"Wir leben in einer Konsensgesellschaft und wer da rausfällt, der kriegt böse was über die Mütze." (Giovanni di Lorenzo am
22. 2. 2012 bei Anne Will)
Ich finde dieses Zitat großartig! Eine Konsensgesellschaft, in der man Schläge bekommt, wenn man aus dem Rahmen fällt, lebt den performativen Widerspruch zum modernen Minimalkonsens von Toleranz und Gewaltfreiheit. So etwas ist natürlich erst einmal nur zustimmungsheischendes Phrasendreschen: Die böse Zensurgesellschaft, in der keine abweichenden Meinungen geduldet werden! Das ist die Vorstufe zum Sozialismus, wo alle immer "ja" und "amen" sagen (wenn "amen" nicht verboten ist). Beim näheren Hinsehen, kommen Zweifel auf: Wir scheinen alle ständig unterschiedlicher Meinung zu sein. Mehr noch: Unsere westlichen Gesellschaften werden immer pluralistischer, bunter und offener und nicht einmal bei Problemen, bei denen man sich einen Konsens wünschte - sagen wir: der Umgang mit dem Klimawandel -, wird einer gefunden. Damit einher geht auch ein munterer Austausch über verschiedene Ansichten bis hin zu mitunter gewaltsamen Protesten (London, Vancouver). Selbst in der deutschen Politik, angeführt von unserer unangreifbaren Teflon-Kanzlerin, herrscht muntere Auseinandersetzung, wie man gerade wieder rund um den Präsidentenwechsel sehen konnte. Aber das ist uns dann auch wieder nicht Recht. Angeblich werden wir nämlich politikmüde, wenn sich Politiker streiten.
Mein Verdacht ist, dass das Wort
Konsensgesellschaft gern als Totschlagargument gebraucht wird, wenn jemandem, der Blödsinn erzählt, Gegenwind ins Gesicht bläst (siehe Sarrazzin). Man versucht dann, die Kritiker so dastehen zu lassen, als könnten sie keine von ihnen abweichenden Meinungen ertragen. Das ist ein blödsinnig widersprüchliches Argument, denn die Kritiker üben ja gerade ihr Recht auf Äußerung einer anderen Meinung aus, ohne den Kritisierten deswegen von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
Konsens oder Befehl
Wenn es also in der Politik nicht stimmt, wie ist es in unseren Büros und im Alltag? Wie konsensgetrieben sind wir hier? Zuerst einmal kommt das auf uns selbst und die Leute an, mit denen wir uns umgeben. Ich habe bereits mit Teams gearbeitet, in denen alle versucht haben, jede Entscheidung basis-demokratisch herbeizuführen. Das hält auf und führt am Ende nicht einmal zu den besten Ergebnissen, sondern zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Ergebnis: Durchschnitt. Wir kennen auch alle die Situationen, wo der Chef einfach ansagt, was gemacht wird, ohne sich um die Ansichten der anderen zu sorgen. Das geht schnell und kann auch gute Ergebnisse liefern. Allerdings hängt alles an einem Punkt, dem Chef. Wenn der sich irrt und die falsche Entscheidung trifft, dann gibt es kein Korrektiv. Außerdem sind unsere Arbeitsanforderungen sowieso nicht mehr kompatibel mit solchen hierarchischen Entscheidungsstrategien. Wo Engagement und Kreativität gefragt sind, kann man mit dem Top-Down-Ansatz nicht viel erreichen, denn dabei schalten Leute ab und fühlen sich nicht mehr verantwortlich. Das Gegenteil ist heute von den Chefs gewünscht und trotzdem verstehen sie es oft nicht, die Bedingungen dafür zu schaffen und das antrainierte autoritäre Alpha-Männchen-Gehabe abzustellen. Mehr Konsens wäre hier gar nicht übel.
