Es ist ein riesengroßer Zufall, dass es da draußen in der Welt eine Pflanze gibt, die eine Chemikalie produziert, die auf bestimmte Rezeptoren in unseren Gehirnen passt, wie ein Schlüssel in ein Schloss: THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol). Die Rezeptoren in unserem Gehirn sind eigentlich dazu da, an chemische Neurotransmitter anzudocken, so dass eine Verbindung zwischen zwei Nervenzellen hergestellt werden kann. Die Neurotransmitter, auf die die Rezeptoren in den Synapsen warten, werden eigentlich vom Körper selbst hergestellt. Der körpereigene dem THC ähnelnde Neurotransmitter ist Anandamid (
ananda ist Sanskrit für Glückseligkeit) und wurde erst vor 10 Jahren entdeckt. Anandamid nimmt auf zahlreiche Gehirnfunktionen im Zusammenhang mit beispielsweise Appetit, Schmerz, Energieregulation und dem Gedächtnis Einfluss.
Cannabis verursacht vor allem erst einmal ein Gefühl des entspannten Wohlseins, kann aber in höheren Dosen auch zu Paranoia und Halluzinationen führen. Da das pflanzliche THC dem körpereigenen Anandamid in der räumlichen Struktur gleicht, kann es an die für das Anandamid reservierten Rezeptoren andocken und so auf die für Signalweiterleitung verantwortlichen G-Proteine wirken, auf die ansonsten der körpereigene Transmitter wirkt. Die G-Proteine wiederum regulieren die Ausschüttung von Botenstoffen in den Nervenzellen (z.B. Adenyl
cyclasen), was dann die Produktion bestimmter Stoffwechsel-Proteine wie Adenosinmonophosphat bremst. Das unterbricht den Kalzium-Ionen-Fluss und die sonst üblichen Aktionspotenziale können - ähnlich wie bei Schläfrigkeit - nicht mehr aufgebaut werden. Jeder, der auch nur den Cannabis-Konsum einmal beobachtet hat (man muss ja nicht selbst inhalieren), wird das mangelnde Aktionspotenzial des Konsumenten bestätigen können. Ein typischer Dialog wäre: "Gehn wir heute noch tanzen?" "OK, aber lass uns vorher noch einen rauchen!" Nach 5 Minuten rauchen: "Ach nee, lass uns zu Hause bleiben und Star Wars kucken." Dieser Verlust an Antrieb geht jedoch auch mit einem angenehm entspannten Gefühl einher. Sicher einer der Hauptgründe, warum Cannabis konsumiert wird.
Antriebslosigkeit und Entspannung sind nur zwei der vielen Wirkungsweisen von Anandamiden und Cannabis. Die Anandamide sind zum Beispiel ebenfalls beteiligt, wenn bei niedrigem Glucose-Spiegel der Körper Hunger und Appetit entwickelt. Wenn sie ausgeschüttet werden, docken sie an die entsprechenden Rezeptoren an und bringen so das Hungergefühl in unser Bewusstsein. Wird dem Gehirn THC, statt körpereigener Anandamide zugeführt, dann passiert genau dasselbe, selbst wenn der Glucose-Spiegel ausreichend hoch ist. Kein Wunder also, dass Cannabis schon vor Beginn unserer Zeitrechnung als Appetit-Anreger eingesetzt wurde. Bevor jetzt die Pot Heads unter Ihnen zu jubeln anfangen: Diese Effekte kann man mit niedrig dosiertem Cannabis auch erreichen, bevor jede andere Nebenwirkung (Euphorie, Entspannung etc.) auftritt. Die körpereigenen Anandamide sind nichts anderes als niedrig dosierte und schnell abbaubare Cannabinole. Andere Systeme, an die Cannabinole andocken, haben Einfluss auf das Herz-Kreislaufsystem, das Verdauungssystem, das Fortpflanzungssystem und das Immunsystem. Auch die Verarbeitung von Sinneseindrücken (Farbe, Licht, Töne, Druck) und Schmerzen werden verändert. Die Wirkung betrifft so holistisch den gesamten Organismus, weil die entsprechenden Rezeptoren in so verschiedenen Gehirnregionen vorkommen, z.B. im Hippocampus (Kurzzeitgedächtnis), Kleinhirn (motorische Koordination) und in den Basalganglien (Spontaneität, Affekt, Initiative, Willenskraft, Antrieb etc.).
Cannabis ist sehr komplex und neben THC spielen viele andere Cannabinole ebenfalls eine Rolle. Das ist übrigens auch der Grund dafür, warum man sich in Coffee Shops in Holland die Stimmungslage vorher aussuchen kann, in die man sich dann per speziell komponiertem Joint hineinversetzen kann. Schmerzlindernde Wirkung kann man ebenso wie gesteigerte sensorische Eindrücke beobachten. Ganz besonders hilft dieser Neurotransmitter uns bei einer oft unterschätzten Funktion unseres Gehirns:
dem Vergessen. Auch hier spielt wieder die in den Synapsen gehemmte Übertragung von Information eine Rolle. Wer schon einmal unter dem Einfluss von THC einen Film gesehen hat, wird wissen, was ich meine: Man amüsiert sich köstlich und hat doch gleich wieder vergessen, worum es ging. Hierin liegt auch ein Grund, warum heutzutage Filme immer wieder gesehen werden: Jedesmal ist das erste Mal.
Wir sehen also, dass vor allem das Kurzzeitgedächtnis, die motorische Koordination, aber auch vegetative Vorgänge wie die Verdauung betroffen sind. Die meisten Untersuchungen berichten, dass Cannabis keine toxische Wirkung auf das Gehirn hat und alle genannten Veränderung bei Erwachsenen reversibel sind. Anders verhält es sich freilich mit Persönlichkeitsstörungen, die durch den Konsum ausgelöst und manifestiert werden können. Bei allen Drogen und besonders bei Cannabis ist die psycho-physische Wirkung nur ein Teil dessen, was sie am Ende oft zu einem Problem werden lässt. Die weitaus größeren Schäden nimmt die soziale Dimension des Lebens, wenn Konsumenten sich von gesellschaftlicher Interaktion isolieren, gesundheitliche Störungen nicht mehr kuriert werden, Geldprobleme zur Obdachlosigkeit führen usw. Solche und schlimmere Effekte haben wir bei anderen mitunter toxischen Substanzen wie Alkohol auch. In diesem Sinne ist es tatsächlich nicht ganz klar und zum Teil widersinnig, nach welchen Kriterien Drogen als legal und illegal klassifiziert werden. Aus hirnphysiologischer und gesundheitlicher Perspektive scheint es keinen Sinn zu machen, das eine zu verbieten und das andere an alle ab 16 zu verkaufen.
Neoronen: Nervenzellen; Synapsen: Zwischenräume zwischen den Neuronen; Neurotransmitter: Chemische Substanzen in den Synapsen; Rezeptoren: Speziell an bestimmte Neurotransmitter angepasste Eiweißmoleküle, die Signalprozesse auslösen oder blockieren
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