11. Juni 2012

Wie wir uns täuschen lassen

Pillen, Horoskope und Persönlichkeitstests 

Was haben Tarotkarten, blaue Pillen und Horoskope gemeinsam? Sie funktionieren! Naja, solange wir es zulassen jedenfalls. Lars Lorber - Mastermind hinter typentest.de - untersucht in diesem Artikel, warum uns Persönlichkeitstests, Horoskope und Klischees selbst dann passend erscheinen, wenn sie in Wirklichkeit gar nicht zutreffen. Vorab so viel: Unsere Erwartungen spielen uns einen Streich und Sie werden den Barnum-Effekt kennen lernen.

Farbige Pillen lassen uns besser schlafen
Jeder kennt den faszinierenden Placebo-Effekt: ein angebliches Medikament zeigt beim Patienten die gewünschte Wirkung, obwohl es in Wirklichkeit gar keine Wirkstoffe enthält. Selbst die Farbe von Medikamenten wirkt sich manchmal auf deren Wirksamkeit aus: so schliefen bei einer Studie (1) Patienten mit einer blauen Schlaftablette deutlich früher ein als mit einer Orangen, da orange, rot und gelb als stimulierende Farben gelten, während wir blau und grün als beruhigend empfinden. Angeblich sind deswegen Schultafeln meist grün. Die Farbe Grün wirkt sich zudem messbar positiv auf unsere Kreativität aus (2). Und die Farbe Rot lässt sowohl Männer als auch Frauen deutlich attraktiver wirken (3). Unsere Erwartungen zu Farben haben also ganz reale Auswirkungen, obwohl die Farbe einer Tablette natürlich keine reale chemische Wirkung hat.

Sehen Sie etwa nicht so aus?
Sind Deutsche pedantisch und Blondinen doof?
Ähnlich verhält es sich mit den Klischees über andere Länder: sicher kennen Sie die Vorstellungen vom emotionalen, mit Händen und Füßen redenden Italiener, vom schüchternen Skandinavier oder vom strebsamen Japaner. Auch von uns Deutschen gibt es jede Menge Klischees: extrem pflichtbewusst, ordnungsliebend, und pedantisch sollen wir sein. Doch trifft das wirklich auf Sie zu, liebe Leser?

Nein? Woher kommen dann diese Klischees über uns Deutsche? In diversen Studien (6) hat sich gezeigt, dass die Klischees über andere Länder zwar allgemein bekannt sind und meist auch auf die Kultur des Landes zutreffen. Nicht zutreffend sind sie allerdings auf die einzelnen Menschen in dem Land. Denn über den individuellen Menschen sagen solche Klischees nur wenig aus. Dennoch fühlen wir uns oft fälschlicherweise in unseren Erwartungen bestätigt, wenn wir einmal jemanden treffen, auf den diese Klischees ganz oder teilweise passen. Ähnlich wie beim alten Vorurteil über doofe Blondinen: Sehen wir eine Blondine, die dieses Klischee bedient, fühlen wir uns bestätigt, vergessen dabei aber die anderen zehn Blondinen die wir kennen, auf die es nicht zutrifft.

Mittwochskinder landen häufiger vor Gericht
Erwartungen und Klischees wirken sich auch merkbar auf unsere Persönlichkeit aus: Beim afrikanischen Akan-Volk in Ghana bekommen einer Tradition nach Kinder einen speziellen Seelen-Namen, der sich nach dem Wochentag richtet, an dem sie geboren sind (3). Diesen Wochentagen werden zudem Charaktereigenschaften zugeordnet: ein Kwadwo, ein Montagskind, gilt als verlässlich und fürsorglich. Ein Kwaku, ein Mittwochskind, dagegen als spontan und aufmüpfig. Und tatsächlich erscheinen in den Gerichtsakten mehr Kwaku- als Kwadwo-Kinder (4). Die gesellschaftlichen Erwartungen, die mit dem zugewiesenen Namen einhergehen, wirken sich also (geringfügig) auf die reale Persönlichkeit der Kinder aus. Ähnlich verhält es sich auch mit der Astrologie.

