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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

13. Oktober 2013

Von der Notwendigkeit, sich Zeit für sich selbst zu nehmen

Ein gutes Leben braucht mehr als einen Autopiloten

Zeit mit sich selbst zu verbringen ist für manche von uns eine Selbstverständlichkeit, für andere ist es ein schwieriges Unterfangen. Nicht nur, weil sie keine Zeit für sich allein finden, sondern vielleicht auch, weil es nur noch schwer auszuhalten ist. Was soll ich tun, wenn ich allein mit mir bin? Fernsehen, lesen, trinken, spazieren gehen, in der Sauna entspannen? Zeit mit sich selbst zu verbringen, sei es lesend, schreibend, malend, laufend oder schwitzend, ist nicht nur gut für den Körper und die Seele, sagt der Philosoph Damon Young. Es kann auch unseren Charakter, unsere Fähigkeiten und Tugenden, unsere ganze Persönlichkeit formen und festigen.


In der Zeit mit sich allein formt sich das ich

Freizeit und Muße formen die Persönlichkeit

Für viele hat "Zeit allein" auch einen Hauch von Verschwendung. Wenn die Zeit, die wir der Arbeit und unseren Pflichten widmen, wertvoll ist, dann ist die Zeit, die davon übrig und ungenutzt bleibt doch ziemlich wertlos. Oder "Zeit allein" ist dann eben Luxus: Aroma-Massage, Sonnenbank, Mani- und Pediküre.

"Zeit allein" ist aber eben auch einfach nur Freizeit oder Muße und das muss weder Verschwendung noch Luxus sein. Schon bei den Römern war Freizeit nicht einfach Faulenzen oder Prassen, sondern die Zeit, in der man sich selbst verfeinerte, seinen Charakter formte und verjüngte.

Der Naturforscher, Künstler und Staatsmann Seneca befasste sich in seiner Freizeit zum Beispiel mit der Philosophie. "Ich befasse mich nicht deswegen mit der Philosophie, um den Tag möglichst unterhaltsam zu verbringen oder die Langeweile aus der Freizeit zu vertreiben", schrieb er in einem Brief an seinen Freund, den Dichter Lucilius. "Es formt und bildet die Persönlichkeit, ordnet das Leben und reguliert das eigene Verhalten."

Für Seneca war Zeit allein eine Notwendigkeit für das gute Leben. Es war die Zeit, Maß zu nehmen, über sich selbst und die Welt nachzudenken und den eigenen Geist im Studium und in Gesprächen zu üben. "Was unseren Charakter wirklich ruiniert, ist wenn wir nicht auf unser Leben zurückblicken", sagt Seneca. Der Charakter, so könnte man Seneca übersetzen, benötigt mehr als einen Autopiloten, er benötigt einen aufmerksamen Kapitän. Die Zeit für sich allein ist deshalb so wertvoll, weil das Ich nicht einfach nur ist, sondern in der Reflexion geformt werden muss.

Sport: Ausdauer, Mut und Problemlösung

Wertvolle Zeit allein muss natürlich nicht zwangsläufig der Philosophie gewidmet sein. Auch Sport und körperliche Anstrengung gehören dazu. Nicht nur, weil es uns entspannt, sondern weil wir uns dabei üben und noch besser in dem werden, was wir gut können wollen. Auch regelmäßiges Joggen verbessert die Ausdauer und nicht nur körperlich: Weniger launisch sein und mehr Ausdauer an den Tag legen können, steht auch unserer Persönlichkeit gut zu Gesicht. Kampfkunst wie Judo oder Boxen kann unseren Mut fördern und die Fähigkeit verbessern, mit Schmerz umzugehen. Ein Spaziergang oder das deutsche Wandern sind nicht nur für Herz und Kreislauf gut: Abstand von den Alltagsproblemen zu gewinnen, hilft uns, neue Ideen zu entwickeln und die Probleme zu meistern. Bergsteigen kann uns helfen, uns selbst und den ganzen Zirkus des Lebens auf die rechte Größe herunter zu schrumpfen.

Allein etwas neues hervorbringen

Kreative Arbeiten in unserer Freizeit helfen uns, unsere Interpretation von Leben und Welt für uns selbst und andere begreifbar zu machen. Durch kreative Arbeit "objektivieren" wir unser Selbst, wie Karl Marx sagen würde, in Sprache und Musik, im Gärtnern oder Basteln. Während solcher Tätigkeiten fällt uns das Reflektieren leichter und vielleicht werden wir ehrlicher mit uns selbst, wenn wir im Flow etwas neues hervorbringen.

