auslösende Erkenntnis hier ist das wir abhängig (unfrei) sind. Wir sind in jeglicher Form abhängig. Abhängigkeit ist Schwäche. So zumindest die allgmeine Meinung. Deswegen wird die Sicherheit als Stärke betrachtet. Den Sicherheit sorgt dafür, dass das wovon wir abhängig sind ausreichend vorhanden ist. Daraus allein leitet sich (für mich) all das Übel ab. Das Individuum (oder auch das Kollektiv) schadet um die eigenen Abhängigkeiten gesichert zu haben. Im Übrigen ist auch eine Freiheit eine Sicherheit. Die Freiheit immer Zugriff auf die Ressourcen zu haben von denen man abhängig ist. Die Ampel als Notwendigkeit würde damit auch rausfallen. Sie bedient die Erhaltung der Abhänigkeit.
    Die Diskussion über absolute Freiheit (und Unfreiheit), Sicherheit (und Abhängigkeit) ist eigentlich müßig. Sie sind Gedankenspiele. In seiner Absolutheit ist keiner der Zustände zu erreichen, denn dann würde sich das Sein auflösen, wie der letzte Gast schon logisch schlussgefolgert hat. An dieser Stelle könnte man ewig weiter spekulieren. Am Ende bleibt das Leben ein Wechselspiel.

    Der Begriff der Freiheit ist wie der Begriff Gott. Eine leere Unmöglichkeit. Aber die Hoffnung darauf stirbt zu letzt.
    Aber man hat immer die Freiheit der Wahl. Man könnte auch aufhören zu sein. Aber Selbstmord ist irgendwie auch keine Lösung. Bleibt noch die Feiheit der Gedanken. Die mir persönlich genüge ist, seitdem mir klar ist, dass es im körperlichen Sein keine wahre Freiheit geben kann.

    Als letztes möchte ich mich dem Gefühl der Freiheit kurz widmen. Besser gesagt, das Gefühl das wir empfinden, wenn wir etwas das uns Kraft raubt entfliehen und wohin gelangen wo wir gefühlt Kraft schöpfen. Den meisten geht es genau dann so. Sie empfinden Freiheit. An dem Punkt, an dem man seine Energietanks wieder aufüllt, fühlt man sich frei. Denn neuer Kraftstoff bietet Energie für all die Möglichkeiten die wir uns ausmalen, die zu Erleben für uns Freiheit bedeutet. Ich denke, dass das Energie aufnehmen das ist, was uns das unbeschreibliche Gefühl von Leichtigkeit gibt. Vielleicht sollte man die Begrifflichkeiten neu definieren.

    Liebe Grüße
    L.It.

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    1. Der Gedanke, dass das Gefühl von Freiheit mit dem Auftanken der Energiereserven in eins fällt, spricht mich sehr an. Meine Gedanken gingen ursprünglich dahin, das Gefühl von Unfreiheit als innere Widersprüche oder Gespaltenheit aufzudröseln. Innere Widersprüche oder Gespaltenheit verbrauchen unnötig Energie, sie wirken schwächend. Auftanken der Energiereserven bringt Leichtigkeit und Freude mit sich. Wenn die Tanks leerlaufen, ist es Stress.

      Die Frage ist nun, ob unsere Kultur und die künstlich-technische Umwelt, die wir uns erschaffen, unsere Energietanks füllen oder leeren. Ich mache die Erfahrung, dass ein längerer Aufenthalt in einer Großstadt meine Tanks eher leerlaufen lässt. Aber das muss ja nicht bei jedem gleich sein. Trotzdem finde ich, aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, dass das Schaffen immer neuer Abhängigkeiten in immer komplexeren Mustern mir nicht mehr Energie gibt, sondern mir im Gegenteil Energie nimmt. Meistens gehen wir automatisch davon aus, dass Outsourcing uns mehr Freiraum, mehr Energie, mehr Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stellt, aber in Wirklichkeit mache ich gerade die gegenteilige Erfahrung. Je mehr ich bei mir selber bin und das auch bleibe, desto mehr Energie habe ich zur Verfügung.

      Und deshalb: Wahlmöglichkeiten haben nichts mit Freiheit zu tun. Genau das ist doch der Irrtum, dem wir so gerne aufsitzen. Wählen zu müssen, ermüdet.

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    2. Hallo L.It. Danke, dass Sie sich zu Wort melden. Freue mich immer, wenn Leser etwas beitragen und ich sie damit kennenlerne. Vieles, das Sie sagen, würde ich unbedingt unterschreiben... das Leben als Wechselspiel und die Sache mit der Unmöglichkeit absoluter Begriffe. Ich meine, dass Menschen diese Unmöglichkeit oft nicht begreifen und deswegen aus einem Gefühl heraus, nicht endlos frei zu sein, den Fehlschluss bilden, unfrei zu sein. Es ist wie Sie sagen:

      "Ich habe wirklich immer die Wahl. Das ist die einzige garantierte Freiheit."

      Sehr schön!

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    3. Gut gesehen, lieber Fingerphilosoph: "Wahlmöglichkeiten haben nichts mit Freiheit zu tun... Wählen zu müssen, ermüdet." Das ist ein Paradox der Freiheit, denn bis zu einem bestimmten Punkt tragen Wahlmöglichkeiten schon zur Freiheit bei, aber nicht endlos.

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