Über Geschmack lässt sich nicht streiten, über Softwarestandards schon
Fasziniert haben mich immer solche Teams, wo alle offen ihre unterschiedlichen Ideen eingebracht haben, diese diskutiert haben und sich dann ganz nüchtern auf die offensichtlich beste Idee geeinigt haben. Das geht gut, wenn es um Ideen mit objektiven Kriterien geht, also zum Beispiel bei der Software-Entwicklung. Gute Entwickler erkennen, welche Lösungen elegant, sauber und skalierbar sind. Da muss man nicht versuchen, zwischen verschiedenen Meinungen einen Konsens herzustellen. Außerdem schien mir in solchen Teams immer eine besondere Reife zu herrschen. Niemand fühlt sich auf den Schlips getreten und alle freuen sich, wenn sie gemeinsam die eleganteste Lösung für ein Problem gefunden haben. Das Gleiche ist in einem Redakteurs-Team oder unter Lektoren nicht möglich. Da wird sich ordentlich gezofft, denn jeder kann eine komplett andere Meinung über einen Text, ein Bild oder eine Sendung haben. Die Philosophen sagen: "De gustibus non est disputandum" (über Geschmack lässt sich nicht streiten). Der Volksmund sagt das Gegenteil. Und so streiten sich alle in den Redaktionen über Geschmacksfragen. Konsens ist hier unmöglich. Bei Geisteswissenschaftlern ist es dasselbe - sie streiten gern über Meinungen und Überzeugungen. Eine besondere Spezies sind Naturwissenschaftler: Sie denken je von sich, dass sie als exakte Wissenschaftler letztlich alles wissen, denn schließlich gibt es nichts als Physik, Chemie und Mathematik in unserem Universum. Um so schwerer können sie verstehen, dass ihr Kollege eine ganz andere Interpretation derselben Daten vorlegt. Wir unterschlagen gern uns selbst als wunden Punkt auf dem Weg der Wahrheitsfindung und vernachlässigen, dass wir psychischen Prozessen unterliegen, die uns qua Selbsttäuschung gern vom rechten Weg abbringen. Als Folge daraus sind wir lieber arrogant, als dass wir eingestehen, dass alles auch ganz anders sein könnte. Also auch da keine Konsensgesellschaft.
Respektgesellschaft statt Konsensgesellschaft
Tendenziell - zum Beispiel auf der Arbeit - gehen wir in eine Richtung, wo wir es wertschätzen, wenn am Ende eines Entscheidungsprozesses alle gehört wurden und zufrieden mit dem Ergebnis sind. Das muss aber mit Konsens nichts zu tun haben, sondern kann einfach ein Ausdruck gelebten Respekts sein. Ich habe sechs Jahre in einer großen US-Amerikanischen Firma gearbeitet und dort gelernt, wie essentiell Respekt ist und wie sehr er die Arbeitsleistung fördert. Man geht immer erst einmal davon aus, dass der andere den Diskurs bereichert, einen guten Vorschlag macht und Diversität mit in den Prozess bringt. In Deutschland haben wir eher Angst vor dieser Diversität. Wir müssen doch die Prozesse und Standards achten, da darf es keine Abweichung geben und irgendwie ist doch von vorn herein schon klar, wie das Ergebnis aussehen muss: Nämlich rechteckig. Da herrscht eine Abneigung gegen alles, was diese Ordnung stören und die klar definierte Zielerreichung hinauszögern könnte. Wie soll man da auf Ideen kommen? Ideen sind doch nur Abweichungen von der Norm.
Bei
Hinz Wirkt! habe ich gelesen, wir müssen achtsam sein "gegenüber einem Führungsverhalten/ einer Unternehmenskultur, die immer nur etwas wegschaffen will und Reflektionsschleifen als 'Seminartourismus' diffamiert." Diese Reflektionsschleifen zu zulassen, die Mitarbeiter in die Verantwortung zu nehmen, sie anzuhören, unter einander diskutieren zu lassen, damit ein gutes Ergebnis entsteht - das ist Respekt und nicht Konsens. Und da müssen wir hin: Zur Respektgesellschaft. Zu Hause, auf der Arbeit und in der Politik.