2. November 2013

Magnetische Menschen

Die zauberhaften Ursprünge der Hypnose

Dass Menschen mit wenigen Armbewegungen zu Handlungen verführt werden können, denen sie sich nicht mehr zu entziehen wissen, kollidiert mit der weit verbreiteten Vorstellung des selbstbestimmten Individuums. Das fantastische Kunststück der Hypnose führt vor Augen, dass das Bewusstsein stets mit inneren und äußeren Einflüssen um die Kontrolle seines Trägers ringen muss...

Planking Arnhem
Hypnotisiert oder nur "planking"? (Foto von Marco Derksen via Flickr)

Maybrit Hillnhagen ist nicht besonders magnetisch veranlagt. Das ergab zumindest eine spontane Versuchsreihe mit Büroklammern und Heftzwecken. Trotzdem hat sie diesen wunderbaren Text zur Geschichte der Hypnose geschrieben, der gerade in der neuen Epilog erschien. Die Epilog ist eine kleine ambitionierte Zeitschrift, deren zweite Ausgabe diese Woche mit dem wunderbaren Titel "Die Wiederverzauberung der Welt" am Bahnhof liegt und überall sonst, wo es gute Zeitschriften gibt. Natürlich kann man sie auch online bestellen oder ebendort erst mal darin rumblättern. Lesen Sie heute schon hier, über die Entwicklung der Hypnose vom Magnetismus in Leipziger Privatwohnungen über die Psychoanalyse bis hin zum leistungssteigernden Managercoaching:

Hansen nahm mich wie ein Stück Holz in die Arme und legte den gleichsam erstarrten Körper auf zwei Stühle, derart, dass der Kopf auf dem einen, die Füsse auf dem anderen ruhten. Der Körper hing ruhig in der Schwebe. Willenlos liess ich den ganzen Vorgang an mir vorüberziehen. Dabei verspürte ich nicht die geringste Anstrengung, die doch sonst bei jeder derartigen Uebung unvermeidlich gewesen wäre.

Wo immer das Vorabendprogramm nach übernatürlichen Mächten forscht, liegt ein Mensch zwischen zwei Stühlen: Die Kataleptische Brücke – das Standardkunststück der Jahrmarkthypnotiseure bringt heute niemanden mehr aus der Ruhe, außer ein paar Bandscheiben vielleicht. Die Hypnose ist im Alltag angekommen: Vom Nichtrauchertraining bis zum Managercoaching lässt sich heute alles auch hypnotisch lösen.

Auf ganz andere Reaktionen stieß der Däne Carl Hansen, als er diese Nummer Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Europa berühmt machte. Dieses und ähnliche Kunststücke führten bei seinen Zeitgenossen zu großen Verunsicherungen. In der Vermutung, es handele sich um ähnliche Kräfte wie bei magnetischen Metallen, taufte man die neue Kunst "Magnetismus". Ausgerechnet in einer kleinen Leipziger Privatwohnung sollte Hansen am 2. April 1877 eine seiner wichtigsten Vorstellungen menschlicher Magnetisierung geben. Unter den Augen eines ausgewählten Publikums ließ sich der schlichte Verlagsbuchhalter Volkmar Müller vom großen Meister magnetisieren:

Zunächst benutzte Herr Hansen mein liebes Ich als Sopha. Wohlgefällig setzte er sich auf mich. Trotzdem war mir sein Aufenthalt auf meinem Magen durchaus nicht beschwerlich. Auch als Herr Hansen sich anschickte, aufrechtstehend auf meinem Körper zu balancieren, empfand ich weder einen besonders starken Druck, noch irgend welche schmerzhafte Einwirkung seiner Stiefelabsätze. Ruhig schaute ich aus meiner horizontalen Lage in alle Gemüthsruhe den sonderbaren gymnastischen Uebungen Hansen‘s zu.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Müllers Erlebnisse heute noch säuberlich protokolliert nachzulesen sind. Denn bei der Zusammenkunft in der Leipziger Wohnung handelt es sich nicht um okkulte Séancen, sondern um eine hochwissenschaftliche Vorführung. Unter "competenten Zeugen" möchte der Chef der Leipziger Sternwarte, Karl Friedrich Zöllner, den wunderbaren Wirkungen des "thierischen Magnetismus" auf den Grund gehen.

