Seiten

Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

18. November 2016

Die Bandbreite des Lebens wiederentdecken

Die wertvolle Nutzlosigkeit von Kunst und Literatur

Kunst kann uns stimmen.
Stellen Sie sich eine verstimmte Geige vor!
Sie zu stimmen, dass sie wieder in Harmonie ist,
das ist, was Kunst kann. (Michael Longley)

Unsere Leben sind oft hektisch und zerstreut, geprägt von profanen Sorgen um Arbeit, Beziehungen, Politik und das, was in der Zeitung steht. Nicht selten sind es aufgebauschte Kleinigkeiten, die uns sehr groß und bedrohlich erscheinen. Man könnte sagen, dass diese Form des Seins uns nur sehr einseitig fordert und uns und unsere Wahrnehmung damit zu verengen und zu verzerren droht. Das Leben ist doch größer als die immer währenden Besorgungen des Alltags. Da stimmen wir sicher alle zu. Und trotz dieses Wissens geht die Größe des Lebens oft verloren, sie entzieht sich immer mehr, wird unsichtbar und damit irgendwann auch unerreichbar. Was können wir tun, um uns die ganze Bandbreite des Lebens offen zu halten?

Der irische Dichter Michael Longley meint, wir seien wie verstimmte Geigen

Michael Longley zur Aufgabe der Kunst

Die Größe des Lebens zeigt sich zuerst einmal – wenn wir nur hinschauen – in vielen naheliegenden Facetten, zum Beispiel in den Möglichkeiten unseres Körpers, wie Nina Simon in ihrem Song Ain’t Got No, I Got Life sie besingt ("Got my hair, Got my head Got my brains, Got my ears Got my eyes, Got my nose Got my mouth, I got my smile..."). Selbst wenn wir nichts anderes hätten, wir haben immer unseren Körper, das ist ein radikaler Freiheitsgedanke. Wir machen uns das nicht oft klar, aber unsere Körper sind endlose Gefühls- und Glücksmaschinen, wir müssen sie nur einsetzen, in der Natur, beim Sport, beim Sex, beim Tanzen und so weiter. Andere Weiten des Lebens zeigen sich in der Ästhetik, wenn wir uns Kunst anschauen oder eine Landschaft, wenn wir etwas essen und dabei wirklich genießen. Oder die Kreativität und das Geistesleben, das Lesen, Schreiben und Nachdenken – auch das sind erweiterte Dimensionen des Lebens, die wir uns nur zu selten erlauben, überhaupt zu erblicken.

Die schlechte Nachricht ist, dass wir langsam blind und taub für diese Spektren des Lebens werden, wenn wir sie immer ausblenden. Es braucht eine immer wiederkehrende Beschäftigung mit solchen Dingen, damit wir sensibel und empfänglich für ihre Werthaftigkeit bleiben. Die gute Nachricht ist, dass das gar nicht schwer ist, sondern eine Freude, eine Leichtigkeit, die einfach aus der Wahrnehmung von etwas anderem kommt als den oben genannten kleinlichen Sorgen. Wir müssen nur Wege finden, uns auf diese Bandbreite des Lebens einzustimmen.

Leider nicht auf Deutsch
Der irische Dichter Michael Longley meint, die Kunst könne uns "einstellen" oder wie ein Instrument auf all die Wellenlängen, Töne und Bandbreiten stimmen, zu denen wir fähig sind. Kunst, Literatur und Poesie machten uns menschlicher, intelligenter, sensibler und authentischer in unserer emotionalen Fassung. Dabei ist das Faszinierende, dass Kunst oder Poesie in der Regel nicht mit solch einem Ziel geschaffen wird. Kein Dichter setzt sich hin und sagt, ich schreibe jetzt ein Gedicht, dass die Menschen läutern und bessern wird. Es gibt Ausnahmen wie zum Beisiel bei ideologischer Kunst, wie wir sie aus dem Dritten Reich oder dem Sozialismus kennen, wo Kunst regelmäßig instrumentalisiert wurde. Ich weiß nicht, ob das verallgemeinerbar ist, aber solche auf einen Zweck forcierte Kunst hat bei mir einen abschreckenden Effekt: Als Betrachter oder Leser fühle ich mich in eine bestimmte Richtung gedrängt und merke, dass ich hier nicht frei in der Kunst bin, sondern dass ich agitiert werde. Das erregt Widerwillen in mir. Solche Agitation kann sicherlich eine Gruppe von Menschen hinter eine gemeinsame Sache vereinen, sagen wir gegen den Feind im Krieg mobilisieren oder für die Diktatur des Proletariats vorübergehend gnädig stimmen. Solche Agitation wird uns aber nicht auf die subtilen Außenbereiche unserer Wahrnehmung und unseres Denkens einstimmen, wie es bei interpretationsoffenen Kunstwerken oder Texten der Fall sein kann, die uns in unserer Menschlichkeit erweitern. Longley meint:

