Der Rhythmus von Gegenübertreten und Wiedereintreten
Die westliche Philosophie ist raumlos, körperlos, weniger von In-Sein geprägt als von Da-Sein und vor allem von einer Art des "Gegenüber-Stehens", die nicht nur einen Einfluss darauf haben dürfte, wie wir die Welt wahrnehmen, sondern auch darauf, wie wir uns in ihr oder eben ihr gegenüber fühlen. Im Grunde ist es eine einsame Beobachterperspektive, die wir einnehmen, inklusive einem Abgespaltensein von dem, was wir da beobachten.
Was da religions- und wissenschaftshistorisch passierte, dass es so kam, weiß ich nicht genau, aber die Annahme liegt nahe, dass sich Religion und Philosophie im Westen voneinander stärker abgesetzt haben, als das zum Beispiel in östlichen Religionen und Philsophien der Fall ist, in denen die religiöse Anwesenheit, Klang, In- und Versunken-Sein immer auch noch philosophische bzw. konreter lebensanschauliche Relevanz haben.
Religiöse und musische Weltanschauungen
Wäre die Philsosophie des Westens immer noch eine religiöse, dann hätten wir sicher viele andere Probleme (vielleicht gäbe es gar kein Internet, keine liberalen Rechte vor dem Gestz oder Miskroskope), aber unser Weltverständnis wäre nicht so dualistisch, nicht so ein unglücklicher Bewusstseinsblick von gegenüber, sondern viel mehr ein Innen-Verhältnis. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie es ist, in eine Kirche einzutreten, in dieses wohltemperierte innere Schiff, halbdunkel mit bunten Leuchtpunkten aus den Butzenscheiben, als wenn man vom Grund eines Sees nach oben schaut. Und auch die Klänge gedämpft und eher an das Verschwinden erinnernt als ein aufdringliches Treiben. Und dann setzt die Orgel ein, vielleicht Bachs Toccata und Fuge in d‑Moll und greift dein ganzes Herz mit Lunge, Haut und Haar und zieht dich nach oben, reißt dich auseinander und lässt dich als Teil des großen göttlichen Atems den ganzen Raum einnehmen. Das ist ein Aufgehen in etwas größerem, kein Beobachten und Sezieren, sondern ein Schmelzen, ein gegenseitiges und extatisches Hindurchgehen – ich durch die Welt, die Welt durch mich.
Oder die japanischen Trommeln der Shinto Klöster, deren Klänge dem Herzschlag nachempfunden zu sein scheinen und die in einer eigentümlichen Rückwirkung dem Herzen des Zuhörers einen neuen Rhythmus vorgeben können. Und ich muss an die traditionelle Musik in Thailand denken, die einen dermaßen hypnotisieren kann, dass es auch am Strand von Khaolak oder im Muay Thai Ring gar kein Außen mehr gibt:
Diese Eigentümlichkeit des Hörens, das man nur als in die Welt eingebettet sein beschreiben kann, aber nicht als ein ihr Gegenüberstehen, beschreibt Peter Sloterdjik in "Wo sind wir, wenn wir Musik hören?" so:
"Kein Hörer kann glauben, am Rand des Hörbaren zu stehen. Das Ohr kennt kein gegenüber, es entwickelt keine frontale »Sicht« auf fernstehende Objekte, denn es hat »Welt« oder »Gegenstände« nur in dem Maß, wie es inmittem des akustischen Geschehens ist ..." (Sloterdijk, Weltfremdheit, S. 296)Es ist schon eine starke Erkenntnis, dass unser metaphysisches Heimweh, unser gefühltes Ausgesetztsein, unser gefühlter Mangel an Behütetsein zu einem Teil daher rührt, dass wir unserer Welt optisch gegenübertreten, anstatt akustisch in sie einzutreten. Dieses Eintreten ist aber immer möglich und wäre dann auch als ein Wiedereintreten zu verstehen, denn wir wagen uns notgedrungen hinaus in die Welt, um ihr gegenüberzutreten, sie anzuschauen, zu deuten und in einen Werkzeugkasten zu verwandeln. Von der Geburt bis zur jugendlichen Selbständigkeit üben wir dieses Hinauswagen, im Berufsleben sehen wir es routiniert und mir scheint, als vergäßen wir zunehmend, wie wichtig es ist, der Welt nicht nur gegenüberzutreten, sondern in sie einzutreten und damit auch die durchaus behütenden und transzedentalen Qualitäten unserer Welt wieder zu entdecken. Gegenübertreten und Wiedereintreten prägen als Rhythmus immerhin auch unsere biologisch erzwungenen Tagesabläufe zwischen Wachen und Schlafen.
