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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

28. April 2013

Drei Schritte der Entpassivierung unserer selbst

Was kann Philosophie heute noch praktisch leisten? Ich denke, ein Menge! Selbst wenn man sich auf die antike griechische und fernöstliche Philosophie bezieht, hat sie eine unheimliche Kraft, unser Leben zu transformieren. Moderne Philosophen wie Nietzsche, Heidegger, Hannah Arendt und jetzt Peter Sloterdijk spüren diesen antiken Ideen nach und übersetzen sie in unsere moderne Sprache.

Warsaw Pillow Fight 2010
Entpassivierung: Raus aus der Trägheit (Warsaw Pillow Fight 2010 von Kuba Bożanowski)

Kurz gefasst läuft es immer darauf hinaus, uns aus der Passivität, der Trägheit, der Unterwürfigkeit und der Ergebenheit zu reißen. Das Schwierige daran: Es ist ein ganz individueller Akt, den jeder für sich wollen und durchführen muss. Hilfestellung dazu kann uns aber die Philosophie geben. Die moderne Entpassivierung, wie Sloterdijk sagt, ist die Grundlage für unsere Ethik und sie setzt an drei Punkten an: Leidenschaften, Gewohnheiten und dem Denken.

Leidenschaften ernst nehmen und nicht nur erleiden

Jede große praktische Philosophie setzt sich mit dem Thema Leid und Passion auseinander. Leiden muss man ertragen können, das gehört zum Menschsein. Die Wörter Leidenschaft und im Romanischen Passion schaffen es aber, das Leid in etwas Positives zu übertragen. Schöpferische Kraft, Wollen und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz können sich in unseren Leidenschaften ausdrücken. Wer eine Leidenschaft hat, leidet dann, wenn er sich ihr nicht widmen kann. In den Leidenschaften drückt sich unsere Fähigkeit aus, Leidenspotenzial zu erkennen und schöpferisch umzuwerten, wie werden zu Könnern unserer Leiden, wenn wir sie ernst nehmen. Für mich ist es eine Erinnerung daran, wie wichtig es ist, die eigenen Leidenschaften zu kennen, sie ernst zu nehmen und sie ins tägliche Leben zu übersetzen. Wir wissen alle nur zu gut, wie einfach es ist, im täglichen Rumwursteln unsere Leidenschaften auf ein Später zu verschieben und schließlich zu vergessen. Dieses Vernachlässigen unserer Leidenschaften schafft Leiden.*

Gewohnheiten besitzen, anstatt von ihnen besessen zu sein

Die Ausrede vom Menschen als Gewohnheitstier, habe ich bereits im Artikel zu Sozialisation und Gewohnheit untersucht. Auch hier kommt es wieder auf die Bewusstwerdung und in der Folge auf die Entpassivierung an. Wir werden nicht dadurch zu Menschen, dass wir uns unseren Gewohnheiten und Mechanismen hingeben, sondern dadurch, dass wir sie erkennen und aktiv mit ihnen arbeiten, sie uns produktiv und kreativ umzugestalten und zu nutze zu machen. Schöpferisch werden wir, wenn wir uns nicht nur formen lassen, sondern selbst formen, unser Leben führen, anstatt nur zu leben. Alles andere ist Trägheit und Trägheit macht uns korrumpierbar, macht uns zu Werkzeugen derer, die nicht träge sind.

Mit dem Denken beginnen

"Das Denken beginnt, wenn das Affentheater der Assoziationen aufhört", meint Sloterdijk.** Auch hier ist es wieder das Aktive, das gegenüber dem passiven Ausgfeliefertsein der Gedanken, den Unterschied ausmacht. Denken ist ein gerichteter und struktrierter Prozess beim Umgehen mit Gedanken. Ich beobachte die Manie, das Internet, auf Facebook und so weiter, mit cleveren Zitaten zu überschwemmen, durchaus mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Auf der einen Seite finde ich es gut, dass Gedanken ihre Wege rund um die Welt antreten können. Auf der anderen Seite beobachte ich, wie wir ohne wirklich über diese Zitate nachzudenken, einfach "Gefällt mir" klicken. Auf diese Art haben wir das Gefühl, uns wieder mal als clever gezeigt zu haben, machen uns aber nicht die Mühe, das gelikte wirklich zu überdenken und einzuordnen in all die anderen Gedanken, die wir eventuell haben. Gedanken werden erst zum Denken, wenn aus ihnen ein Zusammenhang wird, der uns leitet und dabei hilft, durch die Welt zu navigieren, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Assoziationen, Vorstellungen und Träume sind lediglich Vorstufen, aus denen ohne die Anstrengung wirklichen Denkens nicht viel wird.

Philosophie als Entpassivierung unserer selbst

Dieser philosophische Dreischritt, der sich im Aneignen der Leidenschaften, im Gestalten der Gewohnheiten und im Ordnen der Gedanken zeigt ist ganz wesentlich auf Aktivität ausgerichtet. Zum einen manifestiert sich darin die - soweit wir wissen - einzigartige Fähigkeit des Menschen, sein Leben zu führen, zu gestalten, anstatt nur den Umständen ausgeliefert zu sein und sich der Umwelt anzupassen. Zum anderen hat es auch politische und damit ethische Relevanz. Denn verharrt man aus Trägheit und Faulheit - und andere Gründe gibt es beinahe gar nicht - in der Passivität, dann degradiert man sich selbst zur Verhandlungsmasse der herrschenden Mächte. Man gehört dann zum Heer der Bauern im Schachspiel der Macht oder zur Infanterie von Armeen, am Ende - um es zuzuspitzen - kann man Aufseher in einem KZ werden, aber Mensch im Sinne von Subjekt ist man damit nicht. Das ist die Pointe praktischer Philosophie, hier wird Philosophie wichtig - jeden Tag und für uns alle.