Heute werden Sie die Liebe Ihres Lebens treffen
Der bekannte Psychologe Hans Jürgen Eysenck (u.a. einer der Wegbereiter der Big Five der Persönlichkeit) wollte der Astrologie auf den Grund gehen. Er ließ 2300 Mitglieder einer englischen Astrologie-Schule einen von ihm entwickelten Persönlichkeitstest ausfüllen und verglich die Ergebnisse mit ihren Geburtshoroskopen (7). Die große Überraschung: die Werte der Testpersonen bezüglich Extraversion und emotionaler Instabilität (Neurotizismus) stimmten tatsächlich mit den Beschreibungen der Sternzeichen überein, z.B. waren die unter einem Wasserzeichen Geborenen besonders neurotisch. 1977 war das eine Sensation für die Astrologie: die Vorhersagen stimmten.

Doch bereits die Geschichte mit den Mittwochskindern hat uns gezeigt, dass sich Menschen von Erwartungen beeinflussen lassen. Auch Eysenck schöpfte Verdacht: die Testpersonen seiner Studie waren allesamt nicht nur mit der Astrologie vertraut, sondern glaubten fest an ihre Wirksamkeit. Ließen sie sich vielleicht, ähnlich wie bei einem Placebo-Effekt, von ihren eigenen Erwartungen leiten, und schätzten ihre Persönlichkeit so ein, wie sie nach astrologischer Vorhersage angeblich sein sollte?

Eine weitere Studie ging dieser Frage auf den Grund. Diesmal fragte Eysenck alle Teilnehmer, ob sie etwas über Astrologie wussten. Die Ergebnisse waren eindeutig und niederschmetternd für die Astrologie: wer nichts über sein Sternzeichen wusste, bei dem gab es keinen Zusammenhang zwischen Sternzeichen und Persönlichkeit. Anders bei den Testpersonen, die die Merkmale ihres Sternzeichens kannten: ihre Persönlichkeit zeigte Übereinstimmungen mit den Horoskopen. Sie hatten sich also von ihren Erwartungen beeinflussen lassen. Eine weitere Studie von Eysenck, diesmal unter Kindern, die alle nichts über Astrologie wussten, ergab das gleiche Ergebnis: keinerlei Zusammenhänge zwischen Sternzeichen und Persönlichkeit (7).

Sterne und die Astrologie haben also keinen realen Einfluss auf unsere Persönlichkeit. Glauben wir jedoch daran, dann passen wir unsere Persönlichkeit und unser Selbstbild teilweise an die Erwartungen und Klischees der Astrologie an, damit sie zu unserer Vorstellung passen. Ähnlich wie bei den Wochentags-Namen des Akan-Volkes oder einer farbigen Tablette.

Trifft das Tageshoroskop in der Zeitung einmal zu, vergessen wir plötzlich all die Male, bei denen es nicht zugetroffen hat. Zum Beispiel mit der Aussage "Heute werden Sie eine interessante Entdeckung machen", wäre die Trefferquote an einem beliebigen Wochentag recht hoch. Nach dem lesen einer solchen Vorhersage werden Sie wahrscheinlich besonders aufmerksam durch den Tag gehen und regelrecht nach der interessanten Entdeckung suchen. Und wenn die Vorhersage doch nicht passt, dann lässt sie sich problemlos passend machen und irgendein Ereignis des Tages als "interessante Entdeckung" uminterpretieren.


Wenn Astrologie und Co. falsch sind, warum glauben dann Menschen daran?
Wenn Astrologie in Wirklichkeit keine Aussagekraft hat, warum ziehen manche Menschen scheinbar dennoch einen Nutzen daraus, fühlen sich durch Astrologie und Ähnliches bestätigt und in Lebensfragen unterstützt? Eine Antwort darauf findet man beim Kartenlegen vom Tarot: Dort stellt man eine Frage, z.B. "wie sieht meine berufliche Zukunft aus?" Dann werden zufällig ausgewählte Karten zu dieser Frage aufgedeckt, z.B. der Teufel oder der Narr, deren Bedeutung nun als Antwort auf die Frage interpretiert wird. Der Teufel kann z.B. für eine dunkle Versuchung stehen, der Narr für kindliche Neugier.

