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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

3. November 2011

Die Vermessung des Selbst

Heute ging es im Podcast einer meiner Lieblingssendungen "Der elektrische Reporter" um einen neuen Trend, der seinen Weg langsam auch nach Deutschland schafft: quantified self. Die Vermessung des Selbst ist eine etwas extreme Manifestation der Selbsterkenntnis, die nicht auf Introspektion oder Psychologie setzt, sondern auf Technik und die durch sie messbaren Veränderungen des Körpers. Und dabei geht es nicht nur um das Steigen auf die Waage oder die Blutdruckmessung beim jährlichen Arztbesuch. Vielmehr beobachten sich die Self Quantifier selbst auf Schritt und Tritt. Die Idee ist auch nicht ganz neu, zum Beispiel ist von Immanuel Kant überliefert, dass er sich penibel an seine Routinen hielt und dabei jede kleine Normabweichung seines Körpers und dessen Ausscheidungen beobachtete. Heute stehen dem Selbstvermesser lauter technische Gadgets zur Verfügung, deren angesammelte Informationen dann in Datenbanken gespeichert, ausgewertet, in neue Zusammenhänge gestellt und verglichen werden können. Neu ist vor allem die Öffentlichkeit (Blogs oder Foren), in der diese Selbstvermessungen nun protokolliert werden.

Es gibt nicht nur GPS-Apps, die über das Handy jeden gejoggten Kilometer metergenau aufzeichnen, man kann auch beim Schlafen seine Gehirnströme aufzeichnen lassen, die Herzfrequenz messen und sich sogar über die eigene Stimmung informieren lassen, falls man sie nicht von alleine bemerkt hat. Die Grenzen zum Blödsinn sind also fließend, einige sinnvolle Aspekte sehe ich aber doch.

Es ist bekannt, dass man durch die Beobachtung des Selbsts dieses gleichzeitig verändert. Allein durch den jeweiligen Fokus der Vermessung entsteht ein Trend, den man versucht zu steuern. Als Beispiel: Wer regelmäßig per Waage sein Gewicht beobachtet, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit bewusster mit seiner Ernährung umgehen. Oder: In diesem Frühjahr nahm ich bei einem 5-Kilometer-Lauf teil. Ich hasse Joggen und das einzige, das mich beim Training motivieren konnte, besser zu werden, war die Beobachtung meiner Erfolge über mein GPS-Spielzeug: Wie viel weiter bin ich diesmal gekommen, wie viel schneller war ich, auf welchem Streckenabschnitt habe ich geschwächelt, wo muss ich mich also beim nächsten Mal stärker konzentrieren?

Interessant wird es, wenn die Daten zusammenkommen und man sehen kann, welche Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Änderungen bestehen. Schlafe ich besser, wenn ich länger gelaufen bin? Steigt meine Intelligenz analog zu meiner sportlichen Fitness? Einen Schritt weiter geht noch CureTogether, wo tausende Selbstvermesser ihre Daten zusammentragen und so zu statistisch relevanten Erkenntnissen kommen: Yoga hilft gegen Angststörungen genauso gut wie die am häufigsten verschriebenen Medikamente. Und Kamillentee hilft gegen Angst noch weniger als Masturbation.

Durch die einfachen und recht preiswerten Messmethoden können viele Menschen auf einmal Daten erheben, diese in gemeinsamen Netzwerken zusammenbringen und auswerten lassen. Dadurch kann es zu Entdeckungen kommen, auf die ein Wissenschaftler alleine nie gekommen wäre. Zum Beispiel ist so zutage gekommen, dass Menschen, die unter Unfruchtbarkeit leiden mit einer zu 40% höheren Wahrscheinlichkeit auch unter Asthma leiden. An solchen Erkenntnissen kann man ansetzen und den eventuellen Zusammenhängen nachgehen.

Hier noch das Video vom elektrischen Reporter mit dem Beitrag zu den Selbstvermessern:

11 Kommentare:

  1. Finden Sie? Ist es nicht viel mehr das Gegenteil? Das ans Licht bringen der sonst versteckt gebliebenen Details? Das Unheimliche lebt doch eher im Dunkel und meidet die vermessende Aufklärung.

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  2. Ich würde mich ja auch eher Angelika anschließen: Ich finde es zwar nicht unheimlich, aber seltsam, sich selbst auf Schritt und Tritt zu überwachen. Das Ergebnis könnte dann eine Art psychische Wettervorhersage sein: Voraussichtlich komme ich diese Woche auf 30 km beim Joggen, Schlaf problemlos, Erhöhung des IQ um ca. 5 Punkte...

