Vertraute Bilder: Klassenbewusstsein in der DDR (Bild von Wolfsraum über Flickr) |
Mächtige Strukturen gesellschaftlicher Prägung
Wenn man an unsere Muttersprache denkt oder daran, wie Umgangsformen, Sitten und erlernte Gewohnheiten uns formen und wie wir durch sie geprägt wiederum die nächste Generation prägen, dann muss man zugeben, dass diese Strukturen ziemlich mächtig sind. Ich denke aber auch, dass wir sie überschätzen. Vielleicht wollen wir sogar an Prägung und Gewohnheit glauben. Der Glaube an die Festlegung durch Sozialisation ist bequem, aber vernachlässigt die individuelle Freiheit eines jeden Menschen, sich selbst zu bestimmen, ein neues Leben zu entwerfen, auszubrechen und eventuell sogar neue Generationen vorzubereiten.Immer wieder faszinieren uns Geschichten von historischen Größen wie Benjamin Franklin oder Abraham Lincoln, die aus armen Verhältnissen mit rudimentärer Bildung kamen und dennoch die Welt wissenschaftlich und gesellschaftlich vorangebracht haben. Erstaunlich, aber nicht zufällig, dass gerade die Vereinigten Staaten von Amerika bis zum heutigen Tag große Männer aus armen Verhältnissen hervorbringen, wie wir zum Beispiel an Barack Obama sehen können. Zeigen uns solche Geschichten und natürlich auch unsere eigenen Lern- und Weiterentwicklungserlebnisse nicht, dass man gesellschaftliche Prägungen nicht überbewerten sollte?
Die Entfaltung des Ichs
Im Grunde ist jede Selbstverwirklichung ein Sieg gegen die Detrminanten der Gesellschaft. Durch die Sozialisation kommt uns die Gesellschaft bei der Ausbildung eines Ichs immer zuvor. Wir können kein im strengen Sinne durch und durch authentisches Ich werden, denn wenn (überhaupt) unser Ich zur Freiheit erwacht, dann ist es bereits auf vielfältige Weise geprägt. Im schlimmsten Fall bringt diese Prägung eine Art Ergebenheit ins Schicksal mit. Man weiß dann, wo der eigene Platz in der Gesellschaft ist, dass man sich keine Hoffnungen (außer vielleicht auf einen Lottogewinn) machen muss, dass man so oder so ist und nichts anderes kann.Eine eigentlich absurde Vorstellung, denn das, was das Ich wirklich ausmacht, muss doch das sein, was über diese Prägung hinaus geht. Alles das ist individuell, wodurch ich mich von anderen unterscheide, was mich aus der Masse hervorhebt. Ich muss da an Nietzesches Aufforderung denken: "Werde, der du bist!" Das ist meine Affirmation der Entfaltung und meine Abgrenzung gegen die Gesellschaft, die uns allzu leicht einverleibt. Das ist auch mein Anspruch an mich selbst, mich nicht der Bequemlichkeit des Schicksals hinzugeben.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier
Wie herabwürdigend mir in diesem Zusammenhang sozialistische Schlagworte wie "Klassenbewusstsein" vorkommen. Da wurde unverholen verlangt, dass man sich gefälligst einzuordnen hat, sich keine Individualität anzumaßen und sein Bewusstsein zu entindividualisieren habe, um sein Ich von der Klasse konsumieren zu lassen. Hier wird versucht, das Verlangen, das eigene Ich aus dem gewöhnlichen herauszuheben, im Keim zu ersticken. Obwohl doch dieses Herausheben das eigentlich Menschliche ist. Ohne das bräuchten wir dieses riesige energiefressende Organ in unserem Kopf gar nicht. Wir könnten wie die Rinder leben. Das menschliche Herausheben aus der Masse liegt (in kosmischen Schritten betrachtet) auf einer Linie mit dem Hervorgehen des Bewusstseins aus der unbewussten Materie und mit der Entstehung von Materie aus dem Nichts.Wir sagen gern: "Der Mensch ist ein Gewohnheitstier" und meinen das als Entschuldigung dafür, dass wir zu faul sind, mal was neues auszuprobieren. Dabei wurde die Rolle der Gewohnheiten (lateinisch: habitus) bei der Formung menschlicher Existenz in der Philosophiegeschichte bereits viel differenzierter und produktiver betrachtet. Peter Sloterdijk schreibt dazu:
"Wenn die Scholastiker vom habitus reden, meinen sie eine janusköpfige Disposition, die mit dem einen Gesicht auf die Serie der vergangenen ähnlichen Handlungen zurückschaut, in der sie Gestalt angenommen hat, während sie mit dem anderen auf die nächsten Anlässe vorausblickt, in denen sie sich von neuem bewähren soll." (Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern: Über Anthropotechnik, S. 288)
Werde, die oder der du insgeheim schon bist!
Hier wird deutlich, dass sich Gewohnheit als eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung darstellt. Denn nur Gewohnheit, die auch bei neuartigen Situationen noch funktioniert, kann erfolgreich sein. Das ist alles andere, als die faule Routine. In diesem Sinne ist Gewohnheit bereits eine Art Training, ein Üben. Die alten Philosophen wie Aristoteles oder Thomas von Aquin, von denen Sloterdijk redet, sahen in der Gewohnheit ein eingeübtes Vorbereitetsein auf tugendhaftes Handeln. Gerade wenn sich die Gelegenheit, das Gute zu tun, selten zeigen sollte, ist die Vorbereitung auf diese Unwahrscheinlichkeit so wichtig. Im Grunde ist das immer noch der Kern unseres Gedankens der Erziehung und Bildung.Natürlich haben wir beide Seiten in uns: Bequemlichkeit, Bedürfnis nach Ruhe und Endspannung im Leben. Aber auch den Drang zu lernen, uns weiter zu entwickeln, besser zu werden im Sport, im Beruf, in der Liebe... im Leben. Man muss es übereinbringen, wissen wann das eine angebracht ist und was das andere. Wer sich nur entspannt, wird zur Masse, die man leicht einspannen kann, herummanövrieren und missbrauchen kann. Wenn wir es ernst meinen mit unserem Anspruch, eigenverantwortlich Individuen zu sein, dann dürfen wir uns nicht in irgend welche Schubfächer, Klassen und Schichten einsortieren lassen. Wir müssen uns gewohnheitsmäßig dem Besseren zuwenden. Werde, der du insgeheim schon bist! Alles andere ist Murks.
Das sollte Sie auch unteressieren: Drei Schritte der Entpassivierung unserer selbst
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