"Unter rhythmologischem Aspekt tritt eine geheime Verwandtschaft zwischen diversen Bereichen menschlichen Lebens ans Licht, die in der Regel nie zusammengedacht werden: der Schlaf und die Dummheit, die ältesten Rückzugsräume des weltfernen Wesens, rühren an die Kulturen der Droge, der Meditation, der Spekulation – und an die Musik, die holde Kunst, die, wie es heißt, uns aus grauen Stunden in eine beßre Welt entrückt. Sie folgen einander wie Glieder eines Immunsystems zur Abwehr von infektiöser, überfordernder Welt." (Sloterdijk, Weltfremdheit, S. 299)
Mehr noch als lediglich einen Schutzraum vor Überforderung zu bieten, ist Musik geeignet, das Phantasma des Rückzugsortes zu nähren, also den Ort anzupeilen, von dem wir kommen und in den wir wieder einziehen wollen, um uns von der Welt da draußen zu verbergen.
Die Sehnsucht nach vorgeburtlichen Klangräumen
Stellen wir uns vor, wie die Welt für einen Fötus klingen mag, vielleicht nicht so grundlegend verschieden von der Innerlichkeit einer Kirche, wie ich es oben beschrieb. Plus der Herzschlag der Mutter, das Atmen, das Rauschen der mütterlichen Kanalisation rund um das kleine Wesen. Aber auch die noch schallgedämpften Klänge der Welt da draußen, vielleicht auch schon Musik, nach und nach vertraute Stimmen und andere Alltagsgeräusche, die "neugierig" machen. Dann, einige Jahre später, nehmen wir die Welt oft als lärmend und aufdringlich wahr. Das ist der Nachteil der Ohren gegenüber den Augen: Wir können sie kaum verschließen. (Ich bin so dankbar über Kopfhörer, die Außengeräusche wegfiltern und dann aber einen fast reinen Musikgenuss ermöglichen.) Wir sehnen uns zurück nach Ruhe und Geborgenheit – ein Begriffspaar, dass aneinander gebunden zu sein scheint.
"Man könnte sagen, das individuierte oder unglückliche Ohr strebt unwiderstehlich fort von der realen Welt hin zu einem Raum inniger akosmischer Reminizenzen.
Musik wäre demnach immer schon die Verbindung zweier Strebungen, die sich wie dialektisch aufeinander bezogene Gebärden gegenseitig erzeugen. [...] Darum gibt es in der Primärgestik aller Musik einen Dualismus von Ausfahrt und Heimkehr." (Sloterdijk, Weltfremdheit, S. 301)
Von dieser Hegel'schen Spannung lebt jede beliebige "Playlist", in der sich energetische, "upbeat", schnelle oder auch agressive Stücke kontrastieren mit zurückgenommenen, langsamen, geheimnisvollen Kompositionen. Und natürlich lebt auch gerade die Komposition eines einzelnen Stücks oft von solchen Polen. Hier denke ich wieder an Johann Sebastian Bachs Orgelmusik oder auch modernere Orgelkompositionen wie die pseudobarocke Komposition Adagio von Remo Giazotto, eines meiner absoluten Lieblingsstücke, die ich beinahe nächtlich mit dem Kopfhörer beim Zubettgehen höre:
Und wenn ich daran denke, wie ich dann komplett schallgeschützt, in Dunkelheit und meine Bettdecke eingerollt daliege und mich diesen orphischen Klängen hingebe, die mich sozusagen zurück nach Hause in eine vorgeburtliche, vordingliche Welt transportieren, dann fällt mir die Analogie zu entweder Gebärmutter oder eben Sarg gar nicht so schwer.
Aber zurück zur Welt
Ich nehme mir vor, den optischen Blick zugunsten des Hörens etwas zurückzunehmen, um so zu versuchen, mehr in der Welt zu sein, als ihr gegenüber zu treten. Jetzt im kommenden Sommer in einem See oder dem Meer tauchen und das Rauschen von Ferne hören. Wieder ins Konzert gehen und die Augen schließen. Mit meinem Sohn in eine Kirche gehen und Orgelmusik hören. Im Wald stehen und den Ameisen lauschen. Den Eiswürfeln zuhören, wie sie im Whisky knacken und klimpern. Sepultura, Nina Simon und Pianomusik auflegen. Vielleicht gelingt es so leichter, die für einen Menschen dringend nötige Geborgenheit in der Welt immer wieder herzustellen.