    Tagebücher gab es schon immer, spezielle z.B. Gewichts- und Lauftagebücher auch, jetzt wird das Ganze also technisiert. Aber wo bleibt denn eigentlich unser Bauchgefühl? Man braucht doch eigentlich keinen Pulsmesser, um zu merken, wenn man außerhalb des aeroben Bereichs läuft, kein Armband, um den Stresslevel zu merken (Beispiel aus dem Video). Mich beschleicht das Gefühl, dass der Mensch sich selbst nicht traut und die Wahrnehmung für sich, seinen Körper, sein Wohlbefinden verloren hat. Das ist vielleicht auch eine Auswirkung des digitalen Zeitalters, wenn er für all diese Dinge Krücken braucht. Natürlich verstehe ich den Reiz des Spielfaktors, wenn das GPS die Lauflänge anzeigt. Ich kenne eine alte Dame, die macht sich noch immer, wenn sie ihre tägliche Gymnastik absolviert hat, ein Sternchen auf ihrem Kalender; und früher bekamen die Kinder "Fleißbildchen". Ich persönlich stocke nur beim Punkt "Auswertung", wenn man dadurch verlernt, auf sich selbst zu hören ohne digitale Krücke.

    Als große Selbsthilfe-Community finde ich CureTogether ganz inspirierend, wobei ich trotzdem den persönlichen Kontakt, bei dem ich auch mein "Bauchgefühl" einsetzen kann, vorziehe :) Zu den Auswertungen nur eins: Trau keiner Statisitik, die du nicht selbst gefälscht hast - Viele Entdeckungen sind zufällig entstanden, nicht nur über so ein Portal, und aus ebenso vielen Entdeckungen wurden auch schon falsche Schlussfolgerungen gezogen.

    Ja, ich bin skeptisch. Ich entwickle lieber mein Bauchgefühl - gibt's da nicht 'ne App dazu? ;)

    P.S. Für alle, die das Bauchdenken interessiert: Bas Kast, Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Leseprobe: http://www.fischerverlage.de/sixcms/media.php/308/LP_978-3-10-038302-0.pdf

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  3. Zusammenhänge! Die werden auf diesem Blog über einige Themen verworfen und als nicht relevant anerkannt, oft auch als wichtig dahingestellt. Zum einen die Trennung des Ganzen, zum anderen die Zusammenführung der spontanen Erkenntnis. Nun steht die egozentrierte Erkenntnis gegen die, der man sich gleichzeitig ergibt, und trotz der anderen auch erkennt? Wenn dieses Zusammenspiel ein Erkenntnis auslöst, wie sieht sie aus? Wie geht man, ohne der einen, noch der anderen Erkenntnis, Wahrheit beizusteuern damit um?
    "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." : Ich habe mich schon immer gefragt, was dieser Ansatz soll. Wer oder wen will jemanden manipulieren, man gehe davon aus, dass hier Tagesbericht geleistet wird und jedem Falle, wer auch was berichtet, immer ein Stück Nonsens.

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  4. Als ich "Trau keiner Statistik..." schrieb, bezog sich das Forschende, die auf solche Daten zurückgreifen. Der Satz an sich entspringt der Tatsache, dass kein Forscher so neutral und ergebnisoffen sein kann, wie er es gerne wäre - und wie viele gern behaupten, es zu sein. Auch ein Forscher ist Mensch und sucht Zusammenhänge, die in seine Welt mit der ihr eigenen Funktions- und Erklärungslogik passen.

    Die Tagesberichte hingegen finde ich ja gut quasi als Medium für die Selbsthilfe innerhalb der Community.

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  5. Ist alles richtig und Vorbehalte und kritisches Denken sind immer angebracht. Mehr und mehr traue ich mich aber, die mir antrainierte Skepsis - wenigstens versuchsweise - zu überwinden, um auch neue interessante Dinge zu sehen und zuzulassen.

    Was hier wirklich revolutionär ist und unterschätzt wird, ist die Kraft der Maschinen (Computer), unsere alten Beschränkungen von Kommunikation und Komplexitätsverarbeitungen aufzuheben. Nie war es so einfach für Laien, mit ihren Sorgen und Gebrechen etwas vernünftiges anzustellen, dass ihnen selbst und anderen hilft. Die enorme Datenmenge, die hier fast ohne Aufwand zusammengetragen und ausgewertet wird, bliebe ohne diese Gadgets und Communities auf immer verborgen.

    Warum sind wir "traditionell" so skeptisch gegenüber numerischen Daten? Sie können uns doch helfen, die Dinge zu sehen, auf die wir eben nicht per Bauchgefühl zugreifen können. Wir lernen eine Matrix zu sehen. Für mich ist das eine spannende und aufregend positive Erweiterung unserer geistigen Kapazitäten. Die Skepsis ist sicher verständlich, aber inwieweit ist sie besser, als die mittelalterliche Skepsis gegenüber dem Buchdruck im 15 Jh. oder die Angst vor der Eisenbahn im 19 Jh.?