Am Ginkaku-ji Tempel, am Ende des Philosophenweges in Kyoto (eigenes Foto aus Japan)


* Anmerkung vom 1.5.2013: In den religiösen und philosophischen Geschichte ist es natürlich enorm wichtig, den Leidenschaften widerstehen können. Erst das macht die großen Asketen, die Überwinder der Normalität aus. Ein Gedanke, den ich hier nicht fortführen will, obwohl ich denke, dass er auch jenseits von Religion und alter Philosophie seine Relevanz hat.
**Du mußt dein Leben ändern: Über Anthropotechnik, S. 305

7 Kommentare:

  1. "Gedanken werden erst zum Denken, wenn aus ihnen ein Zusammenhang wird, der uns leitet und dabei hilft, durch die Welt zu navigieren, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden und die richtigen Entscheidungen zu treffen. "

    Das ist eine gute Differenzierung. Ziemlich wichtig, vom Denken eine bestimmte Qualität zu fordern, bevor man es überhaupt so nennt.

    Facebook betrachte ich als eine der derzeit stärksten Kräfte der Passivierung. Das "liken" führt meiner Ansicht nach zu einer Art Inflation schöner Gedanken, die aber, in ihrer schieren Masse, nur noch einen Erstickungseffekt hervor rufen.

    Ausserdem fehlt auf Facebook die Distanzierung. Es ist nicht möglich von etwas explizit Abstand zu nehmen. Das Schlechte hört damit auf zu existieren. Das führt im Denken à la Facebook dazu, daß es ein "Gute oder Böse" nicht mehr gibt.

    Diese fehlende Distanz thematisiert auch der Philosoph Byung-Chul Han. Ich hastte kürzlich Gelegenheit in auf dem tazlab in Berlin zuhören. Ebenfalls im Zusammenhang mit diesem Beitrag hier ist interessant Harald Welzers jüngtes Buch: Selber Denken, Eine Anleitung zum Widerstand. Welzer war auch auf dem tazlab.

    Ich habe zu beiden auf meinem Blog etwas geschrieben => http://unbuddhist.com/2013/04/22/tazlab-2013-neuroquatsch-politillusion-und-die-zeit-der-anderen/#2

    Viele Grüße, Matthias

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    1. Danke, Matthias! Das sind wirklich starke ergänzende Gedanken. Zu Facebook etc. fällt mir noch ein, dass zusätzich der Effekt entsteht, dass alle nur noch unter gleichen sind: Alle zeigen dieselben schönen Fotos von Erlebnissen, Urlauben, ihren Kindern und Haustieren. Es entsteht ein Druck, sich selbst in einem ebenso positiven Licht darzustellen. Alle wollen gleich previligiert sein. Krankheit, Schwäche, Scheitern haben hier keinen Platz.

      Was mir echt in deinem Text gefällt, ist der Gedanke vom "Widerstand gegen sich selbst". Das ist auch das, was ich mit dem Ausbruch aus eigener Trägheit meine. Ich glaube, das ist verdammt schwer, weil in uns ein starkes Prinzip lenkt: Mein Überleben und das meiner Sippe. Alle anderen können verrecken. Wir sind einfach keine globalen Menschen, sondern lokale Tiere. Aber als Menschen hätten wir die Kraft, das Tierische zu überwinden und zu wirklichen Menschen zu werden.

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  2. Wenn wir auch unser kritisches Denken auf die Nutzung von Facebook & Co. anwenden, so sehe ich hier eher eine Bereicherung an Denkimpulsen, die ich in der Menge kaum anderswo erhalten könnte. Und ich beobachte hier zunehmend Menschen, die das Denken mehr und mehr beginnen.
    Sicher gibt es auch negative Effekte. In Summe sehe ich das Internet im Zusammmenspiel mit den Mitmachanwendungen als das Mittel, um nun die Menschen in Kooperation zu bringen. Ähnlich wie es damals die Einzeller schaften, miteinander zu kommunizieren, um komplexere Lebewesen zu bilden, sehe ich nun den nächsten mögliche Schritt, uns gemeinsam auf den Weg zu machen, uns nicht mehr gegenseitig die Köpfe einzuschlagen sondern bewusst ins Miteinander teilen zu kommen.

    Viele Grüße
    Martin

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    1. Ich denke, mit dem Thema Kooperation hast du den Finger in die Wunde gelegt. Siehe meine Gedanken zur Schwere der Kooperation und zur Leichtigkeit des Gegeneinanders (als evolutionäres Programm).

      Zünden wir im "Gemeinsam" die nächste Stufe der Menschheit!

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  3. Hallo Martin, "das Internet" und "Facebook" sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Nur ein Beispiel. Facebook ist ein privater Raum, ein privates Unternehmen, wo eigene Regeln und Gesetzte gelten. Facebook kann z.B. löschen was es für falsch hält, ohne dabei auf Meinungsfreiheit Rücksicht nehmen zu müssen. Letztere gilt im Internet, nicht aber bei Facebook –was sich nicht zuletzt durch die fehlenden Möglichkeit der Distanzierung ausdrückt.

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  4. Hallo, leider schaffen es Philosophen selten so zu formulieren, dass auch weniger gebildete Menschen die Texte verstehen können. Das finde ich schade.

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    1. Das stimmt, das wäre schade. Wenn du Fragen hast, dann kannst du sie hier stellen. Oder auch unter "Kontakt".Vielen Dank fürs Lesen!

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