Wie wir unsere innere Welt pflegen
Immer wieder finde ich es paradox, wie wir einerseits darauf stolz sind, dass wir freie und autonome Individuen sind und andererseits diese Freiheit und das Autonome nicht aushalten wollen oder damit nicht umgehen können. Was wir nicht alles erfinden, um uns von uns selbst abzulenken und nicht allein zu sein: angeblich Freunde zum Beispiel, die es mit ihren jeweiligen
Mikro-Universen nur in sogenannten sozialen Netzwerken gibt oder
Shopping als Freizeitbeschäftigung. Gibt es nichts sinnvolleres zu tun?
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Martha Nussbaum: "Wir sind schockierend schwach und inkomplett..." (Bild von Robin Holland) |
Jeder will heute zwar irgendwie als sensibel gelten, ein reiches inneres Leben haben, ein guter Zuhörer sein und auch mal nachdenklich sein dürfen. Wir bewundern eher die einsam vor sich hin schaffenden Maler, Komponisten oder Schriftsteller, als die Reden schwingenden Verkäufer von Ideen, Staubsaugern oder politischen Parteien. Aber dann müssen doch alle unbedingt in Teams arbeiten können und große Reden schwingen, um es zu etwas zu bringen. Oder Backpacking: finden wir eigentlich auch besser, als den Massentourismus. Doch dann buchen wir (als Mehrheit der Konsumenten) den Pauschalurlaub.
Es gibt diese große Angst vor dem Alleinsein. Eigenbrötler sind doch kurz vor der Klapse. Also beteiligen wir uns zumindest konsumierend am permanenten Medienrummel, fühlen uns schlecht, wenn wir keine Lust auf After Work Partys haben und schauen eigentlich immer eher nach außen, als nach innen: Was sind wir (von Beruf)? Was haben wir (uns erarbeitet)? Wie können wir unseren Status manifestieren? Was ist das nächste Ding, das wir besitzen müssen? Was dabei zu oft hinten runter fällt sind Fragen wie: Wie geht es mir eigentlich?
Was will ich mit meinem Leben machen? Was tut mir gut?
Man muss diese Widersprüche nicht verurteilen, es ist irgendwie verständlich (wenn auch deswegen noch lange nicht gut), dass wir so sind, wie wir sind. Aber was vergeben wir uns damit? Worauf verzichten wir, wenn wir sozusagen selbst- und seinsvergessen einfach mitmachen, was uns vorgeschlagen wird? Was sind die Gefahren, wenn wir vor unserer inneren komplexen Gefühlswelt davonlaufen und die Fähigkeit verlieren, ihr Ausdruck zu geben und mit ihr umzugehen? Es kann passieren, dass wir Gefühle wie Angst gar nicht mehr wahrnehmen können. Im schlimmsten Fall suchen sich solche Gefühle ihren Ausweg in Aggression gegen unsere liebsten Mitmenschen oder sie finden ihre Sackgasse in der Depression.
Gerade las ich auf
Brainpickings dazu einen Text der Philosophin Martha Nussbaum aus dem Buch
Take My Advice. Leider liegt das Buch nur auf Englisch vor, weshalb ich folgenden kurzen Ausschnitt hier ins Deutsche übertragen habe.
Vernachlässige deine innere Welt nicht!
Das ist die erste und weitreichendste Empfehlung, die ich geben kann. Unsere Gesellschaft ist in ihrem Sehen sehr nach außen gerichtet und schaut fasziniert auf das neuste Ding, hört gern auf das letzte Geschwätz und lässt uns nach Selbstbestätigung und Status suchen. Wir alle beginnen unser Leben als hilflose Babys, von anderen abhängig, um Schutz und Nahrung, ja das Überleben schlechthin zu garantieren. Und obwohl wir im Laufe der Jahre einen gewissen Grad an Selbstständigkeit erlangen, bleiben wir trotzdem für immer schockierend schwach und inkomplett, abhängig von anderen und von einer unsicheren Welt in allem, was wir erreichen.
Während wir erwachsen werden, entwickeln wir eine breite Palette an Gefühlen, die mit diesem Notstand in enger Verbindung stehen: Wir haben Angst, dass etwas schlimmes passieren könnte, das wir selbst nicht verhindern können. Wir lieben die, die uns helfen und unterstützen können. Wir trauern, wenn wir eine geliebte Person verlieren. Wir hoffen auf eine gute Zukunft. Wir werden wütend, wenn jemand etwas beschädigt, das uns wichtig ist.
Unsere Unvollständigkeit wird durch unsere Gefühlswelt vollständig kartografiert. Eine Kreatur ohne jegliche Bedürfnisse, hätte keinen Grund, je Angst, Trauer, Hoffnung oder Wut zu empfinden. Aber aus irgend welchen Gründen sind uns unsere Gefühle und die damit verbundenen Bedürfnisse oft unangenehm. Also laufen wir vor unseren inneren Gefühlswelten davon und verlieren die Fähigkeit, ihr Ausdruck zu geben. [...] Wir alle werden mit Krankheit, Verlust und Alter umgehen müssen, aber wir sind durch eine Kultur der Äußerlichkeiten nicht besonders gut auf einen guten Umgang mit diesen inneren Herausforderungen vorbereitet.
Was hilft gegen unsere Unzulänglichkeit?
Eine Eigenliebe kann uns helfen, die nicht vor den ärmlichen und inkompletten Teilen unseres Selbsts zurückschreckt, sondern die dieses unzulängliche Selbst mit Interesse und Neugier akzeptiert und versucht ihm eine Sprache zu geben, mit der die Bedürfnisse und Gefühle zum Ausdruck gebracht werden können. Geschichtenerzählen spielt eine große Rolle in der Entwicklung einer solchen Sprache. Wenn wir Geschichten über das Leben anderer erzählen, lernen wir uns in die Erfahrungen einzufühlen, die andere mit den verschiedenen Gegebenheiten des Lebens haben können. Wir identifizieren uns mit ihnen und ihren Gefühlen und lernen dabei etwas über uns selbst. Während wir älter werden, begegnen uns immer komplexere Geschichten - in der Literatur, im Film, in der Malerei oder Musik - die uns zu einem immer reicheren und subtileren Verständnis der menschlichen Gefühle und unserer eigenen inneren Welt verhelfen können.
Meine zweite Empfehlung, die ganz eng mit der ersten verbunden ist, lautet: Lies viele Geschichten, höre viel Musik und denk darüber nach, was diese dir dort begegnenden Geschichten für dich selbst und deine nächsten Mitmenschen bedeuten. Auf diese Art wirst du nie allein und leer sein. Du wirst ein erneuertes, reiches Innen- und Eigenleben haben, das dich auch nach außen mit einer größeren Bandbreite der Kommunikation mit anderen ausstatten kann.
Take My Advice: Letters to the Next Generation from People Who Know a Thing or Two: Der Autor James Harmon wollte inspirieren und helfen, aber nicht wie wir es von den typischen Selbsthilfebüchern und Ratgebern kennen, die seiner Meinung nach nur eine giftige Wolke lauwarmer Möchtegern-Weisheiten produzieren. Er wollte intelligent helfen. Also hat er die seiner Meinung nach inspirierendsten, provokantesten und intelligentesten Leute des 20. Jahrhunderts um Empfehlungen für die kommenden Generationen gebeten, darunter solche, die wie Judith Butler, Alain de Botton, Katharine Hepburn, Bette Davis, William S. Burroughs, Willard Van Orman Quine, Bettie Page oder eben Martha Nussbaum das eine oder andere vom Leben verstehen. Dieses Buch ist leider nur auf Englisch verfügbar.
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