Immer wieder in unserer Geschichte, besonders nach ganz großen Katastrophen, stand die Frage im Raum, ob die Welt, so wie sie ist, nicht eigentlich böse sei. Leid und Sterben waren in der Vergangenheit vergleichbar allgegenwärtig, während es heute eher Ausnahmesituationen sind. Wir sind heute, nach der Aufklärung, auch weniger geneigt, Erdbeben, Dürren, Fluten, Tiere oder sonstige Naturphänomene böse zu nennen. Vielmehr machen wir die oben genannte moralische Unterscheidung. Nur wer oder was selbst Entscheidungen treffen kann, kann auch moralisch falsche Entscheidungen treffen und damit böse sein. In früheren Epochen, als die Menschen eine magische Vorstellung von der Welt und ihrer Schöpfung hatten, gab es diesen Unterschied nicht. Das Erdbeben von Lissabon im November 1755 spitzte die Frage zu, wie ein gütiger Gott Tausende Menschen ohne Unterschied in den Tod reißen kann. Es war zuerst undenkbar, dass hier einfach völlig gleichgültige Naturkräfte am Werk waren, die in keinen intentionalen Zusammenhang zu Menschen zu bringen waren. Leibnitz fand darauf die vorläufige Antwort, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hat und dass uns die unendliche Weisheit fehlt, das in seiner Gänze zu durchschauen. Aber auch heute gibt es nach jeder Naturkatastrophe Schlagzeilen wie "Die Natur schlägt zurück". Dabei steht hier gar nicht zur Diskussion, ob unser Umgang mit der Natur auch solche Folgen wie Erderwärmung inklusive Anstieg des Meeresspiegels hat, sondern der Gedanke, dass die Natur sich rächt. Rache kann in unserem naturwissenschaftlichen Verständnis nur von etwas beseeltem ausgehen, aber nicht von Plattentektonik, Eisbergen oder Vulkanen.
Die Philosophin Susan Neiman, bei der ich einige Zeit studiert habe und die das Buch Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie geschrieben hat, sieht in der Geschichte zwei grobe Verstehensansätze des Bösen:
"Die erste Gruppe geht so vor - und folgt damit eigentlich einem platonischen Impuls -, das Böse in der Welt zu einer nur scheinbaren Realität zu erklären, hinter der sich bei genauerem Nachdenken ein vernünftiges, nachvollziehbares oder zumindest optimierbares Muster zeigt. Leibnitz gehört klarerweise in diese Kategorie, aber auch Rousseau, zum Teil Kant, Hegel und Marx. Das Böse ist dem Verstand letztlich zugänglich und gerade deswegen, als verstandenes Böses, etwas, das nicht zum Wesen der Dinge gehört." (Philosophie Magazin Nr. 01 / 2014, S. 51)
Im Grunde ist das eine aufklärerische Position, die kaum Platz für Magisches oder Geheimnisvolles lässt. Es gibt eigentlich nichts wesenhaft Böses. Für die andere Gruppe von Philosophen gibt es einen rätselhaften Rest. Für sie ist klar, dass wir das Böse nie ganz durchdringen werden:
"Sie besteht beispielsweise aus Voltaire, Hume, Bayle und schließlich Schopenhauer. Aus deren Sicht ist die philosophische Leugnung der offenbarsten Tatsache - nämlich der, dass es Böses in der Welt, dass es sinnloses Leiden gibt - in sich ein böser Akt, denn so werden die Opfer missachtet, des Wertes ihrer Leiden beraubt. Das führt dann auf den im Kern ethischen Imperativ, das Böse als etwas zwar fundamental Unverständliches, Grundloses, jedoch zweifelsfrei Gegebenes anzuerkennen." (Philosophie Magazin Nr. 01 / 2014, S. 51)
Das Problem an dieser Perspektive ist - mal abgesehen vom magischen Rest, der mir persönlich nicht in den Kopf will -, dass wir uns dem Bösen fast hilflos unterwerfen. Wenn wir es nicht versuchen zu verstehen, dann werden wir es auch in Zukunft nicht unterbinden können. Nehmen wir als konkretes und sehr krasses Beispiel Adolf Hitler und seine Verbrechen. Er schien ein gewisses und uns heute völlig unverständliches (deswegen aber nicht magisches) Charisma gehabt zu haben, aber wer ihn zum Teufel erklärt, zu einem Monster, zum Bösen schlechthin, der beraubt sich der Möglichkeit, die Mechanismen zu verstehen, mit denen es ihm gelang, ein ganzes Volk vor den Augen der Welt zu Mördern zu machen. Unser Impuls, solche grauenhaften und dunklen Verbrechen samt ihrer Verursacher ins Reich des Bösen abzuschieben, sind verständlich. Dadurch distanzieren wir uns von ihnen. Wir unterschlagen damit aber die Möglichkeit, dass solche Verbrecher auch in uns selbst schlummern und wir riskieren, dass sie unbeobachtet erwachen und wieder ans Werk gehen können.
Auf der anderen Seite ist es natürlich eine Illusion zu glauben, dass wir Menschen und ihre Motivationen völlig verstehen und interpretieren können. In uns allen gibt es irrationale und tierische Impulse. Das wiederum kann uns Angst einflößen, denn es erscheint uns unkontrollierbar, nicht beherrschbar und mithin böse.
Wir müssen böse sein: Abholzung des Regenwalds in Indonesien (Wikimedia CC) |
Susan Neiman weist darauf hin, dass nun, da wir so mächtig geworden sind und unsere Einflüsse auf den Planeten so groß, dass nun selbst Naturkatastrophen uns zuzuschreiben sind, ein neues Verständnis von böse reift. In der magischen Auffassung der Welt zeugten Naturkatastrophen vom Bösen. Mit der Aufklärung und der Trennung zwischen moralisch böse und natürlich böse reifte die Erkenntnis, dass hinter solchen Ereignissen nichts wirklich böses stecken könne. Inzwischen müssen wir diese Naturkatastrophen wieder als Folgen des von Menschen gemachten und mithin moralisch Bösen begreifen. Die aufklärerische Unterscheidung zwischen moralisch und natürlich böse versagt. Was machen wir nun aus dieser neuen Erkenntnis?
"Vergessen wir nicht, die Anerkennung des moralisch Bösen ging mit immensen Fortschritten einher: Krankheiten und Hungersnot wurden nicht mehr als Gottesstrafe angesehen, sondern als etwas, das mit Mitteln des Verstandes verhindert werden kann. So könnte auch der heutige Wandel der Beginn eines Fortschritts sein, hin zu einer globalen Gemeinschaft mit geteilter ökologischer und ökonomischer Verantwortung. Wir schaffen das zusammen oder gar nicht." (Philosophie Magazin Nr. 01 / 2014, S. 51)
Sind wir also doch durch Bein und Knochen böse? Ich glaube eher, wir sind dumm und beschränkt. Aber die einzige Möglichkeit, nicht böse zu sein, besteht darin, die moralische Verantwortung ernst zu nehmen, die wir durch unsere Vernunft haben. Unsere Dummheit und Beschränktheit hinzunehmen, wäre moralisch falsch. Wir dürfen nicht aufhören, uns und unsere Taten verstehen und bessern zu wollen. Erst dann werden wir gut sein.
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Erstmal muss ich sagen, dass es sich hier um einen sehr guten Beitrag handelt.
AntwortenLöschenDas Böse sehe ich als einen Zustand des Unfriedens wie auch der Unreife.
Dass es ein Zustand des Unfriedens ist, lässt sich folgendermaßen aufzeigen:
Wer keinen Frieden mit sich selbst hat, sprich wer im Unreinen mit sich selbst ist,
wird auch mit seiner Umwelt bzw. seinem Umfeld keinen Frieden haben. In dieser Hinsicht
ist das psychische Gleichgewicht in Betracht zu ziehen.
Dass es sich um einen Zustand der Unreife handelt, lässt sich wie folgt darstellen:
Wie soll jemand Gutes tun, wenn derjenige nichts Gutes gelernt bzw. gewohnt ist?
Jeder gibt nur das weiter, was er selbst erlebt bzw. erfahren hat.
Aus dieser Betrachtung ist die Schlussfolgerung zu ziehen,
dass jeder das Produkt
seiner Umwelt ist.
Hallo Will, danke für das Lob und den Kommentar!
LöschenImpliziert im Unfrieden mit sich selbst sein, dass man moralisch falsche Entscheidungen treffen muss? Oder ist dadurch einfach nur die Wahrscheinlichkeit höher? Ich sehe keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Unfrieden/Unreife und dem Bösen. Was heißt das für jeden, der unreif ist (z.B. jedes Kind) und jeden, der nicht "im Reinen mit sich selbst ist" (was auch immer das heißt)? Inwiefern sind sie in einem Zustand des Bösen?
Ich könnte mich vielleicht dazu überreden lassen, dass das Böse immer auch Aspekte von Unfrieden und Unreife hat.
Kinder (also unreife) müssen (dürfen) doch erst zu Moral erzogen werden. Das Teilen mit anderen machen sie ungern, oder ab und zu freiwillig, die Katze wird nicht gefüttert, wenn das Spielen interessanter ist, egal ob das Tier Hunger hat. Geschwister können erbarmungslose Kriege (beissen, schlagen, treten) gegeneinander führen, die von den Erwachsenen geschlichtet werden müssen.....ich denke, schon, dass das Böse mit Unreife zu tun hat....wie das bei der Naur ist? Hm.....PS: Ein sehr interessanter Blog, danke dafür
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AntwortenLöschen"Unser Impuls, solche grauenhaften und dunklen Verbrechen samt ihrer Verursacher ins Reich des Bösen abzuschieben, sind verständlich. Dadurch distanzieren wir uns von ihnen."
Exakt das ist auch aus meiner Sicht die Funktion von Dämonisierungen von Personen. Es ist eine Entlastungsstrategie, mit der man nicht nur von den eigenen, in einem selbst schlummernden Möglichkeiten entlastet, sondern auch bestimmte vielleicht notwendige systembezogene Analysen vermeidet. Dabei ist nichts rationaler als das sog. Böse (das es aus meiner Sicht nicht gibt).
Fehlende Empathie, Dummheit, mangelndes Wissen und die Schwierigkeit, Ethik wirklich auch konsequent im Fernhorizont zu denken und entsprechend zu handeln, sind die wesentlichen Quellen moralisch schlechter Praktiken.
Ganz und gar in Opposition stehe ich hierzu:
"Wer keinen Frieden mit sich selbst hat, sprich wer im Unreinen mit sich selbst ist,
wird auch mit seiner Umwelt bzw. seinem Umfeld keinen Frieden haben" und "Jeder ist das Produkt seiner Umwelt".
Viele Mörder leben vollkommen im Einklang oder im Reinen mit sich. Viele haben auch nie Schlechtes erfahren und können doch nicht anders handeln. Ihnen fehlt einfach die Grundvoraussetzung dessen, was man Empathie nennt. Und die Geschichte mit dem Produkt der Umwelt hat sich als marxistische Schimäre herausgestellt, die keiner ernsthaften wissenschaftlichen Prüfung mehr standhält.
Wer übrigens mal ein solches vollkommen mit sich im Reinen lebendes "Ungeheuer" kennenlernen will, dem sei Köhlers "Die Abenteuer des Joel Spazierer" dringend ans Herz gelegt!
Sollte heißen: (Michael) Köhlmeier. Hat der Köhler ("liebe Landseute und Leutinnen") doch Eindruck hinterlassen?
LöschenSorry!
Das Böse stärkt unsere Moral- und Rechtsvorstellung. Danke.
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