Nur wenige Menschen dürften wirklich davon überzeugt sein, dass diese Karten die Zukunft vorhersagen können. Aber die Interpretation der Karten als Antwort auf eine Problemstellung führt dazu, dass man das Problem ausführlicher analysiert. Es von verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, sich über Hintergründe und zukünftige Möglichkeiten Gedanken macht. Klassische Problemlösung also, bei der - durch die Inspiration der aufgedeckten Karten - vorher nicht bedachte Ideen und Lösungen entstehen können.

Natürlich geht das auch ohne Tarotkarten, Wahrsager und Horoskope, z.B. durch Brainstorming oder ein anregendes Gespräch. Aber wenn ein mystisches Element - wie Tarotkarten - im Spiel ist, wirkt es auf uns, als wäre die Lösung auf magische Weise dadurch entstanden. Dabei waren es einfach normale Überlegungen und Anregungen, die dazu geführt haben. Und die kann jeder geben und jeder haben - ganz ohne Magie. Doch auch handfestere und durchaus bodenständige und nachprüfbare Dinge sind nicht vor unseren Erwartungen nicht sicher.

Einer für alle - der Barnum-Effekt
Während Sie bis hierher gelesen haben, habe ich anhand ihres Lesestils kurz Ihre Persönlichkeit analysiert. Hier Ihr Ergebnis:
Manchmal sind Sie extrovertiert und gesellig, oft aber auch introvertiert und zurückhaltend. Unter Fremden sind sie dabei nicht so lebhaft und aufgeschlossen wie unter guten Freunden. Sie können es nicht leiden, wenn Sie jemand ungerecht behandelt. Sie machen sich mehr Sorgen, als andere von außen bemerken. Manchmal zweifeln Sie daran, ob Sie die richtige Entscheidung getroffen haben.
Na, stimmts? Das nennt man den Barnum-Effekt. Es sind allgemeingültige Aussagen, die auf die meisten Menschen zutreffen. Sie sind mehrdeutig und können je nach Bedarf so interpretiert werden, dass sie auf fast jeden Menschen und jede Gegebenheit passen. Auf diese Weise funktionieren nicht nur tägliche Horoskope a la "Heute werden Sie eine interessante Entdeckung machen", sondern auch bei Persönlichkeitstests ist der Barnum-Effekt ein ernsthaftes Problem:

Persönlichkeitstests - wie die halbe Wahrheit zur Ganzen wird
Ich selbst biete seit mittlerweile fast zehn Jahren einen kostenlosen Persönlichkeitstest unter www.typentest.de an. Der ist größtenteils zur Unterhaltung gedacht, hat aber durchaus ernsthafte Grundlagen. Manche Besucher schreiben, dass sie sich in den Ergebnissen "zu 100%" wiedererkennen. Das verwundert selbst mich. Auch bei anderen Persönlichkeitstests - egal wie ernsthaft oder nicht - hört man oft, dass sich Menschen voll und ganz im Ergebnis wiedererkennen, dass es den Nagel auf den Kopf trifft. Doch das dass Ergebnis eines Persönlichkeitstests jemanden wirklich zu 100% beschreibt, ist sehr unwahrscheinlich, es sei denn, das Ergebnis besteht nur aus ein paar Wörtern.

Denn wir alle sind so individuell, dass uns kein Test vollends erfassen, sondern immer nur Teile von uns beschreiben kann. Teile, die anhand von Eigenschaften, Typen oder Faktoren verallgemeinert werden (8). Zu 100% beschreiben können wir uns höchstens selbst, und auch das dürfte den Meisten relativ schwer fallen. Ein Test - egal wie gut oder genau - kann immer nur eine Verallgemeinerung, eine Zusammenfassung von Persönlichkeitseigenschaften sein.