"Eines der wunderbaren Dinge der Poesie ist, dass sie nutzlos ist. Welchen Nutzen hat Poesie, fragen Leute mich manchmal. Beim Fleischer kommen sie auf mich zu und fragen: Welchen Nutzen hat Poesie? Die Antwort ist: Gar keinen! Aber das heißt nicht, dass sie ohne Wert wäre. Poesie hat keinen Nutzen, aber sie ist wertvoll. Poesie ermutigt uns, selbst zu denken und die Kirche und den Staat zu ignorieren. Das ist kein Nutzen, aber es ist wertvoll."

Longley geht auch auf das Phänomen ein – und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Donald Trump, dass unser Alltag durch offensichtliche Lügen verbal vergiftet scheint und dass die Literatur dagegen wenig ausrichten kann. Aber, sagt er, Literatur kann uns zivilisieren. Wir müssen ihr eben nur den Raum geben. Und ich sehe das an mir selbst, wie unglücklich und zerknirscht ich werde, wenn ich in Radio und Fernsehen diesen ganzen uninspiriert-journalistischen Analysen, Berichten und Zitaten zuhöre, die sich von Tag zu Tag um denselben Mist drehen. Wie soll man da nicht spirituell entkernt in sich zusammenfallen?

Aber wir haben es selbst in der Hand. Wir müssen unsere Kapazität nicht täglich mit diesem dumpfen Tagesgeschehen sättigen lassen. Warum immer Radio und Fernsehen, Ratgeber und Spiegel Online, Facebook und Zeitung? Sind wir nicht schon so schlecht gelaunt genug? Ob wir es merken oder nicht, der Konsum all dessen ohne ästhetischen Ausgleich verkrüppelt unseren Sinn für das Leben, lässt Kreativität und Sensibilität verkümmern. Was spricht dagegen, nur halb so viel davon zur Kenntnis zu nehmen und die freigewordene Kapazität für schöne Dinge zu nutzen, die unsere Sinne erfreuen und unseren Geist anregen? Das ist so einfach, wie in die Natur zu gehen, in eine Ausstellung, einen guten Film zu sehen oder einfach mal das Buch aus dem Schrank zu nehmen, das dort schon so lange steht. Einfach mal machen!



Das passt dazu:

8 Kommentare:

  1. Gestern las ich auf BLENDLE einen Artikel von Elisabeth Bernstein zum Thema "Why making New Frieds is Harder for Grown-Ups". Zum Start wird erstmal wissenschaftlich begründet, warum Freundschaft nützlich ist:

    "I’m trying to make new friends. A body of research shows that people with solid friendships live healthier, longer lives. Friendship decreases blood pressure and stress, reduces the risk of depression and increases longevity, in large part because someone is watching out for us."

    Immerhin folgt noch eine Studie, die belegt, dass Menschen mit häufigen Sozialkontakten mit engen Freunden glücklicher sind (es sei denn, sie sind hoch intelligent).

    https://blendle.com/i/the-wall-street-journal/why-making-new-friends-is-harder-for-grown-ups/bnl-wallstreetjournal840-20160419-39_2

    Dass ein Artikel überhaupt SO geschrieben wird, ist schon ein Zeichen, dass es keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt. Alles muss mit einem konkreten, wissenschaftlich nachweisbarem NUTZEN belegt werden - also auch Freundschaft, Liebe, Zärtlichkeit bis hin zu Zimmerpflanzen (verbessern die Atmosphäre) und Gartenarbeit (Stressabbau...). Für Lyrik und bildende Kunst wird es sicher auch irgendwo Studien geben - und wenn nicht, ergibt sich da doch eine Chance für den wissenschaftlichen Nachwuchs in den Geisteswissenschaften.

    "Einfach mal machen" scheint zur Sünde zu werden, sofern man nicht nachweisen kann, dass das jeweilige Tun oder Nichttun einen konkreten Effekt auf die "Humane Ressource" hat, als die man vom Zeitgeist einzig geschätzt wird.

