Der freie Umgang mit der Unfreiheit
Bei allem Psycho-, Coaching- und Selbstoptimierungskult, der uns zur Zeit zu überrollen und mit seinen Imperativen zu überfordern scheint, wird eines immer wieder unterschlagen: Die fundamentale Ungerechtigkeit der Verteilung von Kapazitäten, Rechten und Gütern und die damit einhergehende Unfreiheit der vielen in der Gestaltung ihres Lebens. Wenn man an diese Themen so naiv ran geht, dass eben jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, dann ist das nicht einmal die halbe Wahrheit.
Die Maske als Medium unserer Identität (Stefano Menegatti via Flickr CC) |
Eine treue Leserin kommentierte meinen Artikel Jeder Mensch ist eine Fiktion (Von der Freiheit der Selbsterfindung) folgendermaßen:
"Die [...] Frage, die ich mir stelle, ist die, ob man wirklich alles an sich neu verändern, bzw. 'erfinden' kann. Gibt es da nicht auch das 'Selbst', wie z.B. der Autor Hans-Joachim Maaz schreibt, welches schon in uns geprägt ist, z.B. durch die genetische Ausstattung? Oder die früheren Beziehungserfahrungen des Kindes zu den Eltern, besonderes der Mutter? [...] Sind wir denn wirklich ganz 'frei'?"
Das ist natürlich sehr gut beobachtet! Auch bei Geist und Gegenwart stehen die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortung oft im Vordergrund. Grund genug, das mal etwas einzugrenzen.
Ich denke, dass diese ganze Selbstoptimierung mit ihrer impliziten Annahme jeder könne alles werden, zu einer Menge Stress führt. Nicht nur auf der Arbeit sind wir nun gefordert und damit manchmal überfordert, etwas zu leisten; wir sollen auch noch im Privatleben unsere Leistung steigern, ohne zu wissen, welche Grenzen es für uns gibt. Es kann nicht jeder alles. Nicht jeder hat dieselben Ressourcen - egal ob materiell, geistig oder körperlich: Solche Unterschiede spielen eine große Rolle hinsichtlich unserer Entfaltungspotenziale. Unserer Welt der Konkurrenz, in der wir als professionelle und private Menschen stets im Wettkampf zu stehen scheinen, liegt ein ganz fundamentaler Irrtum - Oder ist es eine Lüge? - zugrunde: Es käme nur auf den Willen an. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg und wer irgend etwas nicht erreicht hat, der hat es eben nicht genug gewollt. Aber was wollen wir überhaupt und wollen wir es wirklich aus freien Stücken? Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität, sagt dazu im neuen Philosophie Magazin:
"Gerade mit Blick auf die Vergangenheit wird klar, dass wir in unserem Wollen nie ganz frei sind. Vielmehr sind wir bestimmt durch unsere Herkunft, unsere Kindheit, bestimmt auch durch unsere Körper. Der Begriff der Selbstbestimmung ergibt überhaupt erst nur Sinn vor dem Hintergrund eines gewissen Bestimmtseins. [...] Tatsächlich geht es in der Problematik des Wollens zentral um die Frage, ob wir uns auch das aneignen können, was gerade nicht von uns gesteuert und kontrolliert zu werden vermag."
In solch einem Verständnis geht es also darum, die Person zu werden, zu der wir das Potenzial haben. Und dabei müssen wir viele verschiedene Unfreiheiten annehmen und gestalten. Wir sind als Subjekte nie ohne unsere Einbettungen in die Gesellschaft, ohne Beziehungen zu anderen zu denken. Das heißt auch, dass es eine absolute Freiheit und dieses "wahre Selbst", auf das uns der moderne Psycho-Kult gern reduzieren möchte, gar nicht gibt. "Unsere Identität", so Jaeggi, "bildet und drückt sich überhaupt nur aus durch die Rollen, die wir im Laufe eines Lebens annehmen und übernehmen." Man kann es sich auch anders verdeutlichen: Die Masken und Rollen, durch die wir uns ausdrücken, sind das Medium, das wir benötigen, um zu einem Selbst zu kommen und seine Entfaltung zu ermöglichen.
