Die normalen Bürger hatten einfach Angst vor den Irren. Zum einen waren sie unberechenbar in ihrem Tun und zum anderen wusste man nicht, ob ihre Besessenheit nicht auch auf gesunde Menschen übergriff. Folgerichtig wurden die Idioten weggesperrt, oft in Ställen oder Kellern angekettet. Im späten Mittelalter wurden Verwirrte in Europa regelrecht zusammengetrieben und in Anstalten weggesperrt. Die Anstalten lagen oft an entlegenden Orten, damit die Normalbürger das Flehen und Schreien der Gefangenen nicht hören mussten. Außer natürlich, wenn man am Wochenende zur Freak-Show in die Anstalt ging. Da den Irren keine menschlichen Gefühle zugeschrieben wurden, ließ man sie häufig in dunkler Isolation hungern und frieren, oft so angekettet, dass sie nur an der Wand stehen oder sitzen konnten. Exkremente liefen durch die Gitter am Boden ab und Nahrung wurde durch ein Loch in der Tür oder Wand geschoben. Als Wärter boten sich verrohte Ex-Söldner oder Häftlinge an, deren Aufgabe es auch war, die Kranken körperlich zu strafen, sodass sie es sich vielleicht anders überlegten und zur Normalität zurückkehrten. Oft war der offenkundige Hauptzweck jedoch, die Irren wegszusperren. Im günstigsten Fall wurden sie nur vernachlässigt und nicht "behandelt". An Therapie oder lindern der Leiden war in der Regel nicht zu denken.
Irrenhaus in Das Cabinet des Dr. Claigari |
Ein Patient in einem Zwangsstuhl von 1811 |
Seit 1839 versuchte John Conolly in England, auf jegliche physische Gewalt (Zwangsjacken, Fesseln und kalte Duschen) zu verzichten, indem er den Patienten Aufgaben gab, wie zum Beispiel das Vieh auf der Weide zu hüten. Er zog Personal heran, das sich für die Aufgaben interessierte und gewillt war, sich den Eigenheiten der Patienten anzupassen. Conolly bezahlte sein Personal anständig und bildete es aus, so dass die Patienten auch psychologisch einfühlsam betreut werden konnten. Die Aufgaben für die Patienten dienten nicht der Kostenreduzierung der Anstalt (was in Form von Zwangsarbeit oft versucht wurde), sondern sie dienten der Therapie, der Sozialisation und dem Erwerb von Fähigkeiten. In den Focus rückten wieder soziale Komponenten wie das normale Zusammenleben von Kranken und Gesunden. Theodore Millon jedoch stellt klar: “Der Wandel vom inhumanen Wegsperren zu genuin therapeutischen Einrichtungen entwickelte sich weniger aufgrund öffentlicher Empörung über die Zustände, als vielmehr durch das eher zufällige Aufkommen von psychopharmakologischen Behandlungen. Die Medikamente stellten schwierige Patienten still und ermöglichten den Pflegern und Ärzten, ihre Aufmerksamkeit von Problemen der Ruhigstellung auf solche der Therapie zu lenken“ (Millon, 119). Die Kehrseite der Medaille ist schließlich, dass Medikation auch ein kostengünstiger Ausweg sein kann, der nur auf Ruhigstellung zielt und die Analyse der Psyche und der sozialen Umstände zu kurz kommt. Nach 2000 Jahren jedenfalls ging es wieder um Linderung von Leid und die Therapie der Erkrankten.
Sicherlich gibt es immer noch grausame Bedingungen, unter denen psychisch kranke Menschen leiden. Nicht nur aus weniger demokratischen Regionen der Erde, wo das Prinzip des Wegsperrens noch immer vorherrscht, sondern auch aus unseren westlich entwickelten Gesellschaften hört man immer wieder Gruselgeschichten von versteckten, mishandelten oder verwahrlosten Kranken. Insgesamt aber haben wir doch einen beträchtlichen Weg von der Barberei in eine humane Gesellschaft zurückgelegt. Millon beschreibt den Geschichtszyklus so: "Erst reagiert man mit Unverständnis und Angst auf psychisch Gestörte und versucht dem verstörenden Verhalten auszuweichen oder es zu beseitigen. Wegen des fehlenden Wissens müssen diese Versuche scheitern, was dann zu Frustration führt, die sich in Wut, Bestrafung und Feindseligkeit manifestiert. Das ruft alsbald Mitleid mit den hilflosen und unschuldig Kranken und Protest gegen ihre Behandlung auf den Plan. Das Mitgefühl führt zu einer neuen Suche nach Methoden der menschlichen Behandlung. Aber der gute Wille alleine reicht nicht aus, den Kranken zu helfen. Richtige Behandlung und Therapie ist auf Wissen angewiesen, dass nur durch systematische Studien und Forschung gewonnen werden kann" (Millon, 40). Es ist die Kraft der Aufklärung, die uns menschlich miteinander umgehen lässt, nicht der Glaube an Gespenster.
