Digitale Demenz und andere zurückgebliebene Missverständnisse
Wir erinnern uns an Manfred Spitzers Warnung, dass das Internet uns dumm mache. Digitale Demenz ist das alarmierende Schlagwort. Seine These: Die "Auslagerung des Denkens auf Maschinen schadet dem Gehirn." Studien belegen angeblich, "dass jemand gegoogelte Inhalte mit geringerer Wahrscheinlichkeit im Gehirn abspeichert als jemand, der sie auf andere Weise sucht" (Pressetext). Außerdem fällt es uns angeblich immer schwerer, uns zu konzentrieren. Hinzu kommt, dass wir ja nur noch Facebook Friends und keine wahren Freunde mehr haben, oder?In Allain de Bottons School of Life war kürzlich der Psychologe und Kognitionswissenschaftler Tom Stafford zu Besuch, um daüber zu reden, wie die offensichtlich immer noch neuen Internet-Technologien unser Gehirn beeinflussen.
Wie verändert uns die Technik? Der schlappe Mensch. (Juan Cieri via Flickr) |
Aufmerksamkeit ist endlich
Das Internet, so wie wir es kennen, ist noch nicht einmal zwanzig Jahre alt und schon jetzt dominiert es das Leben der meisten von uns. Unsere Smartphones sind dafür geschaffen, immer bei uns zu sein und uns all das zu servieren, das wir wissen wollen, jederzeit. Oft wird darüber spekuliert, wie dieser konstante Livestream, dem wir ausgesetzt sind, unsere Fähigkeit zur Konzentration beeinflusst. Viele haben das Gefühl, nicht mehr so denken zu können, wie früher und haben Schwierigkeiten, lange und konzentriert zu lesen. Stafford weist jedoch darauf hin, dass das kein neues Phänomen sei:Die größte Erkenntnis aus über 40 Jahren Forschung zum Thema Aufmerksamkeit lautet, dass die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit begrenzt ist und immer begrenzt sein wird.
Nachweislich können wir die Fähigkeit zur visuellen Aufmerksamkeit und zum oberflächlichen Multi-Tasking durch regelmäßiges Computerspielen trainieren. Genauso können wir üben, uns ganz konzentriert auf eine Tätigkeit zu fokussieren. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass wir nicht alles zugleich haben können. Wir müssen uns entscheiden, wie und wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken.
Das Gedächtnis ändert sich mit der Fülle an Informationen
Gratulation, wenn Sie es im Text bis hierhin geschafft haben, ohne ihre E-Mails zwischendurch zu checken. Aber können Sie sich noch erinnern, was sie gerade gelesen haben? Die älteren Semester, von denen viele noch Gedichte und Hauptstädte der Welt auswendig gelernt haben, beschweren sich oft, dass die Jugend von heute sich auf Google verlässt, anstatt aufs Gedächtnis. Hat der ständig mögliche Zugriff auf die im Netz gespeicherten Informationen unserer Erinnerungsfähigkeit geschadet? Sind wir digital dement?Psychologen wie Dan Wegner von der Harvard University konnten zeigen, dass das Internet tatsächlich einen Einfluss darauf hat, wie wir unser Gedächtnis nutzen. Wenn wir heute neuer Information ausgesetzt werden, ist es weniger wahrscheinlich, dass wir dieser Information neuen Speicherplatz in unserem Gehirn zur Verfügung stellen. Statt dessen bilden wir detaillierte Erinnerungen daran, wo wir diese neuen Informationen wieder finden können, sollten wir sie doch einmal benötigen. Wegner nennt diese Fähigkeit des Outsourcings von Informationsspeicher transactive memory (transaktiver Speicher).
Auch das ist jedoch nichts neues. Seit Menschengedenken haben wir Erinnerungen transportiert und verpflanzt, damit sie nicht verloren gehen. Wir haben Sachen aufgeschrieben, gedruckt und gespeichert. Sogar das Singen in Reimen und Strophen war eine Technik, um Informationen weiterzureichen und aus dem verletzlichen und sterblichen Gehirn des einzelnen auszulagern.
Der große Unterschied jetzt ist einfach die enorme Menge an Informationen und der immer mögliche Zugriff darauf. Stafford findet, dass es keinen Grund dafür gibt, sich darüber Sorgen zu machen, dass wir uns aufs Internet verlassen müssen, um all das zur Verfügung zu halten. Vielmehr sollten wir uns vergegenwärtigen, dass wir plötzlich Zugang zu Erfahrungen und Informationen in einem zuvor nie gekannten Ausmaß haben. Auch unsere Großeltern hätten sich damals so viel Informtaionen nicht merken können. Das fiel aber nicht auf, weil einfach nicht so viel Information zugänglich war.
Aber wenigstens ist Social Media Schuld am Verschwinden von Beziehungen, oder?
