23. August 2012

Zum Triumph der Unauffälligen

Im Spiegel Artikel Triumph der Unauffälligen liest man von all den Introvertierten, die es zu etwas gebracht haben: Albert Einstein, Abraham Lincoln, Bill Gates, Steve Wozniak oder Steven Spielberg. Nur ein Extrovertierter - ein ziemlich unangenehmer dazu - wird genannt: Steve Jobs. Man könnte meinen, introvertiert zu sein, ist eine Voraussetzung für Erfolg und Gutartigkeit. All die Extrovertierten seien nur laute penetrante Selbstdarsteller. Das ist natürlich Quatsch, aber offenbar ist es schwer, in einem Magazinartikel ein differenziertes Bild der persönlichkeitspsychologischen Dimensionen von introvertiert bis extrovertiert zu zeichnen. Solche Kategorien verleiten immer noch zu dualistischen Darstellungen und vernachlässigen die Grauzonen, in denen sich die meisten von uns bewegen.

Neidisch? Wahrscheinlich introvertiert! (gefunden auf Frontier Justice)

Was passiert in introvertierten Hirnen?
Recht gelungen ist den Spiegel-Autoren die knappe hirnphysiologische Darstellung, nach der Introvertierte auch bei Abwesenheit starker externer Reize neuronal stimuliert sind und auch in Ruhezuständen eine höhere neuronale Aktivität messbar sei:
"Wegen dieser von Natur aus höheren Gehirnaktivität haben die Stillen offenbar ein stärkeres Bedürfnis, sich gegen Reizüberflutung abzuschirmen."
Auch der Hinweis auf Jerome Kagan ist interessant: Er wies in Langzeitstudien nach, dass die Menschen, die als Säuglinge besonders empfindlich auf äußere Reize reagierten, später als Erwachsene eher introvertiert waren. Durch die höhere Reizempfindlichkeit sind Introvertierte schneller durch eine laute und hektische Umwelt erschöpft:
"Um sich wohl zu fühlen, um neue Kraft zu schöpfen, brauchen Introvertierte Ruhe. Bei Extrovertierten ist es genau umgekehrt: Um einen optimalen neuronalen Erregungszustand zu erreichen, brauchen sie Anregung von außen, Musik, Gespräche, Bewegung."
Klar gesagt wird auch, dass solche Persönlichkeitsmerkmale - besser ihre neuronalen Grundlagen - vererbt werden und die Merkmale über das Leben hinweg recht stabil bleiben. Mit Umerziehung ist hier also nichts zu machen. Im Wesentlichen ist das alles auf der Linie der zugänglichen wissenschaftlichen Fakten zum Thema Introversion und Hirnphysiologie. In meinen zwei Artikeln zur Chemie in introvertierten Köpfen (Teil 1 und Teil 2) und Hochsensibilität und Introversion kann man zu den Hintergründen mehr erfahren.

Was geht in ihm vor? Der Wilde Westen als Fantasie der Introvertierten (Frontier Justice)

Introvertierte Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft
Ansonsten kratzt der Artikel Spiegel-gemäß an der Oberfläche. Es kann auch etwas auf die Nerven gehen, wenn Persönlichkeitsmerkmale vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Optimierung der Funktionstüchtigkeit von Personen betrachtet werden. Auf der einen Seite stimmt es: Die Gesellschaft tut gut daran, den Introvertierten zu zu hören. "In der Evolution muss es für den Homo sapiens also von Vorteil gewesen sein, dass es zwei unterschiedliche Temperamente gibt." Auf der anderen Seite fühlt man die Stoßrichtung von Forschern wie Adam Grant von der Wharton School of Business, wenn er findet:
"Insbesondere Unternehmen, die viel Eigeninitiative von ihren Angestellten verlantgen, arbeiteten profitabler [...], wenn sie von introvertierten Chefs geführt wurden. [...] Was der Markt verlange, könne kaum noch ein Chef im Alleingang vorausahnen. So schlage die Stunde der stillen Anführer."
Hier geht es also um Maximierung der wirtschaftlichen Erfolge, die Extrovertierte angeblich nicht mehr hinbekommen und so manch Introvertierter mag diesen Schritt gar nicht mitgehen wollen: Erfüllungsgehilfe der Wirtschaft zu sein. Vielleicht lieber irgendwo allein in der Natur auf einem Hügel sitzen und den Blick und die Gedanken schweifen lassen.

