25. Januar 2012

Charakter, Temperament und Persönlichkeit

Psychologie ist ein Gebiet, bei dem wir alle gerne mitreden. Zu Recht, denn sie geht uns alle an. Jeder unserer Tage ist durchdrungen von psychischen Ereignissen wie von physischen. Die körperlichen Ereignisse wie die Verdauung, der Herzschlag oder das Niesen üben jedoch nicht solche Faszination auf uns aus. Sie scheinen leicht erklärlich, während die psychischen Ereignisse uns immer wieder vor Rätsel stellen.

Und auch der Umgang mit den psychischen Ereignissen scheint uns schwieriger. Es scheint uns unheimlich schwer zu sein, den Geist zu beeinflussen, unsere Stimmungen, Temperamente und Überzeugungen. Wir kommen natürlich später noch dazu, dass man körperliche Ereignisse gar nicht so simpel von psychischen trennen kann: Die Persönlichkeit ist die Organisationsebene des Individuums, wo sich Biologisches, Soziales und Psychisches treffen.

Aus dieser Faszination heraus, angefeuert durch die relativ einfache Verfügbarkeit von einschlägigen Informationen erklärt sich das große Interesse an diesen Themen. Bei aller scheinbaren Einfachheit, an Informationen zu kommen, lädt jedoch gerade das Internet dazu ein, sich mit Halbwissen zu begnügen. Will man tiefer in die Materie einsteigen, dann ist das schon wieder mit Recherche, also Arbeit verbunden. Etwas, das wir in aller Regel nicht in unserer Freizeit oder mal so zwischendurch im Büro vom Internet wollen. So geht es mir jedenfalls und oft muss ich mich disziplinieren, nicht dem Reiz der Oberfläche zu verfallen. So fiel mir kürzlich auf, dass ich fleißig über Persönlichkeit schreibe und dabei mit Wörtern wie Charakter und Temperament jongliere, ohne inne zu halten und die Beziehung dieser Konzepte untereinander zu klären.

Was ist Persönlichkeit?
Der Psychologe und Experte für Persönlichkeitsstörungen Theodore Millon beschreibt Persönlichkeit als Organisationsprinzip, das die basalen biologischen und die höheren sozialen Einflüsse zusammenführt. Alle biologischen Einflüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen werden durch das sogenannte Temperament repräsentiert. Dazu zählen die neurologischen Gegebenheiten ebenso wie vererbte Merkmale. Alle sozialen oder organisatorischen Einflüsse auf die Persönlichkeit - also etwa über die Familie, die Kollegen oder die Gesellschaft insgesamt - werden Charakter genannt.
"Persönlichkeit repräsentiert die komplexe Interaktion von Charakter und Temperament, also die individuellen Ausprägungen aller Eigenschaften einer Person." (Theodore Millon, Personality Disorders in Modern Life, S. 9)


Die hier fehlenden Axen: I - Klinische Syndrome, V - Ganzheitliche Bewertung des Funktionierens

Verhältnis von Persönlichkeit und psychischen Erkrankungen
Warum ist der Begriff der Persönlichkeit in der Psychologie so wichtig? In meinem Artikel Schizoid - die Angst vor dem Ich-Verlust ging es um eine spezielle Persönlichkeitsstörung. Solche Störungen verringern unsere Möglichkeiten, mit störenden Einflüssen wie Stress, Verlust oder Ungewissheit umzugehen. Ausweichverhalten, soziale Konflikte und Krankheiten können die Folge sein. Theodore Millon vergleicht die Persönlichkeit mit einem Immunsystem:
"Robuste Immunsysteme bekämpfen mit Leichtigkeit die meisten infektiösen Organismen, während ein geschwächtes Immunsystem der Krankheit erliegt. Psychologische Erkrankungen können mit denselben Mustern erklärt werden. Hier ist es nun nicht das Immunsystem, sondern unsere Persönlichkeitsmuster - also Bewältigungsstrategien und Anpassungsfähigkeit -, die uns entweder konstruktiv mit unserem psychosozialen Umfeld umgehen lassen oder uns daran scheitern lassen. Auf diese Art betrachtet, sind Strukturen und Charakteristiken unserer Persönlichkeit die Grundlage für unser gesundes oder krankes Verhalten. Jeder Persönlichkeitsstil ist damit also auch ein Bewältigingsstil und Persönlichkeit ist eines der obersten organisierenden Prinzipien, durch die alle Psychopathologie verstanden werden sollte." (übersetzt nach Theodore Millon, Personality Disorders in Modern Life, S. 9)
Solche Persönlichkeitsstörungen existieren jedoch nicht als singuläre Phänomene, sie sind keine eigenständigen Krankheiten, denn Persönlichkeit reflektiert die zahlreichen interpersönlichen, kognitiven, psychodynamischen und biologischen Charakteristiken einer Person. Und alle diese Charakteristiken wirken zum Teil rückkoppelnd aufeinander und das Verhalten ein, weshalb Persönlichkeitsstörungen so komplex und schwer zu beschreiben sind. Die Störung und ihre Symptome sind nicht eindeutig verlinkt und Persönlichkeitsstörungen mithin schwer zu therapieren. Genau so wie die Schwächung des Immunsystems ist die Persönlichkeitsstörung selbst keine singuläre Krankheit.
"Genauso, wie wir über biologische Stabilisatoren verfügen, die störende physische Defekte korrigieren, so verfügen wir über psychologische Mechanismen, die unbewusste Ängste und Konflikte mildern können. Und genauso, wie biologische Schutzreaktionen des Körpers manchmal zerstörerischer sein können, als die ursprüngliche körperliche Beeinträchtigung, können die psychischen Korrekturmechanismen sich als störender erweisen, als die ursprüngliche Quelle der psychischen Schwierigkeit." (Millon, Masters of the Mind, 2004, S. 246)
Die Angst vor den Schubladen und Horoskope für Gebildete
Auch jenseits von Störungen, spricht man in der Persönlichkeitspsychologie von fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit (Big Five): Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Rigidität (Gewissenhaftigkeit). Diese fünf Faktoren haben sich als weitgehend unabhängig von unterschiedlichen Kulturkreisen erwiesen. Wir finden sie in verschiedenen Persönlichkeitstests und -typologien wieder. Wenn immer man über Persönlichkeitstypen spricht oder schreibt, wird man garantiert von einigen zu hören bekommen, dass man hier doch einfach Menschen in Schubladen stecke. Das könne man doch nicht machen, Menschen seien doch vielmehr als das und ließen sich darauf nicht reduzieren.

Natürlich! Es wäre geradezu hirnverbrannt, das Gegenteil zu behaupten. Persönlichkeitstypologien behaupten auch nicht, dass Menschen nicht noch viel mehr Dimensionen haben, sondern beschreiben die individuellen Unterschiede in einzelnen psychologischen Merkmalen und in den relativ überdauernden Persönlichkeitseigenschaften von verschiedenen Menschen. Das Faszinierende am Verständnis der eigenen Persönlichkeit (und ihren mehr oder weniger milden Störungen) ist, dass man die Probleme, die man im Umgang mit der Umwelt entwickelt, voraussagen und eventuell managen oder ihnen entgegen steuern kann. Das und die Suche nach Erklärungen, warum das eigene Leben ist, wie es ist, sind die Gründe dafür, dass viele Menschen gerne über Persönlichkeitstypen lesen. Sie hoffen sich in der einen oder anderen Beschreibung wieder zu erkennen und damit sich selbst besser zu verstehen. Man könnte auch sagen: Horoskope für Gebildete.


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