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21. Mai 2016

Gaia! Können wir uns noch retten?

Menschendämmerung im Anthropozän

Viele von uns kennen Gaia als den Begriff für unsere Erde als lebendes, ja fühlendes und willensgesteuertes System. Wir finden vielleicht so etwas wie Hoffnung, Trost oder auch Trauer in dem Gedanken, dass die Erde, von der wir tagtäglich zehren, die wir auszehren und zugrunde richten, selbst ein lebendes Wesen mit Gefühlen und Rechten ist. Trauer: Wie können ihr wir so etwas nur antun? Trost: Sie wird sich zu wehren wissen und letztlich überleben, indem sie sich der Menschen wie Parasiten entledigt. Hoffnung: Sie wird als die große Mutter Erde einen Weg des Überlebens für uns alle finden.

Atlantik-Küste von Namibia: Sandwinde und Schwefelwasserstoffe (Bild gemeinfrei von NASA)

Eine Fülle handelnder Kräfte

Allein, solche allzumenschlichen Impulse helfen uns nicht weiter, wenn wir verstehen wollen, wie genau wir das System Erde beeinflussen und wir wir es und somit uns über die nächsten Jahrzehnte retten können. Der französische Philosoph Bruno Latour sagt:

"Es macht überhaupt keinen Sinn, Gaia Gefühle oder Absichten solcher Art zu unterstellen! In der griechischen Mythologie ist Gaia sogar eine ziemlich furchterregende Göttin. [...] Allein die Lektüre des Mythos sollte uns vor kitschigen Versionen der Gaia-Hypothese warnen. Und wir sollten nicht vergessen, dass sie sich auf einen mythologischen Diskurs bezieht, nicht auf eine offenbarte Wahrheit!" (Latour im Gespräch mit dem Philosophie Magazin Februar/März 2016, S. 36)

Und auch schon der Urheber der Gaia-These, der in New-Age-Kreisen seit den 70er Jahren verehrte James Lovelock, hat sich gegen esoterische Auffassung verwahrt und darauf bestanden, dass er Naturwissenschaftler ist und sich den Grenzen dieser Wissenschaften verpflichtet fühlt. Als Essenz kommen wir mit der Gaia-Hypothese zu der Einsicht, dass die Erde keine passive Umgebung für uns Menschen und andere Lebewesen ist, sondern ein System, das komplett aus Lebendigem besteht. Der Ansatz liefert uns also die Möglichkeit, "die Welt als eine Fülle handelnder Kräfte zu verstehen." (ebd.)

Diese Sicht der Welt als System, das zwar nicht selbst ein Organismus ist, aber aus lauter Netzwerken von Organismen und Objekten besteht, kommt dem antidualistischen Denken Latours sehr entgegen. Latour sieht unsere Welt als ein andauerndes Ineinanderaufgehen von Natur und Kultur. Sehen wir uns das wunderschöne Bild oben an: Wir sehen die Küste Namibias mit Sandstürmen, die übers Meer wehen und grüne Schwefelwasserstoffabsonderungen. Was ist natürlich und was ist von Menschen gemacht? Nicht nur, dass man das nicht genau feststellen kann, denn die Sandwinde können mit zunehmender durchaus auch menschengemachter Verwüstung der Erde erklärt werden und der Schwefelwasserstoff resultiert aus dem Zusammentreffen sauerstoffarmen Wassers und den kohlenstoffreichen Gesteinen an der Küste. Es ist von vornherein die falsche Frage, weil ihr ein unzutreffender Dualismus von Natur und Mensch zugrunde liegt. Um zu verstehen, was passiert, müssen wir die Interaktionen in Systemen und zwischen Systemen, Organismen und Objekten denken.

Ein neues Zeitalter

Mit der Erfolgsgeschichte "Menschheit", der weltweiten Besiedelung des Planeten durch uns (kein anderes Tier hat das geschafft) und der damit einhergehenden Nutzung der Ressourcen samt der Rückführung all der Abfälle oder Stoffwechselprodukte in unsere Umwelt, sehen manche wie Peter Sloterdijk und auch Bruno Latour ein neues geologisches Zeitalter angebrochen, das Anthropozän, das neue und vom Menschen gemachte.

"Dahinter steckt, dass man einen neuen Namen finden muss für die Tatsache, dass sich derzeit neue, durch menschliche Aktivitäten entstandene chemische Verbindungen im Erdboden ablagern. Die Menschheit ist nicht nur dabei, das Klima zu verändern, sie beeinflusst auch die Gesteinsschichten. Das neue am Anthropozän ist der Begriff der 'großen Beschleunigung', der von einigen Geologen selbst vorgeschlagen wird: Allen geologischen Epochen ist gemeinsam, dass sie sich über einen großen Zeitraum erstrecken. Das Anthropozän entspräche einer Veränderung der Bodenzusammensetzung in sehr kurzer Zeit, innerhalb weniger Jahrhunderte." (ebd. S. 37)

Für Peter Sloterdijk kommt darin nicht nur die erstaunlich radikale Tatsache menschengemachter Natur zum Ausdruck, sondern auch - wie soll es anders sein - ein schwerer Imperativ, der sich aus der "Fähigkeit zur Täterschaft in geo-historischen Dimensionen" (Sloterdijk 2016, S. 8) ableitet:

"Der Mensch ist für die Geschäftsführung der Erde im ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht." (ebd. S. 7)

Was machen wir nun mit dieser Verantwortung und der Erkenntnis, dass Gaia als bisher alles integrierendes System im Zeitalter des Menschen an die Grenze des nachhaltigen Funktionierens kommt? Wir sehen keine reinen Natur- versus Kulturphänomene, also sollten wir aufhören, so Latour, eine idealisierte Natur bewahren zu wollen, die nie existiert habe. Statt dessen müssten wir die manchmal monströsen Systeminteraktionen, die wir mit Technik in Gang und in die Natur bringen in ihrer Fülle zur Kenntnis nehmen und damit arbeiten. Das hieße auch, dass viele gegenläufige Interessen zu vertreten wären: Geld mit neuen Produkten und Dienstleistungen zu verdienen ist ein legitimes Interesse, das aber nicht über das Interesse an sauberem Trinkwasser, grünen Wäldern, guter Luft oder dem Leben von Tieren dominieren kann. Bruno Latour hat deshalb ein "Parlament der Dinge" (Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie) vorgeschlagen:

"In meinen Augen ist es nicht normal, dass in der Politik nur die Menschen vertreten werden beziehungsweise die Kultur. Es braucht also außer einem Rat, der die Menschen vertritt, einen Rat, der die Nichtmenschen vertritt, zumal das leben der einen aufs Engste mit dem Leben oder dem Zustand der anderen verknüpft ist! Um ein Parlament der Dinge einzusetzen, müsste man im Prinzip damit beginnen, die Gebiete zu kartografieren, die sich im Konflikt befinden, eine Aufgabe, für deren Umsetzung sich viele mit mir gemeinsam engagieren." (Philosophie Magazin Februar/März 2016, S. 39)

Bruno Latour wird mit seinem neuen Realismus zunehmend einflussreicher und ich habe mich sehr gefreut, als ich seine Gedanken in Peter Sloterdijks neuem Buch Was geschah im 20. Jahrhundert? (wenn auch unzureichend zitiert) wiederfand. Sloterdijk schreibt, dass das Konzept des Anthropozäns die Sorge um die "Kohabitation der Erdenbürger in humaner wie nichthumaner Gestalt" (Sloterdijk 2016, S. 42f.) enthalte und dass die Idee des Anthropozäns uns dazu herausfordere, das gesamte Netzwerk der Dinge und Organismen inklusive der Menschen dringend zu berücksichtigen.



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4 Kommentare:

  1. Hallo Gilbert,
    Du schreibst von Netzwerken der Dinge und Organismen inklusive der Menschen. Vielleicht kann man demnächst mit Informatik solche Netzte abbilden:

    http://www.deutschlandfunk.de/maschinelles-lernen-ohne-verstand-ans-ziel.740.de.html?dram:article_id=349980