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  6. Apropos Nonsense, den wir alle bei jedem Bericht immer mit produzieren: Noch mehr Kommentare zu diesem Artikel finden sich auf der Facebook Seite von Geist und Gegenwart.

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  7. Betrachten wir doch das Ganze mal von der Seite Minimalismus. Hier wird ja versucht, sich von unnötigen zu trennen, um das Leben einfacher zu gestalten - auch aus Gründen der Komplexitätsreduzierung. Auf der anderen Seite sprießen aus allen Ecken und Enden Hilfskräfte der Technik, um das Leben "zu erleichtern", oder wie hier, um uns zu überwachen, damit wir uns nicht mehr um unsere Körperfunktionen kümmern müssen. Keine Angst vor Abhängigkeit? Ich bin sicher keine Extrem-Minimalistin, aber ich stelle immer wieder fest, je mehr solcher Hard- und Software, desto größer der Pflegeaufwand und desto mehr Zeit, die wirkliche Welt zu erleben, fließt dorthinein.

    Und was mir an dieser Ecke einfällt: Was haben wir uns nicht amüsiert über die Werbung in den 80-er Jahren der Sparkasse "Mein Haus, mein Auto...", weil sie die deutsche Spießigkeit auf's Korn nahm. Und heute kann man weder in meiner Generation, ganz zu schweigen von Jüngeren, begegnen, die bei jeder Gelegenheit das Smartphone zücken "Mein Urlaub, mein Essen..." Auf was ich mich also künftig einstellen muss, ist, dass dann noch kommen wird "... und mein täglicher Gang zur Toilette in Verbindung zum Stresslevel und Schlafrhythmus. :)

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  8. Klar im Extremen wird das komisch.

    Aus Minimalismus-Gründen faszinieren mich die Smartphones, die all das heute in einem kleinen Gerät vereinen können, wozu man früher ein Filofax, eine Bibliothek, eine CD-Sammlung, einen PC, ein Navigationsgerät und vielleicht auch noch medizinische Diagnosegeräte gebraucht hat. Heute alles in einem. Und nun stelle man sich noch vor, dass es hier EINE App gibt, die ganzheitlich auf mich aufpasst, meinen Gemütszustand im Auge hat, die wesentlichen Kennzahlen meiner physischen Gesundheit, weiß welche Musik ich hören möchte, mich an Termine erinnert, meine Einkaufsliste zusammenstellt etc. Das wäre doch die absolute Komplexitätsreduzierung (auf meiner Seite, das Handy freilich wird immer komplexer) und ich hätte endlich den Kopf frei für "wichtige" Sachen ;) Dahin geht die Reise und ich bin an Board und schon ganz nervös vor Vorfreude.

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  9. Ist ein Smartphone wirklich Minimalismus? Es ist zugegebenermaßen ein kleines technisches Wunderwerk, das mich aber absolut in seiner Abhängigkeit hat, ständig geladen sein zu müssen, weil ich sonst einen Termin vergesse etc. Außerdem ist es m.E. Augenwischerei zu sagen, dass es dem Minimalismus dient, denn man HAT ja weiterhin die Bibliothek, die CD-Sammlung, die Fotoalben etc. Es ist ALLES da, und nur weil es klein ist, ist es noch lange kein Minimalismus. Aber es ist sehr spannend, es von dieser Seite aus zu betrachten, es ist quasi ein Schlupfloch für den Minimalismus, sich nicht einschränken zu müssen und alles haben zu können, vielleicht würde der Begriff Miniaturismus besser passen? ;)

    Der Kopf wird aus meiner Sicht nicht frei, wenn man ständig etwas auf einer Apparatur einspeisen muss, sie warten muss etc. Deine Phantasie mit "der einen App" wird mir eher unheimlich, mich macht das nervös, denn was wäre, wenn jemand Zugang zu der App bekommen würde... Nein, da bleibe ich lieber altmodisch bei meinem handgeschriebenen Tagebuch, klebe Zettel und Kinokarten ein, freu mich an einem vollgekritzelten Kalender, halte von Zeit zu inne, um mich zu fragen, wie's mir geht und welche Musik grad zu meiner Stimmung passen würde (und würde Apps im Rahmen der Komplexitätsreduzierung von Zeit zu Zeit entfernen, wenn ich denn je so ein Phone mal besitzen sollte)... ;)

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  10. Moderne Form der Hypochondrie?

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