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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

14. Oktober 2012

Erster Klasse zur Endstation Abgestempelt

Katrin Hentschel geht heute der Frage nach, warum wir uns eigentlich so bereitwillig abstempeln und in Schubladen stecken lassen. Aber lesen Sie selbst...

Guten Tag meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir den Bahnhof "Abgestempelt", bitte steigen Sie in Fahrtrichtung rechts aus. Der Zug hat hier seine letzte Station. So, nun sitze ich mal wieder hier, im Abteil: Zu sensibel. Inzwischen kenne ich mich hier schon ganz gut aus. An den Sitzen klebt der Selbstzweifel, der manchmal ganz schön hartnäckig an mir kratzt. Die Decke hängt voller Gedanken, die wohl noch keinen passenden Platz gefunden haben und der Boden liegt wie immer voller Fettnäpfchen. Eigentlich würde ich gerne sitzen bleiben und mich ein bisschen selbst bemitleiden, aber wie ich aus Erfahrung weiß, hat das keinen Sinn. Also streife ich mit einem tiefen Atemzug meine Angst ab und packe meinen Rucksack voller Mut auf den Rücken.

Viele von uns kennen sicher das Gefühl, nicht erwünscht zu sein, oder das Gefühl anders zu sein. Wenn ich das Leben als eine Stadt betrachte, in welche nur Menschen passen, die der Norm entsprechen, dann finde ich den Zug mit seinen vielen Abteilungen ein passendes Beispiel dafür, wie wir uns selbst abstempeln.

Drang zur Selektion: Die Fahrkarte zur Station Abgestempelt ist selbst gekauft (una.knipsolina)

Neulich erzähle ich Bekannten, wie gut ich es finde, als zusammenlebendes Paar getrennte Zimmer zu haben, so dass jeder seinen Freiraum hat. Und während ich voller Begeisterung spreche, schaue ich in die Gesprächsrunde und bemerke die verschränkten Arme und einige abwertende Blicke: "Geht mal gar nicht!" bekomme ich da zu hören. Ein Satz, der mich beschäftigt. "Siehst doch, dass es geht!" würde ich am liebsten antworten, doch die Unsicherheit "anders" zu sein und ausgegrenzt zu werden, lässt mich schweigen. Gewiss ist es eine Art Mode, diesen Satz zu verwenden und einmal ausgesprochen und als sympathisch empfunden, geht er um die Welt mit viel Gepäck.

Bis vor kurzem war ich noch eine eifrige Sammlerin dieser Packungen voller Vorurteile, Unsicherheiten, Ängste und falscher Glaubenssätze. Nach meinen vielen Fahrten in Richtung "Abgestempelt", wofür ich mir natürlich selbst die Fahrkarte gekauft hatte, habe ich mir nun einen Stadtplan zurechtgelegt um immer wieder zurück zu finden. Ein Stadtplan, der mir den Weg zu mir zurück weist. Und zwar auf vielerlei Hinsichten. Meine immer wieder kehrende Einsicht, dass es nicht die Anderen sind, die mich ausselektieren, sondern ich selbst, knabbert des Öfteren an meinem Ego, aber lässt mich auch wieder hungrig werden auf neue Abenteuer in Sachen Selbsterkenntnis.

Wo kommt dieser Drang der Selektion her?
Wohl brauchen wir Menschen etwas, an dem wir uns festhalten können. Aus der Angst heraus, allem ausgeliefert zu sein, schaffen wir uns mit diesem Denken Sicherheiten, die den Zweifel erstmal zur Seite schieben. So tun wir das auch beim In-Schubladen-stecken. Es fällt uns schwer die Menschen objektiv zu betrachten und zwar deshalb, weil jeder Mensch ein Spiegel für uns ist und irgendwelche Gefühle und Gedanken in uns auslöst, die wir in uns selbst tragen.

Schubladendenken gibt uns ein Gefühl von Sicherheit (Kitch in Fact)

Da es viel einfacher ist, sich dieses Spiegelbild nicht genauer anzusehen, beginnen wir, uns die schönen Bilder hervorzuheben und die schlechten wegzupacken. In die Schubladen: Weichei, Egoist, dumm, arrogant und so weiter. Dass wir aber alle – jede/r Einzelne von uns – einen Teil dieser Eigenschaften in uns tragen, wollen wir oft nicht wahrhaben.