Geglücktes Leben ist Sorge um sich selbst

Die Zeit mit sich allein ist also kein Luxus oder irgend eine Verschwendung. Sie ist existentiell wichtig, denn es ist die Zeit, die wir brauchen, um für unser rundum gesundes Selbst Sorge zu tragen. Das ist vielleicht erst mal sehr egozentrisch und eigennützig, aber nicht, weil wir anderen etwas wegnehmen, sondern weil es das Selbst als ein Abenteuer und einen Auftrag versteht: Das Ich als etwas, das man immer mal wieder unter die Lupe nimmt und dann verfeinert. Im besten Fall ist es ganz das Gegenteil von egoistisch, denn wer sich selbst weiterentwickelt, formt und bildet, kann am Ende seinen Mitmenschen mehr geben. Mit mehr Zeit allein können wir widerstandsfähiger, bewusster und wissender werden, wir können unseren Mut entwickeln und unsere eigenen Schattenseiten kennen lernen. Mindestens aber wird es uns mit etwas mehr und ganz bewusst allein verbrachter Zeit einfach besser gehen.

Apropos... Zeit für einen Tee!



Der größte Teil des Textes beruht als Übersetzung auf Damon Youngs Text The Importance of Taking Time Out, der bei der School of Life erschienen ist. Young widmet sich in seinen Büchern wie zum Beispiel Distraction: A Philosopher's Guide To Being Free (bisher nur auf Englisch erschienen, deutsch etwa: Ablenkung: Eine philosophische Anleitung zum Freisein) Alltagsphänomenen unter einem philosophischen Blickwinkel und hilft so, die Zutaten für ein gutes Leben zusammen zu tragen.







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6 Kommentare:

  1. Schöner Text, Diese Zeit ist wahrlich nicht nur Luxus, wenn man sie sich auch leisten können muß. Eher eine Frage der Prioritäten. Dazu paßt dies Buch sehr gut, finde ich: Quiet: The Power of Introverts in a World That Can't Stop Talking http://www.amazon.de/gp/product/0307352145/ref=as_li_qf_sp_asin_tl?ie=UTF8&camp=1638&creative=6742&creativeASIN=0307352145&linkCode=as2&tag=cengreundsina-21

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    1. Danke für Kommentar und Tipp. In der Tat haben wir Susan Cains Buch auch bei Geist und Gegenwart bereits vorgestellt: Still: Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt. Eine lohnende Lektüre.

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  2. Hallo Gilbert,

    oh ja - Zeit für sich ist sooooo wichtig. Für mich gibt es nichts wertvolleres, um wieder Energien und Reserven aufzutanken. Ich versuche jeden Tag eine Stunde Zeit für mich zu haben - sei es für Yoga, Joggen, Meditieren oder einfach mal nur eine Tasse Kaffee in vollen Zügen genießen. Meine Erfahrung hat mir gelehrt - da kommen mir die besten Ideen, weil der Kopf dann frei wird und die innere Stimme zu Wort kommen darf. Auch ich kann jedem nur empfehlen, sich diese Zeiten einzuplanen.
    Danke für den Impuls! Ich werde diese Woche noch bewusster mit der Zeit für mich umgehen und beobachten, was mir da so begegnet :)
    Liebe Grüße,
    Katrin

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    1. Hallo Katrin,

      danke für deinen Kommentar! Dein Kartenspiel ist der beste Beweis dafür, was dabei herauskommen kann, wenn man sich die Auszeit gönnt. Das ist echt beispielhaft, ich würde dazu gern mehr hören.

      Liebe Grüße!

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  3. Hallo Katrin,

    bei mir ist es genau umgekehrt, ich verbringe gerne und viel Zeit mit mir selbst und muss mich manchmal "zwingen", Zeit mit meinen Freunden und Mitbewohnern zu verbringen.

    Ich habe das Gefühl, dass ich persönlich im Umgang mit anderen momentan mehr reife als wenn ich Zeit mit mir selbst verbringe.

    Liegt das daran, dass ich sowieso schon viel Zeit alleine verbringe oder gibt es da verschiedene Typen?

    Grüße

    Tim

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  4. Ich glaube, dass es auf die Qualität der Zeit ankommt, die wir verbringen. Gleich ob mit Familie, Freunden oder auch alleine. Was soll am Ende der Zeit entstanden sein? (Z.B. Zufriedenheit, Ruhe)

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