Das passt dazu:
Die motivierenden, umtriebigen, verführerischen Momente in seinem Leben nannte er sein persönliches Violinkonzert. Es unterschied sich deutlich von Trompeten-, Pauken- oder Hörner-klänge. Die gab es auch. Musik ist ja auch ein dämonisches Gebiet.(Thomas Mann). Diese Musik zitiert Dich in den Gleichschritt. Auch zunächst "ergreifend", dann aber lockt sie Dich ins Ungeheuerliche. Dann "hatten wir einen Kameraden" der im Gefecht fiel. Dann schreibt ein Herr Wessels Melodie und Text, dann geht Die Fahne hoch! und es werden
AntwortenLöschenDie Reihen fest geschlossen! Dann kommt das Feindliche Dir näher als Du selber. Auch diese Musik findet (leider) ihre Ohren. Vielleicht die Ohren der "Heimat" vertriebenen, "Obdach"losen die aus dem "Geburtstrauma" ein Rückschlagsgefühl kreiert haben.
Wenn sich aber für ihn die ersten Töne nur von Ferne als ein Violinkonzert andeuteten, dann zogen sie ihn, dann wollte er nur noch weg in den hell ausgeleuchteten Konzertsaal. Auf sein Dirigentenpult. Dann wurde er ganz Instrument, Notenblatt, Klang. Zog alle Register und alle Register zogen ihn. Dann klang alles nach seiner Melodie. Nur für ihn. Kaum, nein, eigentlich konnte er dem nur selten widerstehen. Selbst drohende Unstimmigkeiten oder großer Aufwand schafften es nicht, nicht hinzuhören. Genauer gesagt wollte er es auch nicht.Er wusste dann nicht einmal wie das ging. Wenn ein Ton seinen Ressonanzraum gefunden und eingestimmt hat, will er sich austoben. Nicht nur ein Wille zur Macht, sondern auch ein Wille zum Ton! Wie hätte er sich dem entziehen können? Denn alles in ihm wurde in den Klang hineingezogen. Das Herz raste, die Fantasie spielte die höchsten Töne und unglaubliche Versprechungen saßen und lockten auf Watte-Wolken, stiegen vor seinem inneren Auge auf. Bedenken ließen sich vom Klang der Violinen davontragen. Hoben ihn über Mauern aus engster Enge und zerlegten die Angst vor zu weiter Weite ins Vernachlässigbare. Selbst die Last von Umwegen nahm er mit ihnen in Kauf. Es unterlegte alles mit ihrem betörenden Klang, hatte pures Vertrauen auf sein Gehör, wurde Initiator, Entscheidungsberater, wurde leise bei ungeliebten Pflichtprogrammen, trennte sich aber nie. Pflichtprogramme klangen anders, waren wie Trompetensignale, streng, wie laute Pauken oder unverschämt laute Hörner. Die bliesen immer zur Pflicht. Wurde deren Fahrt zu rasend oder geriet er in zu enge Engen, dann setzten sich die Violinen auf eine Parkbank und warteten – voller Gewissheit auf seine Umkehr, bis der Klang wieder nach seinem Rhythmus klang. So auch später bei großen Auftritten waren sie an seiner Seite. Dann mischten sie sich unter seinen Wortschwall und sorgten für angenehme Sendungen und gut gestimmte Empfänger. So wurden aus den zarten Schwebekonzerten im Verborgenen erst Sprache, dann Lernen, dann Vorträge, Seminare und später Reden im Öffentlichen. Sie schmückten seine Seidenstraßen, über die sie ihn führten. Dieser unverwechselbare Klang hatte auch die Fähigkeiten, Tränenkanäle freizulegen. Dann flossen Wasser der Freude oder im Unglücksfall Trauersturzbäche, wahlweise feuchteten sie die Augen bei Melancholie oder Ergriffenheit. Eine solche Ergriffenheit durchzitterte dann den weit geöffneten Leibes-raume (Hermann Schmitz), besetzte alle Schaltstellen der Emotionen, organisierten eine Hingezogenheit, ein Versinken, ein Umschlungen sein - wenn auch nur als einer unