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9. November 2009

Der Melancholiker im Büro


Illustration: Martin Rathscheck

Der Melancholiker ist der einzige, der anständig durchs Arbeitsleben kommt. Er ist pragmatisch und weiß, dass alles was er tut, letztlich sinnlos ist. Er arbeitet still vor sich hin, um es hinter sich zu bringen. Der Melancholiker braucht das Geld für Brot, Bett und Alkohol. Statussymbole sind ihm egal. Im Büro trägt er Turnschuhe aus der vorletzten Saison, ein T-Shirt und bequeme Jeans. Der Melancholiker braucht sportliche Kleidung schon deshalb, weil er täglich die 16 Stockwerke zu seinem Schreibtisch zu Fuß erklimmt. Der Gedanke 40 Sekunden mit seinen schwitzenden und plappernden Kollegen zusammen in einem Aufzug zu stehen und zum Small-Talk gezwungen zu sein, ist ihm ein Horror...

Der Melancholiker bemitleidet seine Kollegen, die entweder dem Herzinfarkt zuarbeiten, sich vor allen zum Clown machen oder an ihrer eigenen Unfähigkeit verzweifeln. Obwohl der Melancholiker eine gesunde Abneigung gegen seine Mitmenschen hat, trägt sein Mitleid erstaunlich weit. Er hilft, wenn er kann, denn das Chaos, die Irrationalität und den Mangel an Perfektion um ihn herum findet er unerträglich. Der Melancholiker kann sich jedoch auch zurücklehnen und mit perversem Kitzel beobachten, wie die Choleriker, Sanguiniker und Phlegmatiker an ihren kombinierten Unzulänglichkeiten scheitern. Es bestätigt sein Wissen um die Sinnlosigkeit allen menschlichen Tuns.

Die Spannung zwischen innerer und äußerer Welt des Melancholikers ist enorm. Obwohl dem Melancholiker ein moralischer Standpunkt unmöglich ist, verhält er sich nach außen sozial kompatibel. Er möchte sich und mithin anderen das ohnehin lächerliche Alltagsleben nicht noch schwerer machen. Da dem Melancholiker primitive Regungen wie Schuld, Stolz oder Ehre fremd sind, wird er als sehr umgänglich, tolerant und anpassungsfähig wahrgenommen. Der Melancholiker ist das produktivste und dabei am wenigsten sichtbare Team-Mitglied. Er nutzt Strukturen und Strategien, die sich als erfolgreich erwiesen haben und lehnt Experimente ab. Der Melancholiker lenkt gerne von seinen Erfolgen ab und lobt lieber den Phlegmatiker und den Sanguiniker, weil die es nötiger haben. Dialoge mit Kollegen sind rar, Selbstgespräche können jedoch beim Melancholiker häufig beobachtet werden:

»Ok, was will die Knallerbse von einem Chef jetzt wieder von mir? Sales-Pitch? Mit unseren beschissenen Produkten? Es wäre einfacher, dem Kunden auf die Latschen zu kacken und das ganze als Schuhcreme zu vermarkten. Egal, ich schick es einfach raus. Ist ja nicht mein Laden. Vielleicht machen wir hier endlich dicht und ich muss nicht mehr jeden verdammten Tag für den Kommerz-Zirkus dieser Idioten arbeiten.«

Der Choleriker achtet den Melancholiker wegen seiner Produktivität, die er als Can-Do-Attitude missinterpretiert. Die kühle Rationalität des Melancholikers ist ihm jedoch unheimlich. Der Sanguiniker hält den Melancholiker für sterbenslangweilig, fühlt sich jedoch von dessen Intellekt eingeschüchtert und an die Wand gespielt. Der Phlegmatiker verehrt den Melancholiker, er fühlt sich von ihm auf eine oberflächliche Weise geachtet und missversteht die Hilfsbereitschaft des Melancholikers als Nächstenliebe. Seine Sex- und Lebenspartner objektiviert der Melancholiker bis zum Sadismus. Sein Lebensabend erfüllt sich in zwanghaftem Sortieren verschiedengroßer Schrauben und Muttern in Margarinebechern.

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