Haben wir verlernt zu vergessen?
Erinnerung und Vergessen sind beides lebensnotwendige Fähigkeiten, sie konstituieren unsere Persönlichkeiten, aus ihnen formen wir unsere Wirklichkeit. Das eine ist dabei so wichtig wie das andere. Das ist offensichtlich, wenn es ums Erinnern geht. Aber wer will schon vergessen?
Menschen, die unter dem hyperthymestische Syndrom leiden, können sich an beinahe jede Minute ihrer Vergangenheit erinnern und verbringen unproportional viel Zeit mit dem Nachdenken über die Ereignisse ihres Lebens. Sie können das nicht kontrolliert tun, das wäre vielleicht beneidenswert. Ihre Erinnerung drängt sich ihnen auf, sie sind ihr zwanghaft unterworfen. Die bekannteste Patientin Jill Price erinnert sich an jeden einzelnen Tag ihres Lebens bis zurück zu ihrem 15 Lebensjahr.
Fakten werden zur Geschichte
Das Vergessen von Schmerzen, die einem zugefügt wurden oder von schamvollen Momenten, die man sich selbst zuzuschreiben hat, aber auch von Ungerechtigkeiten und sogar Verbrechen, die einem angetan wurden, ist eine Voraussetzung für ein glückliches Leben und Zusammenleben. In der Familie, im Zusammenleben und unter Freunden müssen wir vergeben und vergessen. Zivilisierte Gesellschaften haben das Vergessen in ihre Rechtssysteme eingebaut. Straftaten verjähren, Lebenslänglich ist nicht gleich ein Leben lang. Dabei vergessen wir nicht streng genommen alle Fakten. Aber die emotionalen Färbungen verblassen,
Fakten werden weicher und machen der
Geschichte Platz. Wir werden milde im Alter, weil die Verletzungen vernarbt sind und die ehemals so eindeutigen Wahrheiten, die unseren Gerechtigkeitssinn in Feuer und Flamme gesetzt haben, werden relativiert. All das ist menschlich und gut.
Macht vergesslich sein glücklich?
Ich habe sogar den heimlichen Verdacht, dass vergessliche Menschen im Zweifel die glücklicheren sind. Mir wird schon immer von Freunden nachgesagt, dass ich vergesslich sei. Und wenn ich darüber nachdenke, dann fällt mir auf, dass ich ganz wenig in der Vergangenheit lebe. Ich denke wenig zurück an die schönen oder tragischen Momente. Ich bin auch nicht nachtragend und versöhne mich schnell. Die Frage ist nun, ob ich all das bin, weil ich
vergesslich bin? Ich kann mir auch vorstellen, dass es anders herum ist: Da ich nicht so interessiert bin an dem, was war, übe ich das Erinnern auch nicht. Und was man nicht übt, verlernt man. Also macht vergesslich sein vielleicht nicht glücklich, sondern glücklich sein vergesslich?
Hyperthymestische Gesellschaft - Verlernen wir das Vergessen?
Erinnern ist gleich speichern plus wiederfinden. Das ist eine Operation, die wir als Menschheit immer besser machen. Von der Höhlenmalerei über das Singen von Liedern, das Schreiben von Büchern bis hin zum endlosen speichern und wiederfinden all der Information auf unseren Festplatten und im Internet - wir vergessen immer weniger und erinnern immer mehr. Ist das schlecht? Na ja - für einige Leute schon, z.B. wenn ihre Gesichter als die von Kriminellen für immer in irgendwelchen Bilderdatenbanken von besorgten Mitbürgern für alle auf ewig sichtbar gespeichert werden. Oder für die, deren peinliche Party-Eskapaden von anderen aufgenommen auf YouTube landen. Vor allem der Staat macht mit Aktionen wie Vorratsdatenspeicherung reichlich Gebrauch von der digitalen Speicherrevolution.
Auf der individuellen Ebene sehe ich kaum einen großen Unterschied zu vorher. Klar habe ich noch irgendwo alle meine E-Mails seit 1999. So wie meine Oma noch ihre alten Briefe hat. Aber ich lese sie nicht mehr, vielleicht habe ich nicht einmal mehr die Software, um meine Dateien alle auslesen zu können. Natürlich habe ich ca. 1 Million Fotos mehr als meine Eltern je in ihrem Leben angesammelt haben. Aber welche Bilder sehe ich mir denn hin und wieder an? Die, die ich mal ausgewählt habe und in ein Online-Album kopiert oder die, die ich mal ausgedruckt habe. Mit anderen Worten: Ich erinnere nicht mehr, als vor der digitalen Revolution. Denn ich speichere zwar, aber finde nichts wieder. Ich könnte jedoch, wenn ich wollte.
Für mich ist das ein Fortschritt, eine zusätzliche Wahlmöglichkeit. Von all dem Untergangsgesang beim Auftauchen neuer Techniken halte ich gar nichts. Das gab es schon immer. Auch das Buch wurde verteufelt und dann wurde es doch zum Sinnbild von Kultur und Intelligenz. Vielleicht ist es sogar anders herum und wir werden wieder vergesslicher, je weiter wir uns vom Buch entfernen. Als ich in den 80er Jahren zur Schule ging, mussten wir noch die
John Maynard von Theodor Fontane auswendig lernen. Inzwischen lernen wir gar nichts mehr auswendig, weil wir es sowieso bei Bedarf an seinem
Speicherort, den wir in der Hosentasche bei uns tragen, wieder finden. Statt Erinnern, wird das Finden zur neuen Kompetenz. Meine Hoffnung wäre, dass wir durch die neue Vergesslichkeit glücklicher werden.
Was meinen Sie?
Das dürfte Sie auch interessieren: