Ein Interview mit Sylvia Löhken zum Thema Introversion
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Frau Löhken, eine Frage zu Anfang, um Missverständnisse zu vermeiden: Was genau meinen Sie mit "leisen Menschen", sind das introvertierte Menschen?
Ja. "Introvertiert" hat für viele Menschen noch heute einen negativ gefärbten Beigeschmack. Ich habe nach einem Begriff gesucht, der die starken Seiten der Introversion anklingen lässt und dabei auch sympathisch klingt.
Das ist Ihnen gelungen. Irgendwie rennen wir mit diesem Thema aber inzwischen auch offene Türen ein, oder? Introversion ist populär, ich vermute, gerade im und durch das Internet. Vor kurzem gelang es Susan Cain, dieses Thema sogar in den so extrovertierten USA populär zu machen. Seitdem liest man auch mal in der Süddeutschen oder der FAZ darüber. Wie erklären Sie sich diese plötzliche Popularität?
C.G. Jung prägte die Unterscheidung zwischen Intro- und Extrovertierten 1921 – neu ist das Thema wirklich nicht. Sie kommt auch in so gut wie allen Persönlichkeitstests vor. Was bisher aber fehlte, war ein Ausbuchstabieren, ein Schlussfolgern aus den Unterschieden: Was bedeutet es für mich und mein Umfeld, wenn ich introvertiert bin? Wie unterscheiden sich die Kommunikationsweisen, die Stärken, die Bedürfnisse?
Ich kann hier nur mutmaßen, aber vielleicht ist ja gerade das "Leisesein" etwas, was den Blick auf die Unterschiede so lange verborgen hat: Wer nicht auf sein Anderssein pocht und Berücksichtigung einfordert, wer sich still anpasst oder auch nur ruhig sein eigenes Ding macht, der wird leicht übersehen – und das dahinterliegende Phänomen eben auch.
Stimmt. Und da ändert sich endlich etwas. In der Persönlichkeitspsychologie wird davon ausgegangen, dass wir mit solch einer Präferenz für Intro- oder Extroversion geboren werden. Gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem Buch von Ländern wie Japan – wo Sie ja einige Zeit gelebt haben –, die eher "leise" sind. Ich war auch gerade da und kann das bestätigen. Schon der Unterschied zwischen Japan und Korea ist in der Hinsicht enorm. Aber wie kommt das? Werden dort mehr Introvertierte geboren und "leiden" dort die Extrovertierten?
Wir Menschen haben ja eigentlich zwei Naturen. Da sind erstens die genetisch kodierten Anlagen, mit denen wir geboren werden. Zweitens – und hier reden Persönlichkeitspsychologen tatsächlich oft von einer "second nature" – werden wir von klein auf tief von unserem Umfeld geprägt, in dem wir aufwachsen. Dazu gehören unsere Familie, unsere Freunde und auch die Kultur, die uns Hinweise auf erwünschtes und weniger erwünschtes Verhalten gibt. Das hat Orientierung zur Folge – und formt die Persönlichkeit.
Von der Anlage her sind 30 bis 50 Prozent einer beliebigen Bevölkerung introvertiert – aber die Kultur bestimmt, wie deutlich dies zutage tritt: Und da liegt der Unterschied zwischen Japan und zum Beispiel den USA.
Das leuchtet ein... verschiedene Umwelten lassen bestimmte Ausprägungen mehr oder weniger stark hervortreten. Aber jetzt von nurture zu nature: Als stark Introvertierter fasziniert mich mein eigenes Gehirn. Ich merke förmlich, wie es anders tickt, als das vieler meiner Mitmenschen. Psychische Phänomene auf die Hirnphysiologie herunter zu brechen, ist aber immer schwer. Wissen wir inzwischen, was in einem deutlich intovertierten Hirn anders ist, als in einem extrovertierten Gehirn? Was passiert auf der physiologischen Ebene?
Leise: Dr. Sylvia Löhken |
Wirklich spannend! Sie beschreiben außerdem in Ihrem Buch, dass sich Introvertierte und Extrovertierte dadurch unterscheiden, wie sie Energie tanken. Ich merke das selbst bei mir: Ich muss mich zurückziehen, um mich zu erholen. Aber das Wort Energie verwirrt mich dabei. Könnte man dann nicht auch einfach etwas essen, um sich Energie zuzuführen oder handelt es sich um eine andere Form der Energie?
Ja, das stimmt: Energie ist in dem Bereich, über den wir sprechen, eine Metapher für alles, was Kraft erfordert. Und in gewisser Weise hängen verschiedene Energiequellen zusammen: Nur, wenn ich mich ernähre, kann ich physiologische Kraft haben, und ein Minimum davon ist die Voraussetzung für mentale Kraft.
Ich verschiebe das Bild einmal etwas und wähle einen Begriff, den wir aus einem ganz anderen Zusammenhang kennen: den der artgerechten Haltung. Wir achten heute darauf, Tiere artgerecht zu halten – also so, wie es ihren Bedürfnissen entspricht. Für Introvertierte und Extrovertierte gibt es Unterschiede, wenn sie optimal kreativ, ausgeruht und zufrieden sein wollen. Wer seine eigenen bevorzugten Biotope kennt, kann dafür sorgen, dass es ihm oder ihr gut geht.
Weil wir gerade bei sprachlichen Bildern sind: Es werden immer neue Begriffe bemüht, um Introversion zu beschreiben. Das Argument dabei ist immer, dass Introversion stigmatisiert sei. Ich denke aber, dass man es am besten entstigmatisieren würde, indem man aufklärt und den Begriff konsequent weiter benutzt. Ein weiterer, verdächtiger Begriff ist der auf Elaine N. Aron zurückgehende der Hochsensibilität. Hier geht es um Reizüberflutung und das Bedürfnis, sich dagegen abzuschirmen. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Introversion? Ist es gar dasselbe?