    Aber du hast natürlich recht: Noch können wir anders, zumindest zeitweise! Danke für den schön formulieren Schubs!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke für den Kommentar.
      Ich denke, dass es ganz besonders im Privaten diese Zwecklosigkeit zu verteidigen und wenn möglich über das Private hinaus auszudehnen gilt. Nicht nur Kunst kommt von daher, auch Muße, Tagträumen und all die Standardeinstellungen des Gehirns, also im Wesentlichen unsere geistige und emotionale Gesundheit, also was man im Alltagsgebrauch Seele nennt.
      Was mich besonders annervt, ist so etwas wie instrumentalisierte Erholung, also Meditieren, dass man am Montag wieder funktioniert oder Laufen, damit man sich für den Job fit hält. Daher suche ich und genieße "zwecklose" Momente wie Langeweile oder Poesie.

      Löschen
  2. Spirituell entkernt in sich zusammenfallen, ist das Beste, das einem Menschen passieren kann. Wenn die Journalisten mit ihrem täglichen Mist das fertigbringen, bekomme ich nachgerade Respekt vor ihnen.

    Der Artikel evoziert das Bild eines Lesers, der auf einem Blümchensofa sitzend in einer Hand mit abgespreiztem kleinen Finger ein Teetässchen, und in der anderen ein aufgeschlagenes Buch hält, vorzugsweise "Der Kleine Prinz", "Stein und Flöte", "Im Schatten des Windes" oder vielleicht auch "Nachtzug nach Lissabon" und sich bei seinem Tun selber mehr als Kunstfreund und Genießer feiert, statt vom Buch wirklich gefesselt zu sein.

    Also, wenn man ein Buch auswählt, um "seinen Geist anzuregen" oder Sex hat, um "seine Sinne zu erfreuen", kann man das gleich bleiben lassen. Das ist eine narzisstische Falle, in der gähnende Langeweile vorprogrammiert ist.

    AntwortenLöschen
  3. Hallo Gilbert und Fingerphilosoph,
    ich lese Dinge, die bei mir Widerspruch aufkommen lassen.
    " instrumentalisierte Erholung, also Meditieren, dass man am Montag wieder funktioniert oder Laufen, damit man sich für den Job fit hält. "
    Weshalb meditieren Leute? Ich hoffe doch, daß man Meditieren nicht instrumentalisiert, etwa weil das ein Königsgweg zum Erwachen sein soll. Solche ehrgeizige Ziele sind ja kontraproduktiv.
    ich bin seiner Zeit (Anfang 30) gelaufen, weil es mich glücklich gemacht hat. Abgesehen davon ist es schön, seinen Körper leistungsfähig zu erleben. Wenn fast jeder Schritt wie Honig kosten ist, dann ist das ein sehr schönes Erlebnis. Allerdings machten meine Gelenke das abrupt nicht mehr mit.

    Eine Anregung durch ein Buch in einem abstumpfenden Alltag: Was kann es Schöneres geben, wenn das ein Buch schaffen kann!
    Sex lässt uns in einen besonderen Raum eintreten, der im Alltag nicht "tönt". Es ist das Spielen einer besonderen Seite in einem - und stellt zudem Intimität her - ein kostbares Gut!Wieso also diesen Raum nicht bewusst aufsuchen?
    Besser kann ich es im Moment nicht formulieren, sorry.


    Gerhard

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Hallo Gerhard, danke für den Kommentar. Ich weiß natürlich nicht, was Leute machen und warum und es ist mir eigentlich auch Recht, dass jeder selbst entscheidet, wie nutzengetrieben sie ihr Leben gestalten.

      Dein Beispiel vom Laufen, weil es dich glücklich gemacht hat, ist prima. Denn du bist je nicht gelaufen, um glücklich zu werden, sondern, weil es dir eine bestimmte Lebensqualität gegeben hat. Das meine ich mit "einfach machen", ohne immer alles an Zwecke zu binden. Mit dem Sex und dem Buch ist es für mich genauso: Die Freuden, Anregungen und auch ganz basalen positiven Empfindungen sind so mannigfaltig, dass sie in ein zuvor gedachtes "um-zu" gar nicht passen.