Setzen wir uns also nicht noch selbst unter Druck, indem wir Willens-, Identitäts- und Freiheitsidealen hinterher rennen, die wir nicht einlösen können. Es ist okay, in bestimmten Abhängigkeiten zu stecken, es ist okay, nicht alles zu können, es ist okay, nicht immer zu wissen, was wir wollen und ob unser Wille authentisch ist. Unsere Freiheit ist immer relativ, unser Können immer begrenzt und unser Wille immer vermittelt. Das heißt nicht, dass wir uns nicht entfalten können, dass wir uns nicht freier und unabhängiger machen können und dass wir nicht versuchen sollten, unseren Willen von gesellschaftlich vermittelten und fragwürdigen Identitätsangeboten aus der Werbung oder Erziehung zu entkoppeln.
Es mag helfen, die Balance zu halten, wenn wir mit offenen Augen durch die sich uns bietenden Möglichkeiten im Leben gehen. Wir müssen ja nicht jedes Angebot annehmen, aber wir können es prüfen. Die Ehe beispielsweise mag uns sehr bürgerlich erscheinen. Wir sind aber frei, sie anzunehmen oder abzulehnen. Und wenn wir sie annehmen, dann können wir daraus unsere ganz eigene Beziehung entwickeln, die mit der Ehe unserer Eltern nicht viel gemein hat. Oder die Arbeit: Wir können ein Angestelltenleben rundweg ablehnen oder es ausprobieren und uns die notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten schaffen.
Alles, was ich sagen will, ist: Machen wir uns locker und nehmen wir die Umstände an, die sich uns bieten und formen wir sie und uns selbst in die Gestalt, die uns am besten passt. Augen auf und durch!
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Bei diesen Selbstoptimierungsgeschichten fröstelt es mich immer irgendwie. Weil ich das Gefühl habe, dass die Message ist: "Wenn Du gestresst bist, musst du was dagegen machen!" - ich muss also noch mehr machen, weil ich zu viel mache? Und vor allem: Wieso immer ich, wieso wird so wenig darüber geschrieben, warum in der Arbeitswelt so viel Stress entsteht? Für mich stellt sich die Frage: Sind Psychotherapeuten die neuen heimlichen Revoluzzer? Schließlich sitzen bei denen dauernd die Leute, die nicht mehr in diese Welt reinpassen und man muss sich oft fragen: Liegt es wirklich an den Leuten oder einfach an der Welt? (Oder an dem Teil davon, in dem sich die Leute aufhalten zu müssen glauben.)
AntwortenLöschenNatürlich gibt es kein "wahres Selbst" das nur ich bin, oder nur du. Denn es ist immer "wir". Ich sehe das so, dass beim Menschen Natur und Kultur nicht wirklich trennbar sind. Jeder von uns ist das, was seine Gene sind, aber auch das, was er aus seinem Umfeld aufgesogen hat. Das ist so trivial, das man es immer wieder sagen muss. Ich habe manchmal das Gefühl, dass mit zunehmender Individualisierung unserer Gesellschaft das Ideal wird, dass jeder alleine mit seinem Selbst glücklich werden soll. Doch wer auf Dauer allein bleibt (auch unter vielen), läuft Gefahr, verrückt zu werden. Mensch ohne Menschen geht eben nicht.
Das was still in uns liegt, gelangte da eben auch irgendwann von außen hinein. Und warum sollte das schlimm sein, solange es uns gut geht dabei?
(Und ich nehme mir vor, "Authentisch Leben" von Erich Fromm mal wieder zu lesen, auch wenn mir der eigentlich zu umständlich schreibt.)
Das stimmt, es ist immer eine Mischung zwischen "Nature" und "Nurture" und das ist zwar trivial, aber immer wieder eine Erinnerung wert.
LöschenIch glaube, dass Werte und Wünsche von außen eindringen, ist natürlich notwendig, aber ich sehe auch, dass es ein Problem für jedes Individuum schafft: Wo ist ich und wo hört ich auf? Ich glaube, die Frage, ob das Vermittelte wirklich zu mir passt, wir von uns zu oft vernachlässigt.
Was sagt Fromm dazu? Gibt es ein wahres Leben in einer falschen Welt?