    Aber abgesehen davon: Ein Großteil (nicht alle!) Eingriffe des Menschen in die Gesundheit von Gaia sind offensichtlich. Da braucht man keine Supercomputer.
    Das Parlament der Dinge ist nichts anderes wohl als das alte "Die Natur hat keine Stimme, keinen Vertreter". Kämpfer für die Natur gibt es wohl, aber die haben wenig Macht. Sie können nur aufzeigen, was schiefläuft.
    Wann der Bruch passieren wird? Einem Körper kann man Jahrzehnte ungemein viel zumuten, sei es kritische Genußmittelzufuhr, Stress oder exzessiver Sport: Plötzlich kommt abrupt ein Signal: Das ging zu weit und vor allem zu lange!
    Ich würde gerne schauen, wie es hier in 100 Jahren aussieht!
    Ich denke, manche Problemstellung ist einfach grundsätzlich zu schwierig, nahezu unlösbar.
    Von alleine aber wird sich nichts richten.

    Gerhard

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    1. Hallo Gerhard,
      ich denke schon, dass man mithilfe von Computern sehr viel genauer die komplexen Interaktionen von Mensch und Umweltsystemen analysieren kann. Das kann wertvolle Hinweise auf mögliche Verhaltensänderungen geben.

      Ich denke, dass das, was Latour als Parlament der Dinge" vorschlägt, mehr ist, als dass die "Kämpfer für die Natur" einen Platz am runden Tisch bekommen. Er will ja genau diese Gegenüberstellung von Naturschutz vs. Macht (Politik oder Wirtschaft oder...) vermeiden und kritisiert mithin auch die "Kämpfer für die Natur", weil sie für den Erhalt einer Natur kämpfen, die es so nie gab. Vielmehr muss es um ein integriertes Verständnis und um ein Aushandeln der Interessen gehen, die eben nicht so einfach von einander abgrenzbar sind.

      Viele Grüße!

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  2. Es ist doch schon lange nicht mehr so, dass Naturschützer eine vormenschliche Natur schützen wollen (die es ja durchaus gab!). Es gibt im Naturschutz vielfältige Abstufungen, nämlich:
    Naturdenkmal,
    Naturschutzgebiet (NSG),
    Landschaftsschutzgebiet (LSG),
    Naturpark,
    Biosphärenreservat,
    Nationalpark.

    Neuerdings gibt es auch die Initiative „Rewilding Europe Region”, die Regionen als "Wildnis" ausweisen will - im Oderdelta ist man damit sehr weit. Auch das bedeutet aber kein Zurück zu einer "ursprünglichen" Natur, sondern ein abgestuftes "in-Ruhe-lassen" kombiniert mit Gestalten (wilde Tiere, die es dort nicht unbedingt gab) und touristischen Nutzungen, die der regionalen Wirtschaft dienen soll. Nur im Kerngebiet ist wirklich "betreten verboten" - das ist allerdings ein Sumpf, der soweiso nicht begehbar ist.

    Das nur mal als Anmerkung gegen die Vorstellung, Naturschützer seien irgendwie Ewig-Gestrige, die den Menschen aus der Natur ausschließen wollten.

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    1. Korrekt! Wolle auch gar nicht Naturschützer angreifen (von denen ich selbst - zumindest der Zugehörigkeit im NABU und BUND nach - einer bin). Ich denke nur, dass man sich als Naturschützer nicht in den Dualismus des "wir gegen die" ziehen lassen darf.

      Von den Begrifflichkeiten her ist übrigens die "Natur" der zugängliche Teil der "Wildnis". Finde ich einen interessanten Gedanken, an den mich dein Kommentar erinnert hat.

      Übrigens, Claudia: Hast du bemerkt, dass ich mir Mühe gegeben habe, die anfänglich sehr schwierig zugänglichen Gedanken, die ich in Philosophie aus Liebe zum Objekt versucht hatte darzulegen und an denen auch du dich dankenswerter Weise sehr abgearbeitet hattest, im Artikel Wir spüren die Monstren des Fortschritts im Nacken und letztlich hier so weiter auszuarbeiten, dass am Ende deutlich wird, was sie praktisch für uns bedeuten können?

      Ich hoffe, dass die Artikel ein bisschen zum Verständnis und zur Verstehbarkeit heutiger Philosophie und Erkenntnistheorie beitragen konnte. Ich finde es immer spannend, wenn zuerst sehr theoretische Gedanken sich letztlich in Handlungsempfehlungen übersetzen lassen.

      Viele Grüße!

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