Entpassivierung: Raus aus der Trägheit (Warsaw Pillow Fight 2010 von Kuba Bożanowski) |
Kurz gefasst läuft es immer darauf hinaus, uns aus der Passivität, der Trägheit, der Unterwürfigkeit und der Ergebenheit zu reißen. Das Schwierige daran: Es ist ein ganz individueller Akt, den jeder für sich wollen und durchführen muss. Hilfestellung dazu kann uns aber die Philosophie geben. Die moderne Entpassivierung, wie Sloterdijk sagt, ist die Grundlage für unsere Ethik und sie setzt an drei Punkten an: Leidenschaften, Gewohnheiten und dem Denken.
Leidenschaften ernst nehmen und nicht nur erleiden
Jede große praktische Philosophie setzt sich mit dem Thema Leid und Passion auseinander. Leiden muss man ertragen können, das gehört zum Menschsein. Die Wörter Leidenschaft und im Romanischen Passion schaffen es aber, das Leid in etwas Positives zu übertragen. Schöpferische Kraft, Wollen und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz können sich in unseren Leidenschaften ausdrücken. Wer eine Leidenschaft hat, leidet dann, wenn er sich ihr nicht widmen kann. In den Leidenschaften drückt sich unsere Fähigkeit aus, Leidenspotenzial zu erkennen und schöpferisch umzuwerten, wie werden zu Könnern unserer Leiden, wenn wir sie ernst nehmen. Für mich ist es eine Erinnerung daran, wie wichtig es ist, die eigenen Leidenschaften zu kennen, sie ernst zu nehmen und sie ins tägliche Leben zu übersetzen. Wir wissen alle nur zu gut, wie einfach es ist, im täglichen Rumwursteln unsere Leidenschaften auf ein Später zu verschieben und schließlich zu vergessen. Dieses Vernachlässigen unserer Leidenschaften schafft Leiden.*Gewohnheiten besitzen, anstatt von ihnen besessen zu sein
Die Ausrede vom Menschen als Gewohnheitstier, habe ich bereits im Artikel zu Sozialisation und Gewohnheit untersucht. Auch hier kommt es wieder auf die Bewusstwerdung und in der Folge auf die Entpassivierung an. Wir werden nicht dadurch zu Menschen, dass wir uns unseren Gewohnheiten und Mechanismen hingeben, sondern dadurch, dass wir sie erkennen und aktiv mit ihnen arbeiten, sie uns produktiv und kreativ umzugestalten und zu nutze zu machen. Schöpferisch werden wir, wenn wir uns nicht nur formen lassen, sondern selbst formen, unser Leben führen, anstatt nur zu leben. Alles andere ist Trägheit und Trägheit macht uns korrumpierbar, macht uns zu Werkzeugen derer, die nicht träge sind.Mit dem Denken beginnen
"Das Denken beginnt, wenn das Affentheater der Assoziationen aufhört", meint Sloterdijk.** Auch hier ist es wieder das Aktive, das gegenüber dem passiven Ausgfeliefertsein der Gedanken, den Unterschied ausmacht. Denken ist ein gerichteter und struktrierter Prozess beim Umgehen mit Gedanken. Ich beobachte die Manie, das Internet, auf Facebook und so weiter, mit cleveren Zitaten zu überschwemmen, durchaus mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Auf der einen Seite finde ich es gut, dass Gedanken ihre Wege rund um die Welt antreten können. Auf der anderen Seite beobachte ich, wie wir ohne wirklich über diese Zitate nachzudenken, einfach "Gefällt mir" klicken. Auf diese Art haben wir das Gefühl, uns wieder mal als clever gezeigt zu haben, machen uns aber nicht die Mühe, das gelikte wirklich zu überdenken und einzuordnen in all die anderen Gedanken, die wir eventuell haben. Gedanken werden erst zum Denken, wenn aus ihnen ein Zusammenhang wird, der uns leitet und dabei hilft, durch die Welt zu navigieren, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Assoziationen, Vorstellungen und Träume sind lediglich Vorstufen, aus denen ohne die Anstrengung wirklichen Denkens nicht viel wird.Philosophie als Entpassivierung unserer selbst
Dieser philosophische Dreischritt, der sich im Aneignen der Leidenschaften, im Gestalten der Gewohnheiten und im Ordnen der Gedanken zeigt ist ganz wesentlich auf Aktivität ausgerichtet. Zum einen manifestiert sich darin die - soweit wir wissen - einzigartige Fähigkeit des Menschen, sein Leben zu führen, zu gestalten, anstatt nur den Umständen ausgeliefert zu sein und sich der Umwelt anzupassen. Zum anderen hat es auch politische und damit ethische Relevanz. Denn verharrt man aus Trägheit und Faulheit - und andere Gründe gibt es beinahe gar nicht - in der Passivität, dann degradiert man sich selbst zur Verhandlungsmasse der herrschenden Mächte. Man gehört dann zum Heer der Bauern im Schachspiel der Macht oder zur Infanterie von Armeen, am Ende - um es zuzuspitzen - kann man Aufseher in einem KZ werden, aber Mensch im Sinne von Subjekt ist man damit nicht. Das ist die Pointe praktischer Philosophie, hier wird Philosophie wichtig - jeden Tag und für uns alle.Am Ginkaku-ji Tempel, am Ende des Philosophenweges in Kyoto (eigenes Foto aus Japan) |
* Anmerkung vom 1.5.2013: In den religiösen und philosophischen Geschichte ist es natürlich enorm wichtig, den Leidenschaften widerstehen können. Erst das macht die großen Asketen, die Überwinder der Normalität aus. Ein Gedanke, den ich hier nicht fortführen will, obwohl ich denke, dass er auch jenseits von Religion und alter Philosophie seine Relevanz hat.
**Du mußt dein Leben ändern: Über Anthropotechnik, S. 305