31. Mai 2014

Dienst nach Vorschrift und Leben nach dem Herzen

Ein paar Gedanken aus dem Urlaub -

für die man aber nicht extra Urlaub nehmen muss


"Zwischen Verlangen und Bedauern gibt es einen Punkt, der Gegenwart heißt." 
Sylvain Tesson, In den Wäldern Sibiriens (S. 162)

Burnout
Burnout (Bild von Jan-Joost Verhoef via Flickr CC)

Ich gähne, gähne und gähne. Wieder, wieder und immer wieder. Es ist der zweite Tag meines Urlaubs. Warum wir gähnen, ist nicht geklärt. Es gibt zahllose Theorien von Sauerstoffmangel über Drohgebärde bis hin zur Gehirnkühlung. In einem sind sich alle Theorien einig: Das Gähnen zeigt ein Umschalten von einem Zustand in einen anderen an. Von wach zu müde (oder umgekehrt), vom Interesse zur Langeweile, vom Stress zur Entspannung (oder umgekehrt). Heute, am vierten Tag meines Urlaubs ist das exzessive Gähnen verschwunden und die Gedanken an die Arbeit werden immer seltener und verblassen emotional. Die Themen und Zustände, die mich in den letzten Wochen noch gestresst haben, sind zwar immer noch in dieser Welt und ich werde auch zu ihnen zurückkehren, aber sie haben weniger bis kaum noch irgend eine Macht über mich. Statt dessen reift eine Erkenntnis...

Für mich ist es nicht nur die Erholung, sondern auch diese Erkenntnis, die mir der Urlaub gibt: Unser Leben dreht sich oft um den Broterwerb, ohne dass wir das gesund einordnen. Wir nehmen das zu wichtig, oft sogar so sehr, dass wir zu lange Dinge für andere (unsere Brotgeber) tun, an die wir selbst nicht glauben können. Es ist ein zunehmendes Problem des Kapitalismus, der uns motivieren muss, für die wenigen, die das Kapital oder irgendwelche Rechte besitzen, die Drecksarbeit zu machen. Diese Motivation gelingt nur selten durch die herkömmlichen Mechanismen wie Lohnzahlung. Warum sollte es zum Beispiel jemanden wirklich interessieren, "Effizienzmaßnahmen" durchzuführen, damit irgend jemand anders seinen Gewinn maximiert? Im Grunde interessiert es uns doch nicht, dass diese eine Person irgendwie reich wird. Und wieder fange ich an zu gähnen.

Frieden schließen, Grenzen ziehen

Eine Auszeit ermöglicht uns zum einen, den Abstand zu gewinnen, um das Gewühl zu betrachten, in dem wir ansonsten immer knietief mitwühlen. Zum Anderen ermöglicht sie uns zu erkennen, dass dieses Gewühl mit unter gar nichts mit unseren eigenen Interessen zu tun hat und dass wir Wege finden müssen, unsere eigenen Interessen über die unserer Brotgeber zu stellen. Eine Möglichkeit wäre das bewusste Abspalten verschiedener Lebensbereiche und damit das Friedenschließen mit der Tatsache, dass wir auch Dinge tun müssen, die uns nicht motivieren, aber wenigstens das Leben und die Dinge finanzieren, die uns statt dessen motivieren. Das hieße aber auch, dass wir zu einer gesünderen Einschätzung unserer Arbeit kommen müssten. Warum also nicht "Dienst nach Vorschrift"? Das ist immerhin eine Möglichkeit. Man muss sich nicht zwangsläufig in der Arbeit verwirklichen. Im Urlaub spüre ich, wie wichtig meine Beziehung ist, wie viel mir die Natur gibt, die körperlichen Aktivitäten, das Lesen und das Schreiben. All das kann mir doch viel wichtiger sein, als die Arbeit. Das spüre ich jetzt und diese Gewissheit gilt es über den Urlaub hinaus zu erhalten.

Die andere Möglichkeit ist, die Arbeit so umzugestalten, dass sie Sinnerfüllung ermöglicht. Das mag im Extrem heißen, sich ganz aus abhängiger Arbeit zurückzuziehen, um die eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. In wie weit man dadurch dem Falschen entgehen kann, ist fraglich. Wir kommen aus einer gewissen Entfremdung nicht hinaus und das ist auch ok, denn diese Entfremdung bietet die Spannung im Leben. Man muss zugleich für und gegen etwas arbeiten können, um ein Mensch zu sein. Alles andere ist Schlaraffenland ohne jegliches Verlangen und das ist so langweilig, dass ich glaube, es würde der Nichtexistenz gleichkommen.