Hochsensibilität bezeichnet eine besondere Empfindlichkeit des Nervensystems auf äußere Einflüsse. Hochsensible sind zwar oft introvertiert, und Introvertierte leiden bei einer Vielzahl äußerer Eindrücke oft unter Überstimulation. Dennoch gibt es keine direkte Korrelation: 30 Prozent der Hochsensiblen sind extrovertiert, wie Elaine Aron zeigen konnte.*
Was die Begrifflichkeit angeht – ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass "Introversion" als Begriff stigmatisiert ist. Was ich beobachtet habe, ist: Der Begriff hat einen Beigeschmack des Problematischen. Deshalb habe ich "leise" gewählt: damit sich auch ein introvertierter Mensch mit der Bezeichnung wohlfühlen und über die spannenden Implikationen seiner Eigenschaft informieren kann.
Ihr Buch ist vor allem auch ein Ratgeber, der Introvertierten helfen soll, sich selbst besser zu verstehen. In dem Zusammenhang hätte ich zuletzt eine persönliche Frage: Wie so viele Introvertierte habe ich ein Streben nach Harmonie und Zustimmung. Interessanterweise merke ich das im Privatleben viel deutlicher, als auf der Arbeit, wo ich mein Arbeits-Anforderungs-Ich aus der Tasche hole. Im Privatleben jedoch, lasse ich mich oft mehr von den Stimmungen um mich herum anstecken, als mir lieb ist. Geht Ihnen das auch so? Und haben Sie Hinweise, wie man eine größere Unabhängigkeit vom Ambiente erreicht?
Ich glaube, hier haben wir beide ganz ähnliche Tendenzen. Gerade im Privatleben habe ich durch meine Arbeit am Thema Introversion viel gelernt. Erstens geht es darum, dass sich Familienmitglieder gegenseitig respektieren. Das beinhaltet den Respekt vor unterschiedlichen Bedürfnissen. Wer am Wochenende gern auf Tour geht und Party macht, hat dazu ebenso ein Recht wie der Bücherwurm sein Recht auf neuen Stoff. Dieser Respekt ermöglicht ein gutes Kompromisstraining – kann kein Kind zu früh lernen...
Zweitens geht es darum, die eigenen Bedürfnisse überhaupt zu entschlüsseln. Ich habe mir inzwischen eine passende (Ent-)Schlüsselfrage angewöhnt, die ich mir gerade in heiklen Situationen stelle. Sie lautet: "Was will ich jetzt gerade?" Mit der Antwort gestalte ich den Moment. Denn: Erst wenn ich weiß, wohin ich selbst will, kann ich in aller Ruhe mein Segel setzen und Kurs aufnehmen. Wie sagte Seneca: Wer den Hafen nicht kennt, für den ist kein Wind der richtige (Ignoranti quem portum petat nullus suus ventus est. - Sen. epist. 71,3).
Ein besseres Schlusswort könnte ich mir für ein Interview auf Geist und Gegenwart gar nicht wünschen! Denn Selbsterkenntnis ist hier Programm. Frau Löhken, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Interview und wünsche Ihnen viele Leser für Ihr so wichtiges Buch.
Buchtipp: Leise Menschen - starke Wirkung: Wie Sie Präsenz zeigen und Gehör finden
288 Seiten, gebunden, ISBN: 3869363274, GABAL Verlag, Offenbach 2012
*Anmerkung von Gilbert Dietrich: Wenn man bei Aron genau nachliest, dann wird deutlich, dass die 30 Prozent der Hochsensiblen, die extrovertiert sind, lediglich gelernt haben, sich extrovertiert zu geben ("about 30% were social extraverts"). Sie sind sozial extrovertiert, von der Anlage her möglicherweise introvertiert. Aron selbst schreibt, dass die Unterscheidung zwischen Hochsensibilität und Introversion nur dann sinnvoll ist, wenn man Introversion immer als solziale Introversion versteht. Und dieses eingeschränkte Verständnis habe sich durchgesetzt. Aron meint, es mache keinen Sinn, den Begriff Introversion in seiner ursprünglichen und breiteren Bedeutung zu rehabilitieren. Sie möchte statt dessen "sensitive" (hochsensibel) etablieren. Dabei verwenden Persönlichkeitstests wie MBTI oder Psychologen wie Laney den Begriff sehr wohl in seiner psychologisch-physiologischen Bedeutung. Der Fokus ist hier eben nicht auf den sozialen Aspekten, sondern wie ein Individuum mit Reizen und psychischer Energie umgeht. Dahinter zurückzugehen und die Introversion wieder dem alten Stigma der sozialen Unzulänglichkeit auszuliefern und statt dessen von hochsensibel zu reden, halte ich für wenig hilfreich. Meine Vermutung aus der Lektüre ist, dass der Hochsensibilität und der Introversion genau dieselben hirnphysiologischen Merkmale zugrunde liegen, die oben von Frau Löhken erwähnt wurden: Lange Leitungen zusammen mit verstärkter elektrischer Aktivität und vermehrtem Blutfluss. Wissenschaftliche Beweise oder Gegenbeweise sind mir nicht bekannt. Mehr dazu im Artikel Hochsensibilität und Introversion (Begriffsklärung.
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Ich würde das Buch gerne als Kindle eBook erwerben. Kannst du evtl. bei der Autorin nachfragen, ob eine Kindle-Veröffentlichung geplant ist? Vielen Dank!
AntwortenLöschenHallo Alexander, ich habe dasselbe Problem mit so vielen deutschen Büchern. Für Fragen erreichst du Sylvia Löhken unter www.leise-menschen.com am besten über den dort angegebenen Medienkontakt.
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