4. Oktober 2011

Umgang mit psychisch Gestörten vom Mittelalter an

Zuletzt hatte ich beschrieben, wie die antiken Griechen auch ohne wissenschaftlich exakte Kenntnisse bereits zu humanen Behandlungsmethoden bei geistig Kranken gekommen sind. Mit der beginnenden Vorherrschaft des Christentums erst in Rom und später im gesamten Europa, änderte sich jedoch die Behandlung der Kranken. Man kehrte zu dämonologischen Ansichten zurück, die Hippokrates schon hinter sich gelassen hatte. Exorzismus und Hexenverfolgung traten an die Stelle von Therapie. Die im Vergleich zu den neuen christlichen Dogmen geradezu aufklärerischen Schriften der antiken Griechen wurden verboten.

Wenn geistige Verwirrung damit erklärt wird, dass jemand vom Teufel besessen oder zumindest sündigen Gedanken und Taten schuldig ist, dann ist die Behandlung eben vor allem Zucht und Strafe. Zu Zeiten der Inquisition ging man zudem davon aus, dass es sich bei den "Besessenen" nicht um Opfer von Dämonen handelte, sondern um willfährige Diener des Teufels, besonders wenn es sich um Frauen handelte. Zwischen dem 11. und dem 17. Jahrhundert blühte der Satanismus und mit ihm der Exorzismus. Symptome, die wir heute als Epilepsie kennen, waren damals ein Zeichen von Besessenheit. Folter von Hexen und Teufelsaustreibungen wurden damit gerechtfertigt, dass es ja den Besessenen helfen sollte, den Teufel loszuwerden...

Die normalen Bürger hatten einfach Angst vor den Irren. Zum einen waren sie unberechenbar in ihrem Tun und zum anderen wusste man nicht, ob ihre Besessenheit nicht auch auf gesunde Menschen übergriff. Folgerichtig wurden die Idioten weggesperrt, oft in Ställen oder Kellern angekettet. Im späten Mittelalter wurden Verwirrte in Europa regelrecht zusammengetrieben und in Anstalten weggesperrt. Die Anstalten lagen oft an entlegenden Orten, damit die Normalbürger das Flehen und Schreien der Gefangenen nicht hören mussten. Außer natürlich, wenn man am Wochenende zur Freak-Show in die Anstalt ging. Da den Irren keine menschlichen Gefühle zugeschrieben wurden, ließ man sie häufig in dunkler Isolation hungern und frieren, oft so angekettet, dass sie nur an der Wand stehen oder sitzen konnten. Exkremente liefen durch die Gitter am Boden ab und Nahrung wurde durch ein Loch in der Tür oder Wand geschoben. Als Wärter boten sich verrohte Ex-Söldner oder Häftlinge an, deren Aufgabe es auch war, die Kranken körperlich zu strafen, sodass sie es sich vielleicht anders überlegten und zur Normalität zurückkehrten. Oft war der offenkundige Hauptzweck jedoch, die Irren wegszusperren. Im günstigsten Fall wurden sie nur vernachlässigt und nicht "behandelt". An Therapie oder lindern der Leiden war in der Regel nicht zu denken.

