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10. Dezember 2012

Wozu ist Neurotizismus gut?

Wie sieht eine Welt aus, in der wir alle nur positiv zu denken?

Im Artikel zum Thema mit Neurotizismus leben und lieben stellten wir fest, dass "Neurotizismus wirklich eine sehr große Herausforderung für den Alltag ist", weil neurotische Menschen sehr empfindlich auf die kleinen und großen Störungen im Leben (inklusive ihrer Lebenspartner und Kollegen) reagieren und damit oft Kreisläufe in Gang setzen, die tatsächlich zu weitaus mehr negativen Erlebnissen führen, als im Durchschnitt zu erwarten wäre (siehe "selbsterfüllende Prophezeiungen"). Das ist statistisch und praktisch so dramatisch, dass hoher Neurotizismus, so verlässlich wie kein anderes Persönlichkeitsmerkmal, das Scheitern von Beziehungen voraussagt.

Zu irgend etwas muss Neurotizismus doch auch gut sein. In der Natur zum Beispiel:  Neurotische Fische, die sich schnell ängstigen, ständig nach dem räuberischen Hecht ausschau halten und nur vorsichtig die Gegend nach Nahrung erkunden, haben eine bessere Überlebenschance als ihre sorglosen und risikofreudigen Artgenossen. Jedenfalls dann, wenn wirklich ein Hecht in der Gegend ist. In einem Teich, in dem es keinen großen Feinde gibt, da haben die Neurotiker unter den Fischen eine geringere Chance zu überleben. Denn ehe sie sich trauen, nach Nahrung zu suchen, haben ihre sorglosen Kameraden schon alles aufgefressen und zwar ohne dabei in Lebensgefahr zu schwimmen. 

Diese dualen evolutionären Mechanismen von Tod-oder-Leben haben in unserer Gesellschaft jedoch kaum eine Relevanz. Das heißt, dass weder extrem hoher noch sehr niedriger Neurotizismus auf das Überleben von Individuen oder Gruppen einen messbaren Einfluss hat. Neurotiker können im Grunde dieselben Leben mit den selben Chancen und Erfolgen führen, wie sorglose Menschen, nur sie fühlen sich dabei deutlich schlechter.

Die Optimismus-Illusion
Was ist der Teich des Menschen? Richtig - zum Beispiel der Arbeitsplatz. Hier gibt es Situationen, wo unterschiedliche Ausprägungen von Neurotizismus zu unterschiedlichen Erfolgschancen führen können. Hinter dem Schlagwort "depressiver Realismus" steht die Annahme, dass neurotische Menschen, weniger positiven Illusionen, einem übertriebenem Optimismus oder einem übersteigertem Selbstbewusstsein erliegen. Sie sehen die Probleme, die den Optimisten oft so lange verborgen bleiben, bis sie so offensichtlich werden, weil die Pläne scheitern. Eher neurotischen Menschen liegt es, zu planen, durch zu rechnen und zu prüfen. Den weniger neurotischen hingegen liegt es eher, die Pläne auch umzusetzen, weil sie die Menschen um sich herum mit ihren positiven Erwartungen und ihrer Fehlertoleranz besser motivieren können. Ein neurotischer Chef, der unter ständigen Zweifeln leidet, keine Risiken eingehen kann und pessimistisch vor der Zukunft warnt, ist so ziemlich das Schlimmste, was einer Organisation passieren kann. Das Zweitschlimmste ist, keinen Neurotiker im Team zu haben, der die Optimisten auch mal bremst und der skeptisch den möglichen Nutzen gegen die wahrscheinlichen Risiken abwägt.

In diesem Zusammenhang weist Daniel Nettle (Persönlichkeit - Warum du bist, wie du bist) auf die Untersuchungen zu Optimismus und Pessimismus von Randolph Nesse hin, nach denen es Zusammenhänge von Anti-Depressiva und dem letzten großen Börsen-Crash geben könnte. Schätzungsweise 25% der Banker in den USA hätten zu jener Zeit solche Medikamente genommen, was zu übertriebenem Optimismus und dem Ausschalten der psychologischen Warnsysteme geführt haben könnte, für die normalerweise die Neurotiker unter uns verlässlich sind. Nesse sagt:

"Die Tendenz zu denken, Optimismus sei besser als Pessimismus ist eine tief verwurzelte Illusion. Optimismus ist in günstigen und glücklichen Situationen nützlich. In gefährlichen Situationen ist Pessimismus sinnvoll. [...] Wie wird es sein, wenn wir alle wählen können, die meiste Zeit positiv zu denken? Die Welt wäre in vielerlei Hinsicht besser und schlechter in Momenten, die wir nicht voraussagen können" Randolph M. Nesse auf Edge.org
Vorsicht, Optimierung und Perfektion

Die disziplinierten unter den Neurotikern zeichnet nicht nur aus, dass sie skeptisch reflektieren und deswegen dazu neigen, wasserdichte Pläne zu machen. Sie haben außerdem einen starken Drang, sich selbst und die Umstände um sie herum zu verbessern, einfach weil sie selten mit sich und ihrer Umwelt zufrieden sind. Gleichzeitig hassen sie es, wenn sie versagen, denn ihr Leben ist ihnen ein ständiger Kampf gegen die fast unbesiegbaren widrigen Umstände. Wenn sie das nicht vollends depressiv macht, dann wollen sie sich beweisen und streben nach Perfektion - übrigens auch eine gute Eigenschaft für Künstler. Neurotiker sind also oft sehr gewissenhaft, ja perfektionistisch und werden damit erfolgreich. Sie selbst sehen es freilich anders, nicht zuletzt weil sie enorme Energien in diesen Erfolg stecken und am Ende doch nicht ganz mit dem Ergebnis zufrieden sein können. Aber im Teich der Arbeitswelt können Neurotikern dort Vorteile erwachsen, wo Optimierung, gründliches Reflektieren, vorsichtiges Prüfen und das Abwägen von Bedenken nötig sind.

Risiken und Probleme zu erkennen, spielt bei Menschen mit hohem Neurotizismus auch im Privatleben eine große Rolle. Oft neigen sie zur Hypochondrie, das heißt sie befürchten sich bei kleinen Unregelmäßigkeiten des eigenen Körpers, dass sie ernsthaft krank würden. Dementsprechend vorsichtig gehen sie mit ihrem Körper um. Sie beobachten sich selbst sehr stark und vermeiden oft Risiken wie Rauchen oder Trinken und gehen Verletzungsgefahren gern aus dem Weg. Man kann das unter Gesundheitsaspekten durchaus als Vorteil sehen.


Hedonismus und Melancholie in der Kunst
Ich denke, man muss auch fragen, ob es ohne die alltägliche Hölle des Neurotizismus überhaupt richtige Kunst und Literatur gäbe. Ohne Zweifel würde zumindest ein großes inspirierendes Spektrum fehlen. Gerade negative Gefühlswelten suchen nach einem Ventil. Es ist bekannt, dass mit Neurotizismus einhergehende Persönlichkeitsstörungen unter Künstlern häufiger auftreten, als im Durchschnitt.

Links 1899 gemalt von Paul Gauguin und rechts 1895 gemalt von Edvard Munch

"Davon auszugehen, dass solche Krankheiten immer auch künstlerisches Talent fördern, wäre ein Weitertreiben der vereinfachenden Idee vom 'verrückten Genie'. Jedoch sieht es so aus, als dass diese Störungen bei manchen Menschen zur Kreativität beitragen und sie verstärken." Kay Redfield Jamison (Creativity and Depression), Autorin von Touched with Fire: Manic-Depressive Illness and the Artistic Temperament.

Edvard Munch, von dem wir oben ein Bild sehen, kann man als Beispiel eines extremen Neurotizismus  anführen. Er litt sehr stark unter einer bipolaren Störung*, die er mit Alkoholkonsum noch verstärkte. Es ist aber klar, dass psychische Probleme allein noch keinen Maler, Musiker oder Poeten von Weltruhm machen. Hinzukommen müssen die Fähigkeiten, die eigenen psychischen Dispositionen so zu umzusetzen, dass andere sich darin wieder erkennen und gleichfalls die "handwerkliche" Leistung bewundern. Paul Gauguins Kunst scheint auf der anderen Seite ein Beleg dafür zu sein, dass Kunst auch ohne manifestierten Neurotizismus möglich ist. Fakt bleibt aber, dass die Energie des Neurotizismus auch einen Abnehmer benötigt. Was läge näher, sie schöpferisch einzusetzen?

Es gibt sicher noch andere Vorzüge, neben dem Realismus, der Vorsicht und der Perfektion, die neurotische Menschen mit bringen. Sind Sie Neurotiker oder kennen Sie welche? Lassen Sie uns in den Kommentaren wissen, was Sie am Neurotizismus lieben gelernt haben.



*Korrektur vom 31.12.2012, hier war ursprünglich von einer Persönlichkeitsstörung die Rede, obwohl es sich um eine affektive Störung handelt

16 Kommentare:

  1. Ich glaube, das wird nicht passieren, weil eben Menschen nicht so gestrickt sind. Es gehört zum Leben dazu- positives wie negatives, und es liegt an dem einzelnen Menschen bzw. Charakter oder einfach an den Genen und Erziehung, was wir daraus lernen und für unser Leben nützen.
    Wenn ich oben diesen Artikel durchlese, dann muß ich mich als Neurotiker bezeichnen, doch glaube ich nicht, das dies so einfach zu beurteilen ist.

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  2. Sehr lesenswert, vielen Dank!

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  3. ja ich bin ein neurotiker wie kann ich das nur zu meinem vorteil machen den es ist so ich sterbe tausend tot leider ist das ser schwer für mich

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    1. Lesen Sie auch diesen Artikel: Strategien narrativer Psychologie als Lebenshilfe. Aber man muss sagen, dass es sehr schwer ist, hier etwas allein zu tun. Suchen Sie sich professionelle Hilfe. Man kann therapeutisch vorgehen und/oder medikamentös und gleichzeitig langfristige Verhaltensänderungen anschieben. Viel Erfolg und bemerken Sie auch die schönen Dinge im Leben!

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  4. Was ist denn eine "bipolare Persönlichkeitsstörung"?

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    1. Eine bipolare Störung zählt nicht zu den Persönlichkeitsstörungen.

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    2. Hallo, danke für den Hinweis. Muss oben korrigiert werden. Nach dem ICD-10-WHO ist es eine affektive Störung.

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  5. Sie ist schon merkwürdig, diese menschliche Art, alles ständig in die Kategorien "gut" oder "schlecht" packen zu wollen. Extravertiert ist gut, introvertiert schlecht. Optimistisch ist gut, pessimistisch ist schlecht. Klar, es vereinfacht das Denken, aber damit fallen auch viele Dinge unter den Tisch. Wie zum Beispiel dass Neurotizismus auch Vorzüge haben kann.

    Ein Tribut für die zweite Seite der Medaille. Vielen Dank für den Artikel!

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  6. Ich empfinde eine neurotische Persönlichkeit als interessanter. Es hat etwas schillerndes, gefühlsintensives an sich. Da ist etwas, was mir bei emotional sehr stabilen Menschen teilweise fehlt.

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    1. Ich habe in meinem Vokabular "emotional stabil" und "durchsetzungsfähig" durch "emotional träge" und "auf eigenen Vorteil bedacht" ersetzt. :)
      Ähnlich wie du meine ich auch eine fehlende Sensibilität zu erkennen, was sich in Bemerkungen wie "Drogensüchtige können kein Mitleid erwarten. Die Entscheidung trifft jeder selber." bei sonst sehr netten Menschen äußert.
      Gefühlsintensiv mag schon sein, aber die Negativität wird dich nach spätestens zwei Wochen verzweifeln lassen.

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  7. Ist es wirklich so, dass neurotische Menschen berufliche Vorteile haben? Ich erreiche in Tests regelmäßig sehr hohe Neurotizismuswerte und regelmäßig beobachte, wie mich meine emotionale Labilität beruflich regelmäßig behindert, beispielsweise weil mich kleinere unangenehme Ereignisse, von denen andere offensichtlich wenig irritiert werden, in endlose Grübeleien und unangenehme Gefühlszustände versetzen, die es mir schwer machen, mich weiter auf meine Arbeit zu konzentrieren.

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    1. Natürlich stellen sich solche Vorteile nicht von allein ein, man muss sie aktiv trainieren und dann einsetzen. Genauso, wie man auch die unangenehmen Seiten mildern kann, also z.B. durch Verhaltenstherapie das endlose Grübeln durch Alternativen ersetzen und so die Konzentration auf anderes wieder zu ermöglichen. In diesem Beispiel wird ja aber auch deutlich, dass Sie sensibler waren, as ihre Kollegen und das können Sie in einen Vorteil umwerten, indem Sie die anderen auf drohende Risiken aufmerksam machen. Wie gesagt: Die andere Seite ist, die eigenen Probleme mit dem Neurotizismus in den Griff zu bekommen und das ist nicht einfach, wie ich zugeben muss.

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  8. Hilfe können sein:
    -Meditation
    -Sport
    -Neurodoron von Weleda
    -Solevita forte
    -Professionele Begleitung/Coaching
    -Home office
    -Die Energie in ein sensibles Hobby steckr wie. z.B. beimir www.flamboyantapp.com

    Gruss
    Nicolas

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  9. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  10. Hallo Dharkbizkit, danke für deinen Kommentar.

    Zum einen muss man sagen, dass Introvertiert und Extrovertiert tatsächlich wie zwei Seiten einer Medaille sind, aber in der Persönlichkeitspsychologie davon ausgegangen wird, dass das Präferenzen sind, die keinen merklichen positiven oder negativen Einfluß auf die Zufriedenheit des jeweiligen Menschen haben. Deswegen würden Introvertierte eben eigentlich nicht denken, dass ihre natürliche Haltung schlecht für sie sei. Dazu gibt es auch keinen Grund, denke ich.

    Das ist bei Neurotizismus anders, denn der hat einen deutlich negativen Einfluss auf das Zufriedenheitserlebnis, wenn er stark ausgeprägt ist.

    Neurotizismus ist aber ein Spektrum, das heißt wer ein bisschen neurotizistisch ist, dem wird man es kaum anmerken. Und wer sehr neurotizistisch ist, kann tatsächlich an die Schwelle des Pathologischen kommen. Eine sehr hohe andauernde Unzufroedenheit z.B. hat natürlich Auswirkungen, die als Leid erlebt werden. Dann ist es eben eine Störung.

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