28. April 2013

Drei Schritte der Entpassivierung unserer selbst

Was kann Philosophie heute noch praktisch leisten? Ich denke, ein Menge! Selbst wenn man sich auf die antike griechische und fernöstliche Philosophie bezieht, hat sie eine unheimliche Kraft, unser Leben zu transformieren. Moderne Philosophen wie Nietzsche, Heidegger, Hannah Arendt und jetzt Peter Sloterdijk spüren diesen antiken Ideen nach und übersetzen sie in unsere moderne Sprache.

Warsaw Pillow Fight 2010
Entpassivierung: Raus aus der Trägheit (Warsaw Pillow Fight 2010 von Kuba Bożanowski)

Kurz gefasst läuft es immer darauf hinaus, uns aus der Passivität, der Trägheit, der Unterwürfigkeit und der Ergebenheit zu reißen. Das Schwierige daran: Es ist ein ganz individueller Akt, den jeder für sich wollen und durchführen muss. Hilfestellung dazu kann uns aber die Philosophie geben. Die moderne Entpassivierung, wie Sloterdijk sagt, ist die Grundlage für unsere Ethik und sie setzt an drei Punkten an: Leidenschaften, Gewohnheiten und dem Denken.

Leidenschaften ernst nehmen und nicht nur erleiden

Jede große praktische Philosophie setzt sich mit dem Thema Leid und Passion auseinander. Leiden muss man ertragen können, das gehört zum Menschsein. Die Wörter Leidenschaft und im Romanischen Passion schaffen es aber, das Leid in etwas Positives zu übertragen. Schöpferische Kraft, Wollen und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz können sich in unseren Leidenschaften ausdrücken. Wer eine Leidenschaft hat, leidet dann, wenn er sich ihr nicht widmen kann. In den Leidenschaften drückt sich unsere Fähigkeit aus, Leidenspotenzial zu erkennen und schöpferisch umzuwerten, wie werden zu Könnern unserer Leiden, wenn wir sie ernst nehmen. Für mich ist es eine Erinnerung daran, wie wichtig es ist, die eigenen Leidenschaften zu kennen, sie ernst zu nehmen und sie ins tägliche Leben zu übersetzen. Wir wissen alle nur zu gut, wie einfach es ist, im täglichen Rumwursteln unsere Leidenschaften auf ein Später zu verschieben und schließlich zu vergessen. Dieses Vernachlässigen unserer Leidenschaften schafft Leiden.*

Gewohnheiten besitzen, anstatt von ihnen besessen zu sein

Die Ausrede vom Menschen als Gewohnheitstier, habe ich bereits im Artikel zu Sozialisation und Gewohnheit untersucht. Auch hier kommt es wieder auf die Bewusstwerdung und in der Folge auf die Entpassivierung an. Wir werden nicht dadurch zu Menschen, dass wir uns unseren Gewohnheiten und Mechanismen hingeben, sondern dadurch, dass wir sie erkennen und aktiv mit ihnen arbeiten, sie uns produktiv und kreativ umzugestalten und zu nutze zu machen. Schöpferisch werden wir, wenn wir uns nicht nur formen lassen, sondern selbst formen, unser Leben führen, anstatt nur zu leben. Alles andere ist Trägheit und Trägheit macht uns korrumpierbar, macht uns zu Werkzeugen derer, die nicht träge sind.

Mit dem Denken beginnen

"Das Denken beginnt, wenn das Affentheater der Assoziationen aufhört", meint Sloterdijk.** Auch hier ist es wieder das Aktive, das gegenüber dem passiven Ausgfeliefertsein der Gedanken, den Unterschied ausmacht. Denken ist ein gerichteter und struktrierter Prozess beim Umgehen mit Gedanken. Ich beobachte die Manie, das Internet, auf Facebook und so weiter, mit cleveren Zitaten zu überschwemmen, durchaus mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Auf der einen Seite finde ich es gut, dass Gedanken ihre Wege rund um die Welt antreten können. Auf der anderen Seite beobachte ich, wie wir ohne wirklich über diese Zitate nachzudenken, einfach "Gefällt mir" klicken. Auf diese Art haben wir das Gefühl, uns wieder mal als clever gezeigt zu haben, machen uns aber nicht die Mühe, das gelikte wirklich zu überdenken und einzuordnen in all die anderen Gedanken, die wir eventuell haben. Gedanken werden erst zum Denken, wenn aus ihnen ein Zusammenhang wird, der uns leitet und dabei hilft, durch die Welt zu navigieren, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Assoziationen, Vorstellungen und Träume sind lediglich Vorstufen, aus denen ohne die Anstrengung wirklichen Denkens nicht viel wird.

Philosophie als Entpassivierung unserer selbst

Dieser philosophische Dreischritt, der sich im Aneignen der Leidenschaften, im Gestalten der Gewohnheiten und im Ordnen der Gedanken zeigt ist ganz wesentlich auf Aktivität ausgerichtet. Zum einen manifestiert sich darin die - soweit wir wissen - einzigartige Fähigkeit des Menschen, sein Leben zu führen, zu gestalten, anstatt nur den Umständen ausgeliefert zu sein und sich der Umwelt anzupassen. Zum anderen hat es auch politische und damit ethische Relevanz. Denn verharrt man aus Trägheit und Faulheit - und andere Gründe gibt es beinahe gar nicht - in der Passivität, dann degradiert man sich selbst zur Verhandlungsmasse der herrschenden Mächte. Man gehört dann zum Heer der Bauern im Schachspiel der Macht oder zur Infanterie von Armeen, am Ende - um es zuzuspitzen - kann man Aufseher in einem KZ werden, aber Mensch im Sinne von Subjekt ist man damit nicht. Das ist die Pointe praktischer Philosophie, hier wird Philosophie wichtig - jeden Tag und für uns alle.

Am Ginkaku-ji Tempel, am Ende des Philosophenweges in Kyoto (eigenes Foto aus Japan)


* Anmerkung vom 1.5.2013: In den religiösen und philosophischen Geschichte ist es natürlich enorm wichtig, den Leidenschaften widerstehen können. Erst das macht die großen Asketen, die Überwinder der Normalität aus. Ein Gedanke, den ich hier nicht fortführen will, obwohl ich denke, dass er auch jenseits von Religion und alter Philosophie seine Relevanz hat.
**Du mußt dein Leben ändern: Über Anthropotechnik, S. 305

15. April 2013

Wie festgelegt sind wir durch unsere Sozialisation?

Unsere moderne Menscheitsgeschichte ist durch Klassen, Schichten und Kasten geprägt. Ich wuchs beispielsweise in einem Staat der angeblichen Arbeiterklasse auf. Und tatsächlich starteten beide Eltern als "Arbeiter" ins Leben: Gärtnerin und Maschinenschlosser. Machte mich das zum Arbeiterkind? Selbst heute noch - und gerade in Deutschland  - bestimmt die Herkunft über die Bildungs- und anschließend die Berufschancen. Da muss politisch und gesellschaftlich eine Menge vorangebracht werden. Aber was ist mit uns als Individuen in diesen Strukturen? Wie festgelegt sind wir durch unsere Sozialisation, durch unsere Erziehung, unser Umfeld, unsere Gewohnheiten?

Berlin Finanzministerium "Aufbau der Republik", Porzellanfries 4.
Vertraute Bilder: Klassenbewusstsein in der DDR (Bild von Wolfsraum über Flickr)

Mächtige Strukturen gesellschaftlicher Prägung

Wenn man an unsere Muttersprache denkt oder daran, wie Umgangsformen, Sitten und erlernte Gewohnheiten uns formen und wie wir durch sie geprägt wiederum die nächste Generation prägen, dann muss man zugeben, dass diese Strukturen ziemlich mächtig sind. Ich denke aber auch, dass wir sie überschätzen. Vielleicht wollen wir sogar an Prägung und Gewohnheit glauben. Der Glaube an die Festlegung durch Sozialisation ist bequem, aber vernachlässigt die individuelle Freiheit eines jeden Menschen, sich selbst zu bestimmen, ein neues Leben zu entwerfen, auszubrechen und eventuell sogar neue Generationen vorzubereiten.