Mental Institution in Caligari
Irrenhaus in Das Cabinet des Dr. Claigari
Sicher gab es hier und da Ausnahmen: Ein paar mitleidige Mönche vielleicht, die einige verwirrte arme Seelen durchfütterten. Mit der Renaissance und der Wiederentdeckung der Antike gab es auch wieder Mediziner, die in Konflikt mit der Katholischen Kirche Mitleid mit den psychisch Kranken propagierten. Juan Luis Vives zum Beispiel - der bereits den modernen Sozialstaat mit kommunaler Krankenversorgung vorwegdachte - hatte enorm moderne Ideen, was die menschliche Psyche und ihre Gefahren anging, weit entfernt von Teufel und Dämonen. Für ihn gab es schlicht keine Rechtfertigung dafür, an ihrer Psyche leidenden Menschen noch mehr Leid zuzufügen. Der Niederländer Johann Weyer arbeitete ganz systematisch und naturalistisch die verschiedenen Störungen heraus, die wir auch heute noch kennen und lehnte offen jeden Gedanken von Besessenheit ab. Seine Schriften blieben lange auf dem Index der Römisch Katholischen Kirche. Interessanterweise wird das Mitleid mit den Kranken aus naturwissenschaftlichem Interesse geboren und kann im Mittelalter nur im Konflikt mit der Christlichen Lehre bestehen. Übrigens: Seit der letzten Revision des De Exorcismis et Supplicationibus Quibusdam durch den Vatikan im Jahre 1998 wird immerhin davor gewarnt, psychische Störungen mit Besessenheit zu verwechseln.

Ein Patient in einem Zwangsstuhl von 1811
Im 18. Jh. fasste In einigen Anstalten der Gedanke Fuß, dass die dort eingesperrten auch fühlende Menschen sind. Der Durchbruch kam um 1760 in England, nachdem öffentlich wurde, wie brutal King George III während seiner geistigen Verwirrung behandelt wurde. Es kam zu parlamentarischen Untersuchungen, öffentlichem Interesse und schließlich zu Reformen in deren Folge sich die Behandlung der Kranken unter medizinisch-therapeutischem Fokus in Europa besserte. Aus heutiger Perspektive wenig überraschend kam es bei vielen Patienten zu deutlichen Besserungen, weniger Agression und insgesamt zu einem unkomplizierteren Betrieb der Anstalten. In Frankreich war es Phillippe Pinel, der die Ketten im Pariser Bicétre Hospital und im Salpétrière Hospital im Einklang mit der Liberté der Französischen Revolution entfernen ließ. in Deutschland war es Johann Christian Reil, der auch als Begründer der modernen Psychiatrie gilt. Zum Einsatz kamen Beschäftigungstherapie, Musik, Theaterspiele, gute Ernährung, ausreichend Schlaf und Sonnenlicht. Zwangsjacken und kalte Bäder blieb jedoch vorerst Instrumente, die die Kooperation sicherstellten.

Seit 1839 versuchte John Conolly in England, auf jegliche physische Gewalt (Zwangsjacken, Fesseln und kalte Duschen) zu verzichten, indem er den Patienten Aufgaben gab, wie zum Beispiel das Vieh auf der Weide zu hüten. Er zog Personal heran, das sich für die Aufgaben interessierte und gewillt war, sich den Eigenheiten der Patienten anzupassen. Conolly bezahlte sein Personal anständig und bildete es aus, so dass die Patienten auch psychologisch einfühlsam betreut werden konnten. Die Aufgaben für die Patienten dienten nicht der Kostenreduzierung der Anstalt (was in Form von Zwangsarbeit oft versucht wurde), sondern sie dienten der Therapie, der Sozialisation und dem Erwerb von Fähigkeiten. In den Focus rückten wieder soziale Komponenten wie das normale Zusammenleben von Kranken und Gesunden. Theodore Millon jedoch stellt klar: “Der Wandel vom inhumanen Wegsperren zu genuin therapeutischen Einrichtungen entwickelte sich weniger aufgrund öffentlicher Empörung über die Zustände, als vielmehr durch das eher zufällige Aufkommen von psychopharmakologischen Behandlungen. Die Medikamente stellten schwierige Patienten still und ermöglichten den Pflegern und Ärzten, ihre Aufmerksamkeit von Problemen der Ruhigstellung auf solche der Therapie zu lenken“ (Millon, 119). Die Kehrseite der Medaille ist schließlich, dass Medikation auch ein kostengünstiger Ausweg sein kann, der nur auf Ruhigstellung zielt und die Analyse der Psyche und der sozialen Umstände zu kurz kommt. Nach 2000 Jahren jedenfalls ging es wieder um Linderung von Leid und die Therapie der Erkrankten.

Sicherlich gibt es immer noch grausame Bedingungen, unter denen psychisch kranke Menschen leiden. Nicht nur aus weniger demokratischen Regionen der Erde, wo das Prinzip des Wegsperrens noch immer vorherrscht, sondern auch aus unseren westlich entwickelten Gesellschaften hört man immer wieder Gruselgeschichten von versteckten, mishandelten oder verwahrlosten Kranken. Insgesamt aber haben wir doch einen beträchtlichen Weg von der Barberei in eine humane Gesellschaft zurückgelegt. Millon beschreibt den Geschichtszyklus so: "Erst reagiert man mit Unverständnis und Angst auf psychisch Gestörte und versucht dem verstörenden Verhalten auszuweichen oder es zu beseitigen. Wegen des fehlenden Wissens müssen diese Versuche scheitern, was dann zu Frustration führt, die sich in Wut, Bestrafung und Feindseligkeit manifestiert. Das ruft alsbald Mitleid mit den hilflosen und unschuldig Kranken und Protest gegen ihre Behandlung auf den Plan. Das Mitgefühl führt zu einer neuen Suche nach Methoden der menschlichen Behandlung. Aber der gute Wille alleine reicht nicht aus, den Kranken zu helfen. Richtige Behandlung und Therapie ist auf Wissen angewiesen, dass nur durch systematische Studien und Forschung gewonnen werden kann" (Millon, 40). Es ist die Kraft der Aufklärung, die uns menschlich miteinander umgehen lässt, nicht der Glaube an Gespenster.



Wer mehr zur Geschichte der Psychologie wissen möchte, der sollte unbedingt Masters of the Mind von Theodore Millon lesen, auf das ich mich auch in diesem Artikel stütze. Soweit ich weiß, ist es bisher nur auf Englisch erschienen. Millon untersucht hier die Geschichte psychischer Störungen bis heute. Millon ist Professor Emeritus der Psychologie und Psychiatrie an der University of Miami und Harvard Medical School. Momentan ist er Dean und wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Studies in Personology and Psychopathology. Millon war umfänglich an der Katalogisierung mentaler Störungen und ihrer diagnostischen Methoden beteiligt. Masters of the Mind: Exploring the Story of Mental Illness from Ancient Times to the New Millennium

4 Kommentare:

  1. Mal wieder ein sehr interessanter Artikel, dessen Thema ich am Rande durch Rebacca Gablés "Hiobs Brüder" gestreift habe. (Die Protagonisten des Buches sind psychisch Kranke im Mittelalter)
    Bezieht sich Millon nur auf Europa? Mich persönlich würde mal der Umgang mit psychischen Erkrankungen in asiatischen Zivillisationen und ihrer "ganzheitlichen" Medizin interessieren.

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  2. Millon bezieht sich hauptsächlich auf den Okzident. Ganz am Anfang bezieht er sich auf die Chinesische Philosophie, um Parallelen zu und Ursprünge von westlichen Philosophien aufzuzeigen:

    The earliest records concerning the treatment of mental illness in China show that magic and sorcery were practiced in the twelfth century B.C. Throughout its feudal period, which lasted for more than 25 centuries for most of China, the courts guided folk-intuitive medical practices. This court-centered system established a socially oriented outlook for Chinese science and medicine.
    The first written records of mental illness in Chinese literature were discovered on bones dating back to the fourteenth century B.C. Carvings on the bones asserted headaches and other head disorders reflected malevolent agencies in the wind. These so-called diseases of the wind persisted for centuries;
    the belief led to the establishment within the Imperial College of Medicine in the eleventh century A.D. of a department devoted specifically to the study of wind disorders.
    In the eighth century B.C., the Kuan Tzu recorded that “there are institutions where the deaf, blind, dumb, lame, paralyzed, deformed and insane are received when they are ill so as to be cared for until they recover.” The Chinese favored a broad social welfare policy that grouped all dysfunctions and disorders that required custodial care and treatment. Not until the arrival of Western medical missionaries in the nineteenth century were specific psychiatric institutions established in China. The Nei Ching and Cha I Ching, among the earliest works in Chinese medical literature, included brief descriptions of epilepsy, hallucinations, amnesia, and irrational crying and laughing, each of which was presumably a consequence of an overabundance of angry emotions; all were subjected to systematic acupuncture therapies. In the fourth century B.C., the Shan Hai Ching listed 20 or so drugs that could be used for diminishing anger and emotions such as fear and jealousy. Also recorded was the need for balance between the so-called vital elements of life. For example, attitudes of social optimism and moderation in thought and behavior could foster an “even distribution of mood”; a calmness of mind would ostensibly ensure the preservation of health.
    Acupuncture treatments for psychiatric problems were employed with some success in the Ming dynasty of the fourteenth and fifteenth centuries A.D. Eti-
    ology was attributed to dysfunctions in Yin and Yang and Confucius’s “Five Elements.”

    [...]

    Whereas Western traditions focus on the individual, Chinese culture is historically “situation-centered.” The social context assumed predominance over
    individual wishes. For several millennia, China was governed by an all-powerful court bureaucracy established by merit and examination. Philosophical traditions stressed harmony as the natural order of life. Laws served to establish homeostatic patterns and social balance, and any disturbance—behavioral,
    mental, or physical—called for resolutions designed to preserve and establish harmony. Each individual was given a role and place, a purpose, and a feeling
    of continuity within Chinese history and its contemporary culture. Traditions and cultural institutions dealt with personal relationships and set boundaries of acceptable and unacceptable behavior, circumscribing the outer limits for interpersonal disturbances and abnormal thoughts.

    (Millon S. 7 f.)

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  3. Die Geschichte der Psychiatrie ist wirklich eine interessante! Auch in unserer postmodernen Welt der Widersprüche ist es immer noch eine Herausforderung Wissen zu erforschen für die "richtige Behandlung und Therapie". Vor diesem Hintergrund finde ich es interessant darüber nachzudenken, wie wir heute mit psychisch Kranken umgehen, wie versucht wird, das Leid in Kategorien zu fassen und einheitlich zu therapieren. Mit den Leiden der Psyche ist es nämlich so eine Sache, denn ein gebrochener Fuß bleibt eine Fraktur, während das "Unfassbare" auf Häufung von Ähnlichkeiten angewiesen ist, bis es einen Namen bekommt und dadurch, dass man es nun erkennen kann, seinen Schrecken verliert - und möglichst therapierbar wird. Was aber, wenn es das Leid per Benennung nicht mehr gibt? Der psychiatrische Diagnosekatalog DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wird 2013 das 5. mal neu aufgelegt und dort werden Krankheiten gerade "gestrichen", was positiv sein kann, z.B. wurde vor 40 Jahren die Homosexualität als Krankheit herausgestrichen und neu aufgenommen, was ganze Krankheits- oder viel mehr Diagnose-Epidemien auslösen kann. Wer mehr dazu lesen will, findet hier einen ganz interessanten Beitrag dazu: http://www.sueddeutsche.de/wissen/psychiatrie-das-buch-des-wahnsinns-1.1118134 Und wer an Narzissmus leidet, kann ganz beruhigt sein: In 2 Jahren hat sich die Krankheit erledigt, wenn sie nicht mehr im Katalog zu finden ist ;-)

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  4. Ja, Nomenklatura ist absolut interessant. Da versteht man wieder den Sinn des Satzes: "Am Anfang war das Wort."

    Hysterie war ja auch so eine "Krankheit". Warum wird Narzismus gestrichen? Weil wir alle narzistisch sind und das Wort seine diskriminierende Macht verloren hat?

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