Wir können lediglich das sehen und spüren, was wir in den anderen hineinprojizieren. Und wir können nur das hineinprojizieren, was wir in uns tragen. Vor allem zeigen uns unsere Kinder am deutlichsten unser Spiegelbild. Sie orientieren sich am Verhalten anderer – an Eltern, Erzieherinnen, Vorgesetzten – ein anderes Verhalten kennen sie nicht. Als ich ein Kind war, hatte ich des Öfteren aus Versehen einen Teller oder ein Glas auf den Boden geschmissen, weil es mir aus der Hand gerutscht war. Mein Vater war daraufhin wütend und hat mich beschimpft, wie ich denn so ungeschickt sein kann. Heute weiß ich, er kann sich selbst nicht verzeihen, wenn er ein Glas fallen lässt und behandelt sich selbst so streng, wie er mich als Kind behandelt hat. Wenn wir uns also ärgern, ärgern wir uns über uns selbst.

Je mehr Vorurteile wir gegenüber anderen haben, desto mehr grenzen wir uns in unserer eigenen Freiheit ein, uns so zu verhalten, wie wir gerne würden. Jedes Vorurteil einem anderen gegenüber bringt einen Persönlichkeitsaspekt ins uns hervor, den wir uns selbst nicht eingestehen können. Wie Goethe sagte: "Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden." Ich genieße es, Menschen beim spotten zu zuhören, denn in solchen Momenten erzählen Sie so viel von sich selbst, wie sonst nie. Und das, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Wer genau hinhört, was er sagt, kann sich den Spiegel vor Augen halten und beginnen zu verstehen. Sich selbst und auch seine Umwelt. Allerdings ist der Wunsch, nach "Freiheit in sich selbst", wenn ich das mal so nennen darf, eine Voraussetzung.

Den Stadtplan für den Umgang mit sich selbst gibt es allerdings nicht zu kaufen. Man muss ihn einstudieren. Ich kann mir in Momenten, in welchen ich abgelehnt werde, vor Augen halten, dass es in meiner Hand liegt, wie ich die Dinge sehe. Nach und nach erkennt man dadurch sich und seine eingefahrenen Gedankenmuster, welche durch bewusste Anstrengung verändert oder aufgelöst werden können. So kann man dann auch mal ein Päckchen voller Schuldgefühle links liegen lassen, weil man genau weiß, dass es nicht zu einem selbst gehört.

Die Fahrkarte in Richtung "Abgestempelt" kaufe ich mir allerdings immer noch ab und zu – inzwischen reise ich aber mit der 1. Klasse: Mit voller Freude, den Selbstzweifel in den Arm zu nehmen, die Gedanken in ein Buch zu schreiben und die vielen Fettnäpfchen mit ein bisschen Humor zu füllen. Den Rückweg gehe ich zu Fuß: manchmal anstrengend aber lohnenswert!

9 Kommentare:

  1. Wunderbarer Beitrag, wo ich sehr viel mitnehmen konnte für mich. Dankeschön.

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  2. Vielen Dank, das freut mich sehr!

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  3. WOW! Das ist sehr schön geschrieben. Die Fahrtkarten im Leben, wohin auch immer, die viele wunderschöne Wege haben und es stimmt, das Lernen über Grenzen hinwegzuschauen, sich selbst nicht immer zu wichtig nehmen. Trotzdem ist ein bei SICH BLEIBEN wichtig, garantiert einem selbst ein positives Leben im Miteinander und auch BEIM BEIEINANDER :-)

    Der Artikel ist sehr schön geschrieben und beschrieben, danke dafür. LG

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  4. Ein aktuelles Thema für mich im Moment und ein sehr Hilfreicher Artikel, Danke!
    LG Ina

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  5. wunderbar be- und geschrieben danke schön

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  6. Toller Artikel! Auch ich ertappe mich immer noch ab und zu dabei, die vermeintliche Sicherheit und Überlegenheit auszukosten, die mir das Etikettieren, Vorurteilen oder in gemeinen Fällen auch das Lästern gibt.
    Wenn ich mir jedoch immer wieder bewußt mache, daß ich damit auch immer einen Teil von mir verrate, motiviert mich das sehr, nicht nur die Verantwortung für mein "Licht" und all die Seiten an mir zu übernehmen, die ich an mir toll finde. Ich bin dann eher bereit, auch die Verantwortung für die Dinge, die ich nicht so toll an mir finde, die in meinem Schatten liegen, zu tragen.
    Mir schenkt es viel mehr Freiheit - und dem anderen muß ich meine ungeliebten Seiten dann nicht in die Schuhe schieben.

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    1. Nun ist dein Kommentar auch schon eine ganze Weile her...:-)
      Ich denke, ganz ohne Vorurteile wird ein Mensch niemals sein, aber ich bin der Meinung, dass wenn man mehr über sich selbst erfahren möchte, dies ein wunderbares Mittel ist!

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  7. hallo

    der artikel ist echt super weil hoffe das du keine menschen abstempelst
    was ich nicht glauben kann

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    1. ps du kennst mich und miss achtest einen n

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