8. November 2016

Das Zeichen wahrer Liebe

Was wir von unserer Liebe zu Kindern lernen können

Es ist wundervoll, in einer Welt zu leben,
in der so viele Menschen nett zu Kindern sind.
Es wäre sogar noch schöner, wenn wir in einer Welt lebten,
in der wir gegenseitig etwas netter zu den kindischen Seiten
in uns wären. (Alain de Botton, The Course of Love*, S. 120)

Unlängst schrieb ich verwundert über die Liebe, die wir Erwachsene gegenüber Kindern aufbringen. Ich machte mir Gedanken, wo die Liebe herkam und mutmaßte, dass es etwas mit der kindlichen Unschuld, der Sorglosigkeit und dem Spielerischen des kindlichen Verhaltens zu tun haben müsste. Und nun las ich all das so schön zu Ende gedacht und auf den Punkt gebracht in zwei Sätzen von Alain de Botton:

"Gesellschaften werden für die Qualitäten empfindlich, die ihnen fehlen. Eine Welt, die einen hohen Grad an Selbstkontrolle, Zynismus und Vernunft verlangt und die sich durch extreme Unsicherheit und Konkurrenzdenken auszeichnet, erkennt in der Kindheit die fehlenden Tugenden – Qualitäten, die sehr strikt und definitiv aufgegeben werden mussten, um Zutritt zur Erwachsenenwelt zu erlangen." (Alain de Botton, S. 117)

Wir lieben also in den Kindern das, was wir wohl irgendwie verloren oder abgegeben haben und nach dem wir uns zurücksehnen. Wir verzeihen unseren Kindern darüber hinaus auch jeglichen Blödsinn, jede Unvernünftgkeit und Ungerechtigkeit, die sie mit der Regelmäßigkeit und Naturgesetzlichkeit von Ebbe und Flut über uns kommen lassen. Das Unreife in den Kindern, das wir "durch die Linse unserer erwachsenen Erfahrungen sehen", erscheint uns als besonders liebenswert. Wenn wir jedoch Zeugen eines unreifen Verhaltens von Erwachsenen werden, erscheint uns das als besonders unangebracht.

Die Ungerechtigkeit der Liebe

Und ganz besonders unreif verhalten sich zudem auch noch die Menschen, die wir lieben. Es ist ein Fluch. Wir haben an einem schönen Tag mal diesen wundervollen Menschen kennengelernt – höflich, selbstlos, kultiviert, nachsichtig – und wir haben uns in diesen so erwachsenen und angenehm reifen Menschen verliebt. Und dann vergeht eine gar nicht so lange Zeit und wir bekommen mit, wie die vorgeblich so höflichen, selbstlosen und nachsichtigen Seiten dieser wundervollen Person offenbar nur noch für andere reserviert sind. Uns gegenüber werden nun immer öfter die unreifen Seiten gezeigt: unfreundlich, egoistisch, schlampig und nachtragend. Womit haben wir das verdient?

Ich bin einer der ersten, die sich dazu schuldig bekennen, sich immer wieder ungerecht behandelt zu fühlen. Meine Frau kommt mit schlechter Laune nach Hause... Womit habe ich das verdient? Wieso lässt sie den Frust von ihrer Arbeit an mir aus? Das ist doch nicht meine Schuld! Im Gegenteil, von mir kann sie doch Ausgleich in Form von Liebe bekommen, aber dann muss sie mich gefälligst auch liebevoll behandeln. Und ich Depp habe sie sogar noch lieb an der Tür begrüßt... Hätte ich das gewusst! Ich kann dann richtig nachtragend werden, indem ich ihr Verhalten spiegle und somit noch zusätzlich zur schlechten Laune beitrage.

Eine neue Liebe

Und dann im Vergleich mein vier Monate alter Sohn: Schreit mich an, wenn ich ihn sanft in den Schlaf singen möchte, tritt mir in den Bauch, wenn ich ihn an mich schmiege, weckt mich durch regelmäßiges Krähen bis ich um 5 Uhr, wenn ich den Schlaf am nötigsten hätte, endlich aufgebe und mit ihm aufstehe. Später, wenn er einige Jahre alt ist, wird er mich immer noch anschreien, obwohl ich seine besten Interessen verfolge. Er wird mich anlügen und hintergehen, er wird mich bestehlen und irgendwann mich gar offen anfeinden und vor anderen bloßstellen. Er wird all das machen und meine Liebe zu ihm wird keinen Deut kleiner werden. Ich werde ihm alles verzeihen, solange er ein Kind ist. Ich liebe ihn, weil er mich braucht, meine Größe, meine Stärke, meine Weisheit und Ruhe und Gelassenheit.