Immer wieder faszinieren uns Geschichten von historischen Größen wie Benjamin Franklin oder Abraham Lincoln, die aus armen Verhältnissen mit rudimentärer Bildung kamen und dennoch die Welt wissenschaftlich und gesellschaftlich vorangebracht haben. Erstaunlich, aber nicht zufällig, dass gerade die Vereinigten Staaten von Amerika bis zum heutigen Tag große Männer aus armen Verhältnissen hervorbringen, wie wir zum Beispiel an Barack Obama sehen können. Zeigen uns solche Geschichten und natürlich auch unsere eigenen Lern- und Weiterentwicklungserlebnisse nicht, dass man gesellschaftliche Prägungen nicht überbewerten sollte?

13. April 2013

Ich darf das! Die Kraft von Affirmationen

Ausgehend von einem geschenkten Satz, entdeckt unsere Autorin Katrin Hentschel ganz neue Handlungsräume für sich selbst. Aber wie wirken solche Affirmationen, wie finden wir sie und wie können wir sie für uns nutzen? Lassen wir uns von ihr mitnehmen auf eine Entdeckungsreise positiver Glaubenssätze.

"Ich darf das" – ein Satz, der mir schon viel und oft geholfen hat. Er steht ganz dick hinter meinen Ohren geschrieben und hüpft mir regelmäßig in meine Ohrmuschel, wenn mich wieder mal mein schlechtes Gewissen ärgern will.

Es ist ein Satz, den ich von einer Frau geschenkt bekommen habe. Ich sollte ihn überall hinschreiben – auf den Spiegel, an die Türe, in die Schuhe und an all den Orten, an welchen ich ihm ganz oft begegnen muss.

Eine Affirmation öffnet mir neue Räume

Und wie das oft so ist mit Geschenken, weiß man manchmal nicht so recht, ob man sie überhaupt möchte. Ich habe meine Zeit gebraucht um mich mit ihm anzufreunden. Er hat einen egoistischen und eigensinnigen Charakter, mit dem ich zuerst absolut nicht klar kam.

Dennoch habe ich ihn auf ein buntes Papier geschrieben: "Ich darf das!" Ganz dick, mit Ausrufezeichen und in schwarz. Wohl bedacht, bekam ich schon seine erste Wirkung zu spüren: Ein klein wenig Selbstsicherheit drehte sich da in der Bauchgegend hin und her. Ich hing ihn in die Küche, so dass ich ihn jeden Morgen direkt im Blick hatte, bevor mein Tag los ging.

Von da an hatte der Satz mich gepackt und kam immer zum Vorschein, wenn ich mir nicht sicher war: "Was denken wohl die anderen, wenn ich mich heute Mittag nicht zu ihnen an den Tisch setze?" Schwupps war er da und stand mir zur Seite: "Ich darf das!" Schmunzelnd packte ich die Zweifel beiseite und setzte mich auf einen freien Platz zu Kollegen aus einer anderen Abteilung.

Der Satz schmiss einige Teile meines Lebens über den Haufen und brachte mir neue Handlungsoptionen. Dort wo ich früher gedacht hatte, dass sollte man nicht tun, das wirkt arrogant, eigenbrötlerisch, empfindlich oder auf irgend eine andere Art und Weise, dort denke ich mir jetzt öfters: "Was soll's? Ich darf das!"

Wie wirken solche simplen Sätze?

Ich denke, dieser Satz ist einer von vielzähligen Affirmationen. Affirmatio bedeutet im Lateinischen so viel, wie Beteuerung oder Versicherung. Es beschreibt eine Bejahung, Bekräftigung und Bestärkung.