Leben in der Gegenwart

Sylvain Tesson, den ich gerade mit viel Begeisterung lese, sagt zurecht, dass wir unter unserer Missachtung der Gegenwart leiden. Die von ihm aufgemachte Achse zwischen Bedauern und Verlangen kann nach beiden Seiten erweitert werden: Reue, Trauer, Schuld auf Seiten der Vergangenheit und alles zwischen Erwartung und Angst in der Zukunft. Und dazwischen das Jetzt, die Gegenwart. Dieser zeitliche Punkt ist der einzige, an dem wir überhaupt wirken können und vielleicht besteht das Wirken vor allem im Wahrnehmen, also im Wirken lassen. Das bewusste Leben in der Gegenwart beugt der späteren Reue vor. Was nutzt die Reue auf dem Totenbett? Ich mache die Erfahrung, dass alleine das abstrakte Wissen um unsere Sterblichkeit noch keine Veränderung in uns provoziert. Wir wissen, dass wir nicht lange haben und dennoch geben wir das wenige an Lebenszeit zu oft für seelenlose und leere Tätigkeiten her. Sich einmal im Jahr im Urlaub Gedanken zu machen, reicht nicht aus. Jeden Tag aufs Neue daran denken. Jeden Morgen die Augen aufschlagen und sagen: "Ich muss sterben!" Das eigene Leben unter ein Motto stellen, zu dem man sich täglich bekennt. Vielleicht hilft das?

Was ist gut investierte Energie?

Lebenszeit ist das eine, das andere ist die Energie. In vielen Arbeitsverträgen gibt es einen sehr existenzialistischen Satz: "Der Arbeitnehmer verpflichtet sich, seine volle Arbeitskraft dem Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen." Wow! Was der Satz an philosophischer Schwere hat, fehlt ihm an Rechtsverbindlichkeit. Er symbolisiert aber ganz gut, wie wir oft mit unserer Energie umgehen: Wir lassen sie vollständig am Arbeitsplatz und kommen dann völlig ausgelaugt auf der heimischen Couch zum Erliegen. Ich denke, man muss das besser abwägen. Sicher gibt es Aufgaben, für die es sich lohnt, zeitweise seine ganze Energie einzusetzen. Man erkennt sie daran, dass sie einen inspirieren, wenn man nur daran denkt. Man erkennt sie daran, dass sich Leute dafür bedanken, dass man sie ausführt. Man erkennt sie auch daran, dass man selbst dazulernt, seine Fähigkeiten erweitert oder sich neue Horizonte auftun. Man erkennt sie manchmal daran, dass sie einem helfen, ein lange anvisiertes Ziel zu erreichen. Nur am Geld erkennt man sie in der Regel nicht, denn Geld ist kein Zweck, sondern höchstens ein Mittel. 

Im Grunde will ich gar nicht mehr sagen, als dass wir uns nicht dazu hinreißen lassen sollten, unser Leben eindimensional unter einem Gesichtspunkt wie Arbeit zu betrachten. Arbeit kann schön und wichtig sein, aber es gibt so viel mehr in unseren Leben: Unsere Partner, Familien und Freunde, die uns Sinnzusammenhänge geben. Unsere Körper, die uns Freude, Lust und Genuss schenken und deren Teile wir in ihrer Gesamtheit nutzen sollten. Zum Beispiel mit unseren Partnern oder auf Partys, beim Sport und in der Natur. Auch mit unserem Geist können wir mehr anstellen, als am Schreibtisch Zahlenkolonnen zu addieren oder uns irgendwelche Marketingstrategien auszudenken. Wir alle können erfinden, lesen, schreiben, musizieren, diskutieren und denken. Alles, was uns dazu manchmal fehlen mag, ist ein bewusster Umgang mit Zeit und Energie. Am besten wir entscheiden immer wieder aufs Neue, wofür es sich lohnt, heute zu leben und verweisen alles andere in seine Schranken.


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2 Kommentare:

  1. Ich komme gerade aus einem Kurzurlaub und habe zu kämpfen mit dem Kontrastprogramm: von der totalen Selbstbestimmtheit und dem Fokus auf Dingen die mir liegen, mit denen ich mich verwirklichen aber eben nicht ernähren kann - zum fremdbestimmten Arbeitsalltag und all den Dingen die mir weder Spaß bereiten noch Glück bescheren, die aber monatlich meinen Kühlschrank füllen.

    Wunderbare Impulse durch diesen Beitrag, danke!
    In meinen Überlegungen, wie ich die Gegebenheiten so umgestalten kann, dass beides möglich ist: der Job der mich knechtet und auslaugt UND Dinge die mich erfüllen, Sinn machen, bin ich schnell mal an dem Punkt, an dem ich am liebsten alles was mit Fremdbestimmung zutun hat, aus dem Leben kicken möchte. Sehr spannender Gedanke, dass ein gewisses Maß an Entfremdung ja tatsächlich notwendig ist.

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    1. Danke für diesen Kommentar! Ich weiß auch nicht, ob das ein Weg ist, den man für immer gehen sollte, aber auf jeden Fall ist er unter realistischen Gesichtpunkten vorübergehende aushaltbar. Bis wir etwas Passenderes gefunden haben...

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