Was mich zu dieser Liebe befähigt, ist der zugrundeliegende Glaube, dass das Kind gut ist und dass es nur darum geht, herauszufinden, was ich tun kann, damit es ihm wieder gut geht und das Gute wieder zum Vorschein kommt. Ich interpretiere also und weiß dann, es ist Schlafmangel, Hunger, ein Verdauungsproblem oder die kommenden Zähne, die mein Kind so aufwühlen, dass es unleidlich und wütend wird, mich anschreit, kneift und tritt.

"Wie liebevoll wir wären, wenn es uns gelänge, nur ein wenig dieses Instinktes in unsere Lebenspartnerschaften zu übertragen. Wenn wir auch hier über die Unleidlichkeit und die Bösartigkeit hinweg schauen könnten und statt dessen die Angst, Verwirrung und Erschöpfung erkennen könnten, die den Launen unweigerlich zugrunde liegen. Genau das hieße es, mit Liebe auf die Menschheit zu blicken." (Alain de Botton, S. 120)

Es ist nicht verwunderlich, meint Alain de Botton, dass wir als junge Erwachsene los ziehen und diese erste Liebe noch einmal suchen. Diese Liebe, die nur gibt, die uns annimmt, wie wir sind, egal, was wir tun, die selbstlos und vergebend ist. Und ebenso ist es nicht verwunderlich, dass wir enttäuscht sind, wenn wir statt dessen nur auf andere treffen, die ebenso wenig bereit sind, diese Liebe zu geben, weil auch sie die bedingungslose Liebe suchen, die sie als Kind vielleicht erfahren haben. Verzeihen wir uns doch einfach gegenseitig, dass wir in unserem Bedürfnis nach Liebe wieder Kinder sein wollen. Glauben wir an das Gute im anderen, das sich durch widrige Umstände verborgen hält.

Dass meine Frau mich zu dem wählt, an dem sie all ihren Frust auslassen und ihre Wut abreagieren kann, das ist das eigentliche Zeichen der Liebe. Mir vertraut sie, bei mir weiß sie, dass unsere Liebe das überleben wird. Wir Erwachsenen haben in dieser oft harten und kalten Welt kaum Refugien, um das Kind in uns rauszulassen und den Trost und die Liebe noch einmal zu erleben, die uns in unseren ersten Jahren das Überleben gesichert hat. In der Liebe zu einem anderen Menschen kann das möglich sein, wenn wir uns gegenseitig zugestehen, dieses Refugium der . Und als Eltern haben wir immerhin noch einmal die Möglichkeit, die bedingungslose Liebe – aus der Notwendigkeit heraus – zu geben.



Alle Zitate sind aus der englischen Originalausgabe The Course of Love und von mir übersetzt.

Das passt dazu:

2 Kommentare:

  1. "Wir lieben also in den Kindern das, was wir wohl irgendwie verloren oder abgegeben haben und nach dem wir uns zurücksehnen.“
    Das klingt gut!
    „Wenn wir auch hier über die Unleidlichkeit und die Bösartigkeit hinweg schauen könnten und statt dessen die Angst, Verwirrung und Erschöpfung erkennen könnten, die den Launen unweigerlich zugrunde liegen.“
    Den Launen liegen auch Ansprüche zugrunde, Übertragungen, alte Bilder und Ungeduld. All das bekommt man ab, wer denn sonst?! Einer muß ja als Projektionsfläche dienen. Das ist dann natürlicherweise der „Nächste“.
    „Dass meine Frau mich zu dem wählt, an dem sie all ihren Frust auslassen und ihre Wut abreagieren kann, das ist das eigentliche Zeichen der Liebe. Mir vertraut sie, bei mir weiß sie, dass unsere Liebe das überleben wird.“
    Sicher ist das ein Aspekt. Man kennt sich ja. Man weiß auch, das unselige Verhalten des Partners ist meist eine Ausnahme und nicht die Regel, insofern tolerabel.
    Immerhin hat die Partnerin/der Partner uns gewählt, ist bereit, sein Leben mit uns zu teilen. Das ist für sich allein schon ein kleines Wunder!

    Gerhard

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  2. Ein schöner Beitrag. Sozusagen der "Kindskopf" in uns. Ich hoffe, dass sich noch einige mehr, darin erkennen. :-) Ich schon :-)

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