Affirmationen und Glaubenssätze haben einen enormen Einfluss auf unser Denken und Verhalten. Wenn man sie sich immer wieder ins Gedächtnis holt, durch viele Wiederholungen und Aufschrieben, bleiben sie im Hinterkopf und wirken auf unser Verhalten. Verwenden wir solche Sätze dann auch im Alltag, dann beginnen wir sie zu verinnerlichen und danach zu leben. Wir können durch diese bejahenden Worte unsere ganze Lebenseinstellung ändern.

Wie wenden wir Affirmationen am besten an?

Für unseren Geist ist eine Negation nicht relevant. Es ist also wichtig, bei Affirmationen positive Formulierungen zu wählen. Ein kleines Beispiel:

Sagen sie zu sich selbst: "Heute esse ich keine Schokolade" – Was sehen sie vor ihren Augen? Vielleicht eine Tafel Schokolade oder etwas anderes Süßes? Und wo steckt in ihrem Bild das Wort "keine"? Dadurch, dass ihr Geist auf solch eine Vorstellung nicht programmiert ist, stellen sie sich unweigerlich eine Tafel Schokolade vor. So beginnt eher die Lust auf etwas Süßes, obwohl sie eigentlich genau dies vermeiden wollten. Ein innerer Kampf mit dem sogenannten "Schweinehund" entsteht. Und sind wir ehrlich - in diesem Fall gewinnt doch bei aller Liebe die Schokolade.

Versuchen wir deshalb die Formulierung anders aufzubauen: "Heute lasse ich die Schokolade liegen." Sie werden selbst merken, wie sie sich vor ihrem inneren Auge ein Bild hervorholen, in welchem sie die Tafel links liegen lassen können. Sowohl bei unserem eigenen Verhalten als auch bei der Erziehung von Kindern können wir auf dieses Hintergrundwissen bauen. Ich glaube, dass sich dadurch einige Konflikte und zukünftige Verhaltensmuster von Kindern vermeiden ließen.

Nehmen wir an, ein Kind spielt mit der Wasserflasche und man hört nur noch das Knistern der Kunststoffflasche und das geht einem tierisch auf die Nerven. Wie machen wir dem Kleinen verständlich, dass es doch bitte damit aufhören soll? Das typische "Mach nicht so einen Krach" ist viel weniger zielführend, als zum Beispiel: "Stell bitte die Flasche auf den Tisch". Die erste aber typische Aufforderung ist negativ und interpretierbar, während die zweite ganz klar und deutlich eine Aufforderung ohne Negation ist. Das ist nur eines von vielen Beispielen.

Wie sind wir programmiert?

Unsere Erziehung und unser Umfeld beeinflussen unser Verhalten und Denken. Und unser Denken formt unsere Vorstellungen. Oft tun wir also das, was wir jahrelang gelernt haben, manchmal sogar ohne darüber nachzudenken oder es zu hinterfragen.

Wir tun es, weil es immer schon so war, weil es unsere Eltern taten, unsere Freunde und unsere Vorfahren auch. Natürlich hat dieses menschliche Verhalten auch seinen Sinn: Es gibt uns feste Standpunkte im Leben, ohne die wir uns gar nicht weiterentwickeln könnten. Es gibt uns selbst die Möglichkeit, auch mal andere Wege einzuschlagen um auch wieder zurück zu kehren. Eine Art Grundstein, um darauf ein Haus zu bauen oder wie die Mulden in einem Felsen, die es uns Kletterern ermöglichen uns festzuhalten um einen nächsten Griff zu wagen.

Auch, wenn die Welt eigentlich von ständiger Veränderung geprägt ist, sehen wir Menschen oft und vieles wie immer. Dabei ist nichts gleichbleibend. Oft löst eine Affirmation eine Welle aus, die unser ganzes Denken neu programmieren kann. Sie kann uns helfen, wenn wir feststecken oder nicht recht weiterkommen. Wenn wir die Wirkungsweise unserer eignen Worte im Alltag positiv beeinflussen möchten, können wir das nur, wenn wir unsere Wortwahl auch bewusst treffen und uns hin und wieder auf neue Wege trauen.