Die Soziologin Sherry Turkle sieht eine immer düsterere und einsamere Welt aufkommen: "Die Verbindungen, die wir im Internet eingehen, sind nicht die Bindungen, die am Ende wirklich halten." Doch Stafford hält dagegen: "Als Zeitungen in Mode kamen, sagten die Schwarzmaler voraus, dass es das Ende der persönlichen Unterhaltung sei. Aber heute reden wir immer noch mit einander. Wir verbringen vielleicht viel Zeit in Online-Chats, aber die Kneipen und Cafés sind voll wie eh und je. Es gibt sogar Untersuchungen die zeigen, dass solche Leute mit vielen Online-Friends auch viele Freunde in der "wirklichen Welt" haben. Unsere Gehirne sind darauf programmiert, nach sozialer Interaktion zu streben und neue Technologien geben uns neue Mittel dafür. Der Trick ist lediglich, die Mittel zu finden, die für mich selbst am besten funktionieren.Das Internet macht uns nicht dumm, wir können es klug oder dumm nutzen
Wie immer ist nicht die Technologie böse, sondern es kommt darauf an, die Technologie so zu nutzen, dass etwas gutes dabei herauskommt. Wir sind ja der Technologie nicht passiv unterworfen, sondern haben es selbst in der Hand, die Technologie so einzusetzen, dass sie unserer Konzentration, unserer Vernunft und unserem Mitgefühl entgegenkommen. Stimuli über das Internet oder andere Technologien haben keinen Vorrang vor jeglichen anderen Stimuli, die unsere Gehirne erreichen. Unsere Hirne passen sich lediglich unserem Lebensstil an. Informationen, Unterhaltung und die soziale Verbundenheit, die uns das Internet bieten können, sind oft verführerisch. Aber das war das passive Fernsehen zu seiner Zeit oder noch viel früher die blutigen Gladiatorenkämpfe auch. Wir haben letztlich selbst zu entscheiden, welche Technologien wir nutzen, wie und wann wir sie nutzen und wann wir sie einfach mal ausschalten sollten.Apropos: Wollmilchsau berichtet bereits von Anti-Social-Media Apps: Hell Is Other People ist das Gegenteil von Facebook, Foursquare oder Googles Places. Die App hilft uns, anderen Leuten aus dem Weg zu gehen. Wenn wir ausgehen und auf keinen Fall andere Menschen treffen wollen, dann reicht ein Blick auf die App und wir wissen, wo wir hingehen können, um garantiert keine unserer "Friends" zu treffen. Das ist wahrhaft asozial und und ganz nach meinem introvertierten Geschmack.
Der Text Our Connected Brains vom Neurowissenschaftler Ben Martynoga liegt diesem Artikel zugrunde.
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Transactive Memory = schöner Begriff und ich denke, da kommt man heut nicht drumrum. Die Informationsflut hat sich in den letzten Jahrzehnten revolutionär entwickelt und unsere Genetik nur evolutionär. Kommt dadurch logischerweise zu einer Überflutung und wir müssen uns dann automatisch auf Hilfsmittel verlassen, die uns dabei helfen unseren Alltag zu organisieren.
AntwortenLöschenGruss
Alex
Danke, Gilbert, dass Du das Thema auch nochmals aufgegriffen hast. Ich denke auch, dass Jene, die das Internet zum Verdummen nutzen, es vermutlich auch sonst in ihrem Leben genauso machen.
AntwortenLöschenDas Thema der Informationsüberflutung ist noch eines, was mich noch nachdenklich macht. Unsere Mainstream-Medien bringen meist nur Informationen, die wir wissen sollen und halten jene zurück, die wir eben nicht wissen sollen. Also gehen wir ins Netz und schauen nach alternativen Medien. Hier habe ich festgestellt, dass sich mit der Zeit vertrauenswürdige Freundschaften entwickeln, die helfen, möglichst zügig den Spreu vom Weizen zu trennen. Das ist sicher eine Stärke des interaktiven Internets. Jede falsche Nachricht wird über kurz oder lang als solche entlarvt. Zumindest gibt es sehr schnell alternative Perspektiven auf Medien. Über diese zu reflektieren macht sich nicht dumm. Ganz im Gegenteil.
Viele Grüße
Martin
Bedenken muss man aber, dass auch "das Netz" durch sein Haupteinfallstor Google auch nur ein Mainstream-Medium ist. Was wird bei dieser Suchmaschine oben in der Ergebnisliste gelistet? Antwort: Diejenigen Websites, die am beliebtesten sind. Der PageRank machts möglich, denn weiter oben gelistet werden die Seiten, auf die viel verlinkt wird. Niemand darf den Fehler machen zu glauben, über Google auf bequeme Weise Zugriff auf das gesamte Meinungsspektrum zu erhalten. Dazu nämlich müsste man alle Zig-Tausend Suchergebnisse durchforsten, was aber niemand tut: spätestens ab Position 30 reicht es dem Sucher doch meist, der damit glaubt, erschöpfend geforscht zu haben.
LöschenGewissenhaftes, ergebnisoffenes Recherchieren ist - nicht anders als zu allen Zeiten - auch im Netz-Zeitalter mühsam und aufwendig.
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
AntwortenLöschenIch seh das ganze positiv ( zumindest in Deutschland ). Man hat im Internet die Wahl ( was auch manchmal eine Qual sein kann ) von wo man seine Informationen bezieht, was ja auch eine gewisse Form von Freiheit ist. Dieses Medium ist für mich ganz klar das Tor ins Informationszeitalter. Die Vorteile dieses Mediums liegen für mich klar auf der Hand: Text, Audio, Video, Animationen, Interaktionen, Netzwerke. Alles in sekundenschnell abrufbar. Zudem lassen sich die Informationen abspeichern womit man für lau seine eigene Wissenssammlung anlegen kann ( die dann auch noch in sekundenschnelle durchsucht werden kann ). Voraussetzung ist allerdings das man sich mit diesem Medium gut auskennt. Software ist heutzutage sehr komplex und das ist sicher auch die Herausforderung für die Zukunft, aber das steckt ja alles noch in den Kinderschuhen. Wenn man bedenkt dass man z.b. Häuser schon seit Hunderten von Jahren baut aber Software erst seit ein paar Jahrzehnten. Die Hardware wächst ja sowieso in einem Maße, wo man sich fragt was wohl da noch alles möglich werden kann, siehe Mooresches Gesetz.
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