Buch zum Thema
Hilfe zur Selbsterkenntnis
Von der eher beratenden Seite für "Betroffene" kommt Dr. Sylvia Löhken, die kürzlich von mir auf Geist und Gegenwart interviewt wurde und die für den Spiegel Artikel bei einem Gruppen-Seminar begleitet wurde. Hier geht es nicht um endlose Selbst-Optimierung, bis die Introvertierten nicht mehr von Extrovertierten zu unterscheiden sind, sondern darum, wie sich Introvertierte die Welt so umgestalten, dass sie sich darin "artgerecht" bewegen können. Zum anderen geht es auch um Verständigung zwischen den "Arten". Also den Extrovertierten zu zeigen, wie die Introvertierten ticken und umgekehrt. Dieselbe Ausrichtung hin auf Selbstkenntnis und Verständnis schaffen hat Löhkens Buch Leise Menschen - starke Wirkung: Wie Sie Präsenz zeigen und Gehör finden.

Bei aller Oberflächlichkeit des Spiegels taugt der Artikel dazu, um sich mit dem Thema erst einmal bekannt zu machen, Parallelen zu sich selbst zu entdecken und dann im Internet weiter zu recherchieren. Ich sehe bei Geist und Gegenwart durch diesen Artikel eine Flut von Zugriffen auf die einschlägigen Artikel. Denn Tausende lesen diesen Spiegel-Artikel, Hunderte suchen aus Interesse im Netz weiter und landen auf Seiten wie Geist und Gegenwart. Als schönes Beispiel hier ein Auszug aus einem Kommentar zum Artikel Strategien für introvertierte Menschen:
Sehr geehrter Herr Dietrich, 
vielen Dank für Ihren Beitrag, denn ich heute entdecken durfte. Der Anstoß war das Titelthema des neuen Spiegel ("Triumph der Unauffälligen") und der Tatsache, daß ich mich darin umgehend selbst erkannte. [...] Nun weiß ich also, nachdem ich Ihren Blog gelesen habe, daß ich doch ein ganz normaler Mensch mit normalem Verhalten bin. Ich fühle mich nun sehr wohl. So wohl, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. 
Vielen, vielen Dank!
Beste Grüße und bitte machen Sie weiter so.
Letztlich ist die Thematisierung solcher "Randgruppen", die gar keine sind, immer positiv, wenn ein gewisser Standard gewahrt wird. Das muss kein streng wissenschaftlicher Standard sein, aber aus meiner Sicht sind Vorurteile, Diffamierung, Esoterik und die Anmaßung der Allwissenheit streng zu vermeiden. Um eine gewisse Vereinfachung kommt man nicht herum, sie erleichtert den Einstieg ins Thema und ermöglicht ein Anfangsverständnis und ein Aufbrechen von Vorurteilen bei einer breiten Leserschaft.

In die Zukunft blickend, bin ich neugierig, ob dieses Thema ein Dauerbrenner werden wird oder ob es nur ein vorübergehendes Modethema wie im letzten Jahr der Minimalismus sein wird. Wie es sich auch entwickeln mag, die diesen medialen Faszinationen zugrunde liegenden Themen haben eine Bedeutung: Die Menschen, die sich dem Minimalismus verschrieben haben oder ihre Introversion lieben gelernt haben, werden als veränderte, entfaltete, gewachsene und vielleicht sogar glücklichere Menschen weiterleben und über ihren erweiterten Bewusstseinszustand ihre Umwelt prägen. Am Ende zählt nur eins: Egal ob ihr Minimalisten, Maximalisten, Inrovertierte oder Extrovertierte seid - erkennt euch, liebt euch und bleibt dran an den Träumen, die euch wirklich etwas bedeuten. Lasst niemals von ihnen ab, egal was in der Zeitung steht!



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2 Kommentare:

  1. Klasse, die sog. Grauzonen treffen den Punkt; zur ! Visualisierung ! der Bedürfnisse der jeweils Anderen eignen sich Dualismen und Kategorien m. E. sehr gut,
    ansonsten liest offenbar ' Der Spiegel' G & G - Rezensionen über Susan Cain!?, praktisch alle herausgearbeiteten Punkte sind identisch

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  2. Ich finde Ihre kleine Gegenausführung genauso interessant wie den Spiegel-Artikel. Dennoch muss ich ein wenig gegensteuern, da der Titelbericht eigentlich nur das thematisiert, was in unserer "lauten" Welt scheinbar im Vordergrund steht und auch immer ausgeschlachtet wird. So wird auch mal eine Lanze für die gebrochen, die man auf Partys immer in der Ecke stehen sieht, und die man wohl gerne als die Ausgestoßenen ansehen mag. Dass man sich selbst erkennen soll und damit gut zu leben weiß, steht ja letztlich wohl außer Frage.

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