Vielen Dank für diesen weiteren klugen Artikel. Ich bin ein begeisterter Leser von "Geist und Gegenwart" und möchte kurz meinen Senf dazugeben:
AntwortenLöschenThomas Mann hat das Problem mit der Selbstbestimmung meiner Meinung nach in den "Buddenbrooks" äußerst treffend beschrieben:
"Durch die Gitterfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände."
Ich glaube das eigentliche Problem ist, dass wir zu viel denken und alles bewerten. Nur wenige Menschen verstehen es im Moment zu leben, aber wer den Moment entdeckt, wird auch sich entdecken und viele Dinge werden ihm viel klarer erscheinen und man hört auf Dingen nachzujagen, die uns die Gesellschaft vorgibt. Zugegebenermaßen ist es schwer, dass Glück in sich selbst zu entdecken, aber nur dort werden wir es finden.
Viele Grüße!
Janett Marposnel
Ein wahrlich großartiges Zitat!
LöschenVielen Dank für das Lob und die tolle Ergänzung!
AntwortenLöschenAls Philosoph bin ich natürlich hin und her gerissen, denn das Denken ist für mich schon wichtig und es hilft, die Dinge klarer erscheinen zu lassen (ist das nicht Philosophie?). Ich sehe auch nicht, dass Denken und im Moment leben einander ausschließen müssen.
Viele Grüße aus Polen!
(Mein Beitrag war zu lang und deswegen unterteile ich ihn jetzt!)
AntwortenLöschenTeil 1
Ein sehr interessanter und wichtiger Beitrag.
Vieles, was ich selbst denke, sehe ich in diesem Beitrag wieder.
Ja, wir haben auch unsere "sozialen" Rollen beispielsweise...das wir diese haben, heißt ja auch nicht unbedingt, dass wir dann nicht authentisch sind, sondern dass wir als Menschen ein unterschiedliches Verhaltensrepertoire haben. (Was übrigens auch "frei" machen kann.)
Ich denke, dass (zwanghafte) Selbstoptimierung viele Gefahren birgt. Sie kann irgendwann vielleicht einsam machen. Sie kann in eine Störung übergehen, immer mehr machen zu wollen, was auch, wie ich mir vorstellen kann, auch zum Burn-out oder Depressionen führen kann. Perfektionismus kann auch unfrei machen.
Dennoch sowohl Selbstoptimierung, als auch Selbstunterschätzung und nichts an sich verändern wollen sind Extreme und können den Menschen unglücklich machen.
Da ist die Balance von der Sie auch sprachen ganz passend zu dem, was ich denke. Ich weiß nicht warum, aber ich muss da an Seneca denken, auch wenn es Jahre her ist, dass ich ihn gelesen habe. Es ging glaube ich um Mäßigung...(Aber Vorsicht, auch da kann man sich zu sehr selbst optimieren, indem man sich vielleicht zu sehr mäßigt?!;))
Zufällig habe ich vor ein paar Tagen wieder Bücher entdeckt. (Ich lese zur Zeit 5 Bücher parallel.)
Eines handelt auch von der Thematik der Selbstoptimierung, allerdings steht die Autorin sehr kritisch und wie ich finde teilweise provokant dem Thema gegenüber.
Ihr Buch lautet: "Ich bleib so scheiße wie ich bin." Rebecca Niazi-Shahabi beschreibt, wie viele Menschen tagtäglich sich selbst optimieren wollen und letztlich oft das Gefühl haben, noch nicht "optimal" zu sein. Das Gefühl "etwas nicht erreicht" zu haben, beschäftigt den Menschen, genauso wie unbedingt Ziele zu haben, etwas an sich zu verändern. Sonst ist man ja vielleicht nicht "normal"?
Und wer kann sagen, ob man nicht vielleicht einem Trugbild hinterher läuft? Dass man vielleicht nicht wirklich nach seinen wahren Wünschen und seinem Wollen lebt, sondern etwas anderes weiter lebt, was vielleicht andere von einem z.B. erwarten?