Wie auch sie zu ihren Affirmationen finden

Sie fragen sich, was geeignete Affirmationen sind und wie sie diese für sich selbst finden? Überlegen sie, was ihnen Mut macht. Fragen sie sich, was im Einklang mit ihren Wünschen und Potentialen steht. Fragen sie sich, was ihnen weiterhilft. Oder auch - so viel Negativität sei gestattet - was sie bisher zurückhält, was sie klein macht und drehen sie das um, formulieren sie die positiven Gegensätze dazu. Geben sie sich etwas Zeit, schlafen sie drüber und schreiben sie geeignet wirkende Sätze auf. Dann sind sie ihren ganz eigenen und wirkungsvollen Affirmationen auf der Spur.

Wir würden gern von ihnen hören, welche Affirmationen für sie funktionieren. Lassen sie es uns und alle anderen Leser einfach hier unten in den Kommentaren wissen! Sie dürfen das!




Weitere Texte von Katrin Hentschel:

Müssen oder Dürfen? Was wir von Kindern lernen können
Erster Klasse zur Endstation Abgestempelt

9. April 2013

Die Angst in der Philosophie als Schlüssel zum Dasein

Heidegger und das Leben als Angst-Verhinderungsmaschine


Angst ist als eine Basisemotion ein Grundbestandteil unserer Existenz. Es ist nicht schwer zu erkennen, warum Angst wichtig ist und hilft uns am Leben zu erhalten. Die Angst vor dem Abgrund hält uns davon ab, unnötig große Risiken einzugehen. Es gibt jedoch auch weniger praktische, sehr abstrakte Ängste, die uns Menschen erst einmal nicht beim Leben helfen, sondern es uns im Extremfall verleiden. Was könnten solche Ängste sein und wozu sind sie gut? Philosophen wie beispielsweise Heidegger* geben uns darauf interessante Antworten.

Nur die grelle Leselampe als Gefährtin (Ausschnitt aus Late Night Reading von dogpon)

Was ist Angst?

Wenn wir philosophisch von Angst reden, dann meinen wir nicht die Furcht vor etwas konkretem wie dem Zahnarzt, sondern die Angst beispielsweise als ein Zustand, an dem man sich selbst als Individuum abgetrennt von anderen und der zuvor gemeinsamen Lebenswelt bewusst wird. Als unproblematische Vorstufe kennen viele von uns diese kurzen Momente, in denen uns alles und alle um uns herum komisch, distanziert oder gar absurd vorkommen. In solch einem Moment blickt man gewissermaßen hinter die Kulissen dieser gemeinsamen Lebenswelt. Sie scheint ein Theater zu sein, ein Zusammenspiel aus Masken und Interpretationen. Ansonsten funktioniert die Lebenswelt sehr gut, denn sie verstrickt uns in Sinnzusammenhänge in der Familie, auf der Arbeit, in der Politik, in Gemeinschaften also. Sie spannen uns so sehr ein und beschäftigen uns mit alltäglichen Problemen und Genüssen, dass wir nur diese gemeinsam erzeugten Sinnzusammenhänge sehen. Es ist, als wenn man einen Roman liest, völlig in ihn eintaucht, sich in die Figuren und ihre Welten einlebt, mitfühlt, identifiziert und dann plötzlich aufblickt und gewahr wird, dass man ganz allein an einem Tisch sitzt, nur die grelle Leselampe als Gefährtin.

Allein sein

Es ist zuerst also dieses Aufwachen im Alleinsein: Die Gewissheit, dass man trotz - beinahe wegen - der vielfältigen Beziehungen zu anderen Menschen fundamental allein ist. Man erkennt zum Beispiel, dass man nur selbst Zugang zu den eigenen Bewusstseinsinhalten hat. Streng genommen wird man von niemandem anderen verstanden, streng genommen ist man jedem anderen egal. Denn jeder ist wiederum in seinem eigenen Bewusstsein gefangen und nimmt den anderen nur vermittelt und im Eigeninteresse wahr. All das macht in der Lebenswelt meist nichts aus, weil die Beziehungen und ihre Wechselwirkungen stark genug sind, die belastenden Reflexionen gar nicht erst zuzulassen. Wer aber plötzlich von seinem Roman aufblickt, kann sich in solch einer Angst wiederfinden.

Ich hatte lange Zeit mit Angstzuständen zu kämpfen, im Artikel Schizoid - Die Angst vor dem Ich-Verlust habe ich ausführlicher dazu geschrieben. Was mir damals am meisten zusetzte war die Erkenntnis, dass ich mit niemandem über meine Angstattacken und dieses tief verstörende Gefühl, allein diesen Attacken ausgeliefert zu sein, reden konnte. Alles was andere mir sagen konnten, war: "Du bist doch nicht allein!" Natürlich war ich das, denn sie konnten diese Attacken weder sehen, noch nachempfinden oder in sonst irgend einer Form daran anknüpfen. Diese Angst war nur meinem eigenen Erleben zugänglich, niemand konnte teilhaben.

Der Sinn des Lebens

Begleitend zu dieser fundamentalen Einsamkeit wird eine absurde Sinnlosigkeit des Daseins offenbar. Diese Sinnlosigkeit heizt die Angst noch weiter an. Der Sinn des Seins ist die Zeit, meinte Heidegger, aber die Zeit selbst liefert uns keinen Sinn. Alles, was das Dasein hat, ist das "da", dass es sein muss. Wir sind ausgestreckt zwischen diesen Momenten der Geburt und des Todes, die beide in ihrer Art absurd, ohne Sinn sind. Außer diesen Momenten und unserer Aufgabe, die Zwischenzeit zu überbrücken (daher die Zeit als Sinn), gibt es nichts, das dem Leben einen Sinn gibt. Natürlich geben wir unserem Leben selbst Sinn, indem wir Beziehungen eingehen, Dinge oder Situationen erschaffen, die es uns als sinnvoll erleben lassen. Aber dies ist eben nicht der "absolute Sinn" oder Zweck des Lebens. Den gibt es nicht, nur diese zwei Momente als Klammer für das Selbsteinfüllen jeder Sinn- und Zweckhaftigkeit.

Mit Anlauf zurück in die Welt springen

Die Angst selbst ist also das plötzliche Herausfallen, das Aufwachen aus den ansonsten sicher geglaubten Sinnzusammenhängen des Lebens und der Gemeinschaft. Am Punkt dieser Bewusstwerdung steht man plötzlich nackt in einer feindlich leeren Gegend, in der keiner etwas mit einem zu tun haben will, besser gesagt: kann. Wer möchte oder kann einem schon in diese sinnlose Einsamkeit folgen? Man befindet sich in einer Distanz zum alltäglichen Leben und diese Distanz ist durch einen Abgrund markiert, den man im Moment der Angst nicht überwinden kann. Richtig furchteinflößend und psychologisch problematisch wird es dadurch, dass man sich nicht einmal mehr vorstellen kann, diese Distanz irgendwann wieder überbrücken zu können.

Solche psychologisch-philosophischen Krisen hat nicht jeder in seinem Leben und das ist auch gut so. Die meisten von uns kennen aber wenigstens diesen kleinen Horror, wenn uns plötzlich klar wird, dass wir ein Individuum sind und dass wir als solches an einem nicht so fernen Punkt in der Zukunft einfach aufhören werden, zu sein. Verrückt, oder? Das ist diese Angst im kleinen, die meistens im nächsten Augenblick durch einen leichteren und konkreteren Gedanken ersetzt wird. Wer sich aber in solche Absurditäten verbeißt, sie nicht loslässt, kann als Konsequenz von ihnen gefangen genommen werden. Dann können sich solche Krisen zu manifesten Störungen entwickeln, die einem das Alltagsleben schwer bis unmöglich machen. Dabei ist es gerade das Alltagsleben, auf das man angewiesen ist, um nicht in diesen Abgrund zu geraten. Man muss dann einen Anlauf nehmen und zurück in die Welt springen.

Wer zurück kommt, kommt mit Gelassenheit

Im Grunde ist unser gesamtes Leben eine einzige Angst-Verhinderungsmaschine: Liebe, Religion, Lebensaufgaben, aber auch Konsum oder Stress - eigentlich alles, was uns in Bewegung hält oder uns Erklärungen anbietet - verhindern, dass wir uns solchen Ängsten hingeben.

Es ist fast immer ein Unfall, ein Zufall oder sonst irgendein Zwischenfall, der in solche Ängste hineinführt. In den wenigsten Fällen wird jemand diese Angst suchen, denn sie ist grausam und gefährlich und es gibt keine Garantie für ein unbeschadetes Zurückkommen in die Lebenswelt.

Wer diesen Abgrund kennen lernen musste und ihn überwunden hat, gehört zu jenen Menschen, die hinter die Kulissen des Lebens in die völlige Leere geschaut haben. Hinter diesem Theater, sei es Komödie oder Drama, gibt es nichts und das ist höchst erschreckend. Aber es ist auch lehrreich und erhellend für die, die diese Leere aushalten und einen Weg zurück finden.

Ich habe zum Beispiel aus diesem Blick hinter die Kulissen den Schluss gezogen, dass die Kulissen der Lebenswelt mit ihren Gemeinschaften und Sinnzusammenhängen wertvoll sind, geachtet und gepflegt werden müssen. Denn diese selbst geschaffene Welt ist die einzige, die wir haben. Auf der anderen Seite ist sie aber eben auch nicht mehr als das. Sie ist keine absolute Welt mit absoluten Wahrheiten und Regeln, die nicht geändert werden dürfen. Wer den Abgrund gesehen hat, wird auch mit einer neuen Gelassenheit an die täglichen Zumutungen gehen. So jemand wird sich nicht von seinem Boss anbrüllen lassen oder irgend welche Konventionen und gesellschaftliche Vorstellungen vom richtigen Leben auf Gedeih und Verderb hinnehehmen. Am Ende dieser Angst steht die Erkenntnis der Freiheit in all ihrer Mehrdeutigkeit. Zum Beispiel: Freiheit von Sinn, Bestimmung und Bevormundung, aber damit auch die Freiheit zur Möglichkeit, zum Selbstentwurf, zur Eigenverantwortung. Heidegger nennt das die Eigentlichkeit oder das Ganzsein des Daseins wenn man sich selbst als die eine Möglichkeit ergreift, anstatt an all den tausenden Möglicheiten der Lebenswelt festzuhalten.



*Natürlich gibt es zur Angst in der Philosophie weitaus mehr als Heidegger. Bei Heidegger ist jedoch die moderne Perspektive nach Kirkegaard und Nietzsche und dem proklamierten Tod Gottes interessant. Spannend ist auch, was die Existentialisten wie Sartre und Camus später aus Heideggers Ansätzen gemacht haben. Wer eine gut lesbare Biographie zu Heideggers Leben und Werk lesen möchte, dem empfehle ich Ein Meister aus Deutschland: Heidegger und seine Zeit von Rüdiger Safranski. Das Buch ist umfangreich und ein wenig philosophische Vorbildung kann bei der Lektüre auch nicht schaden. Aber wer sich darauf einlässt, der lernt nicht nur Heidegger und seine Denkgebäude verstehen, sondern wird schaglichtartig die gesamte deutsche Philosophie des jungen 20 Jahrhunderts und seiner Vorgänger wie Kierkegaard und Nietzsche kennen lernen. Ein sehr empfehlenswertes Buch, wie eigentlich alles von Safranski.

Top 5 der meist gelesenen Artikel dieser Woche