Was also beim lesen des Ergebnisses eines Persönlichkeitstests passiert, ist Folgendes: Das Ergebnis trifft einige Punkte unserer Persönlichkeit, die tatsächlich stimmen. Das können einige wenige sein, oder auch recht viele. Weil nun einiges im Ergebnis gut auf uns passt, gehen wir davon aus, dass die anderen Dinge, die dort beschrieben sind, auch stimmen. Da ein Persönlichkeitstest in der Regel weit mehr Aussagekraft als Astrologie oder Wochentage hat - schließlich ist der Test eine Aufbereitung der vorher von uns selbst beantworteten Fragen - treffen hier meist viele Punkte wirklich zu, weswegen wir uns leicht davon überzeugen lassen, das auch der Rest stimmt. Allgemeine Aussagen wie beim Barnum-Effekt tun dann ihren Rest dazu.

Natürlich passt bei manchen Tests auch tatsächlich das Meiste im Ergebnis, auch ohne Barnum-Aussagen. Nur oft lassen wir uns zu einem guten Teil täuschen. Vergleichbar damit, wenn das Horoskop die zwei vergangenen Tage tatsächlich gepasst hat, und wir dann davon ausgehen, dass es heute auch stimmen muss, bzw. es in unserem Kopf so hinbiegen und interpretieren, das es stimmt. Oder wenn einem Amerikaner ein Deutscher begegnet, der tatsächlich sehr pflichtbewusst, ordentlich und pedantisch ist und zu allem Überfluss auch noch gerne Sauerkraut isst. Oder wenn ein Kwaku, ein Mittwochskind, etwas Verbotenes macht (was jedes andere Kind auch einmal macht). Dann sehen wir unsere Erwartungen über dieses Kind fälschlicherweise bestätigt, und auch das Kind die Erwartungen über sich selbst.

Sollen wir nun keine Tests mehr machen?
Nein. Aber es kann nicht Schaden, solche Dinge kritisch zu hinterfragen. Besonders dann, wenn sie wie Wochentage und Klischees gar keine oder nur eine zweifelhafte Basis haben. Ein vernünftiger Persönlichkeitstest mit echtem Hintergrund, wie z.B. die wissenschaftlichen Big Five, gibt in veränderter Form das wieder, was wir vorher mittels von Fragen beantwortet haben. Wenn ein Test anhand unserer Lieblingsfarbe, unseres Geburtsdatums, oder ob uns eher das Foto eines Hundewelpen oder das eines süßen Kätzchens gefällt, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zieht, ist Skepsis angebracht. Denn das ist keine Magie oder ausgeklügelte Wissenschaft, sondern nicht mehr als reine Spekulation. Ähnlich dem interpretieren von Träumen oder Tarotkarten. Natürlich treffen auch die manchmal ins Schwarze. Und wenn Teile davon stimmen, lassen wir uns schnell vom Rest überzeugen.

In diesem Sinn mein heutiges Horoskop für Sie: Sie sind ein aufmerksamer und intelligenter Leser. Heute werden Sie Essen zu sich nehmen, andere Menschen sehen und mindestens einen weiteren Artikel auf diesem Blog lesen.



  1. Effect of colour of drugs: systematic review of perceived effect of drugs and of their effectiveness; AJM De Craen, PJ Roos, AL De Vries; BMJ; 1996
  2. Blogartikel: Grün macht kreativ
  3. Red, rank, and romance in women viewing men. Elliot, Andrew J.; 2010,Romantic red: Red enhances men's attraction to women.; Elliot, Andrew J.; Niesta, Daniela; 2008
  4. Wikipedia: Liste der Akan Wochentags-Namen
  5. A note on Ashanti names and their relationship to personality., Jahoda, G., 1954
  6. Blogaritkel: Länder-Klischees
  7. Astrologie - Wissenschaft oder Aberglaube?; Eysenck, Hans-Jürgen; Nias David; 1982
  8. Blogartikel: Die (Un)durchschnittliche Persönlichkeit


3 Kommentare:

  1. ein ausgezeichneter Artikel, danke!
    den sog. bias-Effekt gibt es in zahllosen Varianten ...

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  2. Es ist echt erstaunlich: habe mich in diesem Artikel zu 100% wiedererkannt! Ein Lob an den Author! :-()

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