Die sonderbaren Fähigkeiten der Magnetiseure erklären sich Zöllner und Konsorten etwas unbeholfen mit einer mystischen Lebenskraft, die alle Wesen durchströme. Es bedürfe Menschen wie Hansen, die dieses Fluidum in sich aufnehmen und für ihre Zwecke kanalisieren können. Durch Handauflegen oder wilde "Gesticulationen" wird der Klient magnetisiert, um dann als willenloses Wesen völlig seinem Verzauberer gefügig zu sein:

Der Eindruck, den ich von dem Manne mit den stark hervortretenden Augen, in denen weitgeöffnete Pupillen lagen, empfand, war geradezu ein gewaltiger, unwiderstehlich packender. Unwillkürlich fand ich mich von einer besonderen Macht eingenommen. Es schien in der That, als ob seine weitgeöffneten Augen ein magnetisches Bindemittel ausströmten.

Das Ende des 19. Jahrhunderts ist die Zeit der magischen Wissenschaften. Gerade erst wurden Radiowellen und Röntgenstrahlen entdeckt. Intensiv brütet man über allen bekannten und noch unbekannten Formen von Strahlungen und Kräften. Ein Umfeld, in dem die Vorstellung einer neu entdeckten Form der Lebensenergie schnell Anhänger gewinnt – erst recht angesichts der unerklärlichen Fähigkeiten der Magnetiseure.

Zöllner ist jedenfalls überzeugt. Beruhigenderweise hat der renommierte Astrophysiker auch gleich eine Erklärung dafür zu bieten, dass sich die magnetischen Energien zwischen Lebewesen nicht mit bekannten Mitteln sichtbar machen lassen. Zöllner vermutet die Lösung in einer vierten – noch unentdeckten – Dimension, in der sich alles verbirgt, was der zeitgenössische Okkultismus zu bieten hat. Neben dem "thierischen Magnetismus" überträgt sie auch Gedanken und beherbergt eine ganze Schar von Poltergeistern. Und auch der "ursprünglich stärkste Zweifler", Buchhalter Müller, ist am Ende der Vorstellung völlig von den fantastischen Erlebnissen eingenommen:

Aus allem Diesen habe ich entschieden das feste Bewusstsein von der Existenz einer räthselhaften Kraft ziehen müssen. Mag man sie Magnetismus nennen oder als Unterdrückung, Erstreben des eigenen Willens, der eignen Beherrschung bezeichnen, immer tritt in der ganzen Erscheinung die Thatsache hervor, und die ist es, welche zum Denken reizt, welche mit Bewunderung und Erstaunen den Beobachter, sei er activ oder passiv, erfüllt.

Andere blieben skeptisch. Besonders Zöllners Wissenschaftskollegen reagierten zunehmend ungehalten auf seine immer verstiegeneren Theorien. Als er versucht, die philosophische Forschung seiner Zeit mit einer "Geschichte und Theorie der Erkenntnis" zu widerlegen, die er auf seiner Beobachtung von Kometen aufbaut, stellt man ihn endgültig kalt. Zöllner wird für verrückt erklärt, verliert seine durchaus verdiente Reputation als Astrophysiker und kommt 1882 unter ungeklärten Umständen ums Leben.

Une leçon clinique à la Salpêtrière 02
Une leçon clinique à la Salpêtrière von André Brouillet (1887), via Wikimedia Commons

Der mysteriöse Magnetismus jedoch drängt weiter in die Aufmerksamkeit der Wissenschaft. Als Hypnose ist er heute vollständig durchleuchtet und vereinnahmt worden. Mit einer Reihe von Übungen lässt sich das Bewusstsein in einen Trancezustand – eine besondere Ebene der Konzentration – versetzen. Die Kritikfähigkeit sinkt und der Hypnotisierte öffnet sich für fremde, aber auch eigene Suggestionen. In ihrer Funktionsweise ist die Hypnose also so profan wie ein deftiges Besäufnis. Auch hier sinkt die Kritikfähigkeit bekannterweise im gleichen Maße wie die Begeisterungsfähigkeit steigt.