      So ist es auch mit der Alltagsflucht beim Lesen: Ich denke, dass ist eine Verkürzung, eine Formel, die wir so daher sagen. Aber niemand liest ernsthaft ein Buch, "um dem Alltag zu entfliehen". Es ist so komplex, was da in uns passiert, wenn wir Literatur lesen, gerade Poesie. Anders ist es freilich mit Ratgebern, da sind die "Um-zu-Zusammenhänge" deutlicher und es ist erst Recht keine Alltagsflucht. Und interessanterweise sagst du ja auch nicht, dass du liest, um zu fliehen, sondern du sagst, dass du Anregungen durch Bücher in einem sonst abstumpfenden Alltag bekommst. Man kann, wenn man muss, solche Sachen in "Um-zu-Verhältnisse" umdeuten, aber am Ende ist es einfach eine zusätzliche Dimension, die für mich zur Bandbreite meines Lebens gehört, so wie die Freude am Körper, der Genuss beim Essen, das Erleben der Natur. Das ist bei mir alles nicht zuerst zweckgebunden, sondern immer erst einmal ein erleben.

      Löschen
    2. Danke, Gilbert!
      Grundsätzlich möchte ich reflektieren können, ohne mir immer Rechenschaft ablegen zu müssen, ob die Gedanken kraus, krud, blöd oder simplifizierend sind. Ich bin auch quasi "NEU HIER".

      Sicher können und sollen Widersprüche bekannt gemacht werden. Dinge aufgezeigt werden, die man nicht gesehen hat. Aber zunächst entwickele ich erst mal was, ohne umfangreiche Prüfung. Kenntnisse und Erfahrung zum Abwägen wenig vorhanden!

      "Um-zu"
      Klar lese ich auch Sachbücher, UM besser argumentieren zu können.
      Aber neben dieser "schnöden" Absicht geht es mir doch um Erkenntnisgewinn...und .....Schönheit.
      Schön sind die Erkenntnisse der Wissenschaft. Schön sind die fast unendlichen Möglichkeiten des Menschen, in Komplexitäten abzutauchen und reiche Gesetzmässigkeiten und Erkenntnisse zu formulieren.
      Ich staune oft über die Möglichkeiten, die sich uns immer wieder und in großer Velfalt auftun.

      Poesie, Lyrik, dem widme ich nur gelegentlich Raum, wennauch ich auch manchmal ein Gedicht verfasse. Weil ich das auch kann und es mir Spaß macht.


      Gerhard

      Löschen
    3. Das ist eine gute Erinnerung, denn in dem Sinne will dieser Blog hier eigentlich einladen zum Denken, zur Kreativität und nicht zur rigiden und systemischen philosophischen Untersuchung dessen, was richtig und was falsch ist. Das ist natürlich ein Balance-Akt. Wenn alles nur noch lose und assoziativ ist, dann hat es nichts mit Philosophie zu tun. Wenn es aber zu theoretisch und exakt ist, hört es für mich auf, Spaß zu machen.

      In dem Sinne sind mir auch Kommentare immer sehr lieb, die erst einmal offen mit dem Text umgehen, denn man muss nicht immer gleich ein Urteil über alles haben, sondern kann sich auch erst mal einlassen und wohlwollend sehen, was zu einem passt und was nicht. Offene und wohlwollende Kritik ist als Kunst des Drahtseilaktes natürlich auch wichtig.

      Löschen
  4. Am Sonntag meditieren, um am Montag im Job zu funktionieren, lehnst Du ab. Ein Buch zu lesen, um dem stumpfen Alltag zu entkommen, findest Du gut. In beiden Fällen ist es ein "um ... zu", also eine Instrumentalisierung. Es geht in beiden Fällen bloß um den Nutzen. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass der Nutzen, wenn Du in Deinem Job erfolgreich bist, in Form von Geld und Anerkennung auf Dich zurückkommt, während der Nutzen im Falle des Lesens in einer kurzfristigen Flucht aus einem als unschön empfundenen Zustand besteht. Das macht für mich keinen großen Unterschied. Es ist in beiden Fällen reines Nutzdenken. Nicht, dass das schlecht ist, aber es ist Nutzdenken.

    Sex haben, um in einen besonderen Raum einzutreten, um die Sinne zu erfreuen, um Intimität herzustellen: so formuliert ist das ebenfalls eine Instrumentalisierung. Du hast nicht Sex, weil Du Dich Deiner Lust anheimgibst, sondern weil Du Dir ein besonderes Erlebnis erhoffst. Das ist nicht dasselbe.

    Im Zen heißt es: Ich sitze, weil ich sitze. Ich gehe, weil ich gehe. Die Tätigkeit als solche ist Selbstzweck. Es gibt kein "um ... zu".
    Es ist pure Erfahrung.

    Probier es mal aus. Dann siehst Du, dass es nicht dasselbe ist.

    AntwortenLöschen