Zitat aus dem Buch von Rebecca Niazi-Shahabi:
"Wer die allseits angeforderte Selbstoptimierung ablehnt, erkämpft sich sein Recht, so zu sein, wie er gerade ist. Er macht sich unabhängig von dem Trugbild seines besseren Selbst und von allen Menschen, die angeblich wissen, wie man es erreicht." S.12
Die "Freiheit" unser Leben gestalten zu müssen, wird zur Pflicht und wenn etwas zur Pflicht wird, macht es auch manchmal bekanntlich unfrei. (Toll, jetzt muss ich irgendwie an Kant denken! Der 1,50cm großen Mann sollte jetzt zu dieser Uhrzeit im Bett liegen, damit er am nächsten Tag pünktlich um Punkt 5 Uhr aufstehen kann...)
TEIL 2
AntwortenLöschenZudem finde ich momentan wichtig, zu schauen, aus welchem Motiven ein Buch beispielsweise geschrieben wird oder aus welchen Motiven ein Mensch handelt...(Wobei, das weiß man ja auch nicht immer genau.)
Was ich eigentlich vorher gut fand und plausibel, hinterfrage ich.
Sie schreiben, dass nicht jeder alles kann. Das ist wahr und jeder muss auch nicht alles können. Wo wären wir denn, wenn jeder alles könnte? Dann wären wir nicht Menschen. Das ist eine Utopie.
Ich finde es schön, wenn man zwar unabhängig sein kann und trotzdem sich gut ergänzt. Gerade in einer Freundschaft und in einer Partnerschaft finde ich dies persönlich gut. (Wieso auch immer den Menschen als "Mängelwesen" betrachten und nicht als ganzes Wesen mit allem, was dazu gehört?)
Was auch auffällig ist, dass es nicht unbedingt immer um "Freiheit" und "Selbstoptimierung" geht, sondern einfach nur darum, wie man ein "glückliches, ein "zufriedenes" Leben führen kann.
Die Gefahr in der Selbstoptimierung liegt auch daran, dass man vielleicht den Moment an sich nicht genießt oder lebt, dennoch bin ich für eine Selbstreflexion, die auch ein Schritt in die eigene "Freiheit" sein kann, nur je nachdem wie man die eigenen Erkenntnisse/Antworten für sich bewertet.
Folglich bleibt vieles eine Sache der eigenen Bewertung. Je nachdem, welche Strömung in einem spricht, sei es der eigene Kritiker, Optimist, der Zyniker oder der Realist etc.) Die Gesellschaft ist pluralistisch. Ich würde sogar behaupten, der Mensch ist es auch irgendwo in sich selbst. (Auch wenn man nur eine Person ist und ich gehe gerade auch nicht von einem schizophrenen Menschen aus.)
Ich möchte damit eigentlich nur sagen, dass das Wissen um das Wollen nicht immer präsent ist. Ich weiß nicht immer, was ich will und das ist okay.
Ich denke, es ist alles auch einfach ein Prozess.
Sich zu entscheiden ist ein Prozess. Freiheit und Glück sind menschliche Bedürfnisse und sind in einen Prozess eingebunden.
Und noch ein schönes Zitat aus dem Buch: "Wer also etwas an sich entdeckt hat, was ihn stört, sollte vielmehr überlegen, worin der Vorteil an dieser von ihm so ungeliebten Eigenschaft liegen könnte." S.127
Was ich auch damals in der Schule im Philosophieunterricht gelernt habe, war die Tatsache, dass man gerade bei philosophischen Themen, nie genau mit "ja" oder "nein" antworten kann. Viele taten es trotzdem, aber ich tat mich selbst schwer. So sehe ich trotz Kritik an der Selbstoptimierung trotzdem das Streben nach "Freiheit" oder "Glück" als etwas Menschliches und irgendwo auch Wertvolles, wenn man sich selbst nicht zu sehr unter Druck setzt.
Und es gibt nun mal Dinge, die über den menschlichen Verstand hinaus gehen...letztens sagte ein guter Bekannter von mir, der als Priester arbeitet, dass jeder Mensch oft ein Geheimnis für sich selbst ist und es vielleicht auch nicht direkt lüften kann....ist das nicht irgendwie auch spannend?
Liebe Grüße!
Maria S.
PS. Ach übrigens danke für das Zitieren. Habe mich sehr darüber gefreut!