Eigenthümlich ist die verschiedene Wirkung seiner Experimente. Während er bei mir nur physisch und zwar mit eigner grosser Anstrengung zu wirken vermochte, versetzte er andere Empfängliche, physisch und psychisch zugleich, in den Zustand der eignen Willenlosigkeit.

Trotzdem hat die Hypnose ihren mystischen Schatten bis heute nicht abwerfen können. Dass Menschen mit wenigen Armbewegungen zu Handlungen verführt werden können, denen sie sich nicht mehr zu entziehen wissen, kollidiert mit der weit verbreiteten Vorstellung des selbstbestimmten Individuums. Das fantastische Kunststück der Hypnose führt vor Augen, dass das Bewusstsein stets mit inneren und äußeren Einflüssen um die Kontrolle seines Trägers ringen muss.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass ein junger Wiener Medizinstudent in den 1870er Jahren zu einer Vorstellung des Magnetiseurs Carl Hansen fand. Später sollte er mit seinem Satz "Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus" eine neue Wissenschaft begründen, die Psychoanalyse. Offensichtlich waren Hansens Vorführungen bei Sigmund Freud nicht ohne Nachwirkungen geblieben. Sicher ist, dass dieser zum wichtigen Wegbereiter der therapeutischen Hypnose wurde.

Mit der Psychoanalyse verlor die Hypnose ihren Zauber. Sie wurde zum Mittel der Wissenschaftler und Therapeuten. Mit ihr konnte man sich noch tiefer in die menschliche Psyche bohren, um die dort verborgenen Mysterien des Selbst an die Oberfläche zu holen. Damit war endlich auch geklärt: Es sind keine magischen Ströme, die uns verzaubern, sondern charismatische Menschen – oder manchmal auch wir selbst.



Dieser Text ist in der zweiten Ausgabe der EPILOG erschienen und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Mads Pankow. DIE EPILOG ist eine "Zeitschrift zum Gesellschaftswandel". DIE EPILOG sucht nach Menschen, die die Welt verändern. Gemeint sind keine Helden oder Strippenzieher, sondern Menschen, die am Wandel teilhaben, die sich mit der Gesellschaft bewegen und auf morgen schauen. Die Zeitschrift wendet sich an all jene, für die das »Neue« kein Gespenst, sondern ein Antrieb ist. EPILOG-Leser sind ideologisch und politisch abgeklärt und können es sich deshalb erlauben aufgeschlossen und optimistisch in eine Welt ohne beständige Sinnhorizonte zu blicken. Friedrich Nietzsche hätte in die Hände geklatscht. 

3 Kommentare:

  1. Auch in diesem Beitrag ist wiederholt von der Willenlosigkeit die Rede, auch in der Form der "gesunkenen Kritikfähigkeit", die einen in der Hypnose ereilen soll. Dies entspricht ja auch einem gängigen Bild, das über die Hypnose vorherrscht.
    Wie verträgt sich das eigentlich mit der immer wieder getroffenen Aussage medizinischer Therapeuten oder von Heilpraktikern, es geschähe in diesem Trancezustand nichts, das man nicht selber wolle oder zulasse? Es sei eben kein Zustand des Kontrollverlustes, habe ich oft gehört und kann das nicht vereinbaren mit entsprechenden Aussagen wie auch hier im Text.

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    1. Genau! Ich kenne das auch nur SO und bezweifle, dass diese Geschichte mit der totalen Willenlosigkeit mehr ist als ein Medienmärchen und eine Begleit-Saga zu Hypnose-Shows!

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    2. Hallo zusammen, im Artikel steht:

      "Hypnose [habe] ihren mystischen Schatten bis heute nicht abwerfen können"

      und

      "Mit einer Reihe von Übungen lässt sich das Bewusstsein in einen Trancezustand – eine besondere Ebene der Konzentration – versetzen. Die Kritikfähigkeit sinkt und der Hypnotisierte öffnet sich für fremde, aber auch eigene Suggestionen. In ihrer Funktionsweise ist die Hypnose also so profan wie ein deftiges Besäufnis. Auch hier sinkt die Kritikfähigkeit bekannterweise im gleichen Maße wie die Begeisterungsfähigkeit steigt."

      Das ist kohärent mit euren Anmerkungen, oder? Und das Augenzwinkern im letzten Satz kommt an, oder ;)

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