Wer mehr zur Geschichte der Psychologie wissen möchte, der sollte unbedingt Masters of the Mind von Theodore Millon lesen, auf das ich mich auch in diesem Artikel stütze. Soweit ich weiß, ist es bisher nur auf Englisch erschienen. Millon untersucht hier die Geschichte psychischer Störungen bis heute. Millon ist Professor Emeritus der Psychologie und Psychiatrie an der University of Miami und Harvard Medical School. Momentan ist er Dean und wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Studies in Personology and Psychopathology. Millon war umfänglich an der Katalogisierung mentaler Störungen und ihrer diagnostischen Methoden beteiligt. Masters of the Mind: Exploring the Story of Mental Illness from Ancient Times to the New Millennium
Mal wieder ein sehr interessanter Artikel, dessen Thema ich am Rande durch Rebacca Gablés "Hiobs Brüder" gestreift habe. (Die Protagonisten des Buches sind psychisch Kranke im Mittelalter)
AntwortenLöschenBezieht sich Millon nur auf Europa? Mich persönlich würde mal der Umgang mit psychischen Erkrankungen in asiatischen Zivillisationen und ihrer "ganzheitlichen" Medizin interessieren.
Millon bezieht sich hauptsächlich auf den Okzident. Ganz am Anfang bezieht er sich auf die Chinesische Philosophie, um Parallelen zu und Ursprünge von westlichen Philosophien aufzuzeigen:
AntwortenLöschenThe earliest records concerning the treatment of mental illness in China show that magic and sorcery were practiced in the twelfth century B.C. Throughout its feudal period, which lasted for more than 25 centuries for most of China, the courts guided folk-intuitive medical practices. This court-centered system established a socially oriented outlook for Chinese science and medicine.
The first written records of mental illness in Chinese literature were discovered on bones dating back to the fourteenth century B.C. Carvings on the bones asserted headaches and other head disorders reflected malevolent agencies in the wind. These so-called diseases of the wind persisted for centuries;
the belief led to the establishment within the Imperial College of Medicine in the eleventh century A.D. of a department devoted specifically to the study of wind disorders.
In the eighth century B.C., the Kuan Tzu recorded that “there are institutions where the deaf, blind, dumb, lame, paralyzed, deformed and insane are received when they are ill so as to be cared for until they recover.” The Chinese favored a broad social welfare policy that grouped all dysfunctions and disorders that required custodial care and treatment. Not until the arrival of Western medical missionaries in the nineteenth century were specific psychiatric institutions established in China. The Nei Ching and Cha I Ching, among the earliest works in Chinese medical literature, included brief descriptions of epilepsy, hallucinations, amnesia, and irrational crying and laughing, each of which was presumably a consequence of an overabundance of angry emotions; all were subjected to systematic acupuncture therapies. In the fourth century B.C., the Shan Hai Ching listed 20 or so drugs that could be used for diminishing anger and emotions such as fear and jealousy. Also recorded was the need for balance between the so-called vital elements of life. For example, attitudes of social optimism and moderation in thought and behavior could foster an “even distribution of mood”; a calmness of mind would ostensibly ensure the preservation of health.
Acupuncture treatments for psychiatric problems were employed with some success in the Ming dynasty of the fourteenth and fifteenth centuries A.D. Eti-
ology was attributed to dysfunctions in Yin and Yang and Confucius’s “Five Elements.”
[...]
Whereas Western traditions focus on the individual, Chinese culture is historically “situation-centered.” The social context assumed predominance over
individual wishes. For several millennia, China was governed by an all-powerful court bureaucracy established by merit and examination. Philosophical traditions stressed harmony as the natural order of life. Laws served to establish homeostatic patterns and social balance, and any disturbance—behavioral,
mental, or physical—called for resolutions designed to preserve and establish harmony. Each individual was given a role and place, a purpose, and a feeling
of continuity within Chinese history and its contemporary culture. Traditions and cultural institutions dealt with personal relationships and set boundaries of acceptable and unacceptable behavior, circumscribing the outer limits for interpersonal disturbances and abnormal thoughts.
(Millon S. 7 f.)
Die Geschichte der Psychiatrie ist wirklich eine interessante! Auch in unserer postmodernen Welt der Widersprüche ist es immer noch eine Herausforderung Wissen zu erforschen für die "richtige Behandlung und Therapie". Vor diesem Hintergrund finde ich es interessant darüber nachzudenken, wie wir heute mit psychisch Kranken umgehen, wie versucht wird, das Leid in Kategorien zu fassen und einheitlich zu therapieren. Mit den Leiden der Psyche ist es nämlich so eine Sache, denn ein gebrochener Fuß bleibt eine Fraktur, während das "Unfassbare" auf Häufung von Ähnlichkeiten angewiesen ist, bis es einen Namen bekommt und dadurch, dass man es nun erkennen kann, seinen Schrecken verliert - und möglichst therapierbar wird. Was aber, wenn es das Leid per Benennung nicht mehr gibt? Der psychiatrische Diagnosekatalog DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wird 2013 das 5. mal neu aufgelegt und dort werden Krankheiten gerade "gestrichen", was positiv sein kann, z.B. wurde vor 40 Jahren die Homosexualität als Krankheit herausgestrichen und neu aufgenommen, was ganze Krankheits- oder viel mehr Diagnose-Epidemien auslösen kann. Wer mehr dazu lesen will, findet hier einen ganz interessanten Beitrag dazu: http://www.sueddeutsche.de/wissen/psychiatrie-das-buch-des-wahnsinns-1.1118134 Und wer an Narzissmus leidet, kann ganz beruhigt sein: In 2 Jahren hat sich die Krankheit erledigt, wenn sie nicht mehr im Katalog zu finden ist ;-)
AntwortenLöschenJa, Nomenklatura ist absolut interessant. Da versteht man wieder den Sinn des Satzes: "Am Anfang war das Wort."
AntwortenLöschenHysterie war ja auch so eine "Krankheit". Warum wird Narzismus gestrichen? Weil wir alle narzistisch sind und das Wort seine diskriminierende Macht verloren hat?