Entlastung, Stabilität und Sinnhaftigkeit
Ich habe zwar keinen Fernseher, aber schaue regelmäßig meine Lieblings-Shows auf dem Computer, so wie etwa Breaking Bad, The Big Bang Theory oder Curb your Enthusiasm. Sicher kennen Sie das: Hat man erst mal eine Show für sich entdeckt (bei meinen Eltern ist es der Tatort), dann will man eigentlich immer wieder das und nichts anderes sehen. Das mag auch daran liegen, dass wir die Show für gut gemacht halten und ein Spannungsbogen entsteht. Warum aber sind wir regelrecht traurig, wenn eine Staffel zu Ende geht? Das hat vor allem damit zu tun, dass wir die Charaktere kennen, die individuelle Ästhetik in Bild und Ton lieben und uns das gesamte Feeling der Show zu einem Bestandteil unseres Lebens machen. Die Charaktere schleichen sich in unser Leben, sie hören auf, bloße Schauspieler zu sein, wir fangen an, sie als Menschen zu schätzen (siehe mein Exkurs über Larry David). Mit anderen Worten, die TV-Sendung gibt uns Halt und Stabilität, nicht nur in unseren Entertainment-am-Abend-Plänen, sondern auch in unserem emotionalen Haushalt.
Das ist der Hauptaspekt von Gewohnheiten: Sie geben unserem Leben Halt, sie etablieren Regeln und helfen uns, uns zurecht zu finden. Gewohnheiten sind typische Entlastungen, die uns vom immer neuen Pläne machen befreien. Wir müssen nicht immer wieder darüber nachdenken, was wir nun eigentlich machen, wenn wir morgens aufstehen: Wir machen die Kaffeemaschine an, schmeißen Toastbrot in den Toaster, stellen Butter und Marmelade auf den Tisch und frühstücken. Sonntags kochen wir auch mal ein Ei und lesen die Zeitung. Das ist schön, beruhigend und hilft uns, den ansonsten vielleicht unvorhersagbaren Tagesablauf anzugehen. Insbesondere nach traumatischen Geschehnissen, bei der Trauerarbeit und auch beim Liebeskummer, helfen uns Gewohnheiten dabei, am Leben zu bleiben, an einer - wenn auch kleinen - Sinnhaftigkeit festzuhalten und einfach weiterzumachen.
Mein japanischer Kyusu für die alltäglichen Momente des Zaubers |
Zeremonien: Frieden und Kunst des Alltags
Wir können aber noch einen Schritt weitergehen und einige unserer Gewohnheiten in Zeremonien verwandeln. Wir kennen das selbstverständlich aus religiösen oder kultischen Zusammenhängen. Was bei der Zeremonie hinzukommt ist die Bewusstmachung und strenge Einhaltung von Regeln beim Vollziehen der Handlung. Es sind Momente der Einkehr und des Ausblendens der konfusen Außenwelt. Wir sammeln uns und konzentrieren uns einzig auf die zeremonielle Handlung. Das gibt Frieden und Stabilität.
Bei mir ist es der Tee. Ich trinke jeden Tag eine Menge Tee. Und nicht jedesmal wenn ich ihn zubereite, wächst sich das in eine Zeremonie aus. Nur Teebeutel würde ich nicht nehmen, denn dass ist wirklich lieblos, kleingeschreddert, vordosiert und lässt keinen Spielraum für die Kunst des Alltags. Ich habe einen Kyusu, diverse lose Tees und eine japanische gusseiserne Wasserkanne, in der ich einen Liter Wasser direkt auf dem Feuer um 80°C halten kann. In den kleinen Kyusu aus Ton kommt - je nach Tee - ein, zwei oder drei Teelöffel loser Tee, von dem ich dann bis zu vier Aufgüssen mit dem warmen Wasser machen kann. Das ist nun alles keine Kunst und manchmal schleichen sich auch da Automatismen ein. Aber wenn ich einen richtig guten Tee habe, wie im Moment beispielsweise einen Phuguri Darjeeling 2011 First Flush, dann gebe ich mir eine wirklich zeremonielle Mühe. Nicht nur, weil die Preise für solche Tees sündhaft sind, sondern auch weil eine enorme Steigerung des ohnehin außerordentlichen Duftes und Geschmacks möglich ist, wenn man die richtige Menge Tee mit dem richtig erhitzten Mineralwasser in dem richtigen Gefäß eine genau abgemessene Zeit lang ziehen lässt.
Konzentrierte Schönheit allen Seins
Solch ein zeremonieller Prozess nimmt mich dermaßen ein, dass er mich für eine Weile aus der alltäglichen Welt befreit und in eine kultische Sphäre der Düfte und des Geschmacks überführt. Bevor ich den Tee aufgieße, stecke ich meine Nase für Sekunden in die Teedose und versinke in den süße-würzigen Welten der Blumen des Himalajas. Gleichzeitig zucken Erinnerungen an die Holzeinrichtung im Schlafzimmer meiner Oma durchs Gehirn, ich sehe mich als kleines Kind in einem langen Raum mit abgedunkelten Fenstern. Meine Atemwege ziehen sich zusammen, das Herz schlägt bis zum Hals und ich freue mich unendlich auf den bevorstehenden ersten Schluck. Wenn der sich auf meiner Zunge ausbreitet und den Weg zur Kehle und Speiseröhre nimmt, ist es wirklich ein berauschender Moment. Dieser Rausch kommt nur dadurch zustande, dass ich mir vorher die Zeit nehme, alle Handlungen gebührend ausführe, den Tee als Teil der Natur achte und ganz bewusst meinen Geist auf die Gegenwart lenke.
Solche Gewohnheiten, die wir durch die Begleitung unseres Bewusstseins zu Zeremonien machen, haben das Potential, unseren Alltag mit einem besonderen Sinn aufzuladen. Ob es nun ein Spaziergang ist, Gartenarbeit, Backen, Kochen oder das Blättern in einem großartigen Buch. Für einige Momente nehmen wir die gesamte Schönheit des Seins wahr, die sich in kleinen Details, in Erinnerungen, Düften, in Augen-Blicken versteckt. Wir müssen sie durch Konzentration hervorlocken, sie zeigt sich nicht von allein. Wenn wir sie aber für Sekunden festhalten können, verzaubert sie das Leben über die Momente hinaus und begleitet uns. Bis sie verblasst und wir sie wieder über die Zeremonie in unser Bewusstsein holen müssen.
Ganz groß. Love it. :-)
AntwortenLöschenIst es nicht so, das wir alle unsere Zeremonien brauchen? Wir sollten uns Zeit dafür nehmen und sie genießen in Augenblicke, wo wir entspannt mit uns selbst umgehen können.Es bringt uns die Ruhe, nach der wir manchmal dringend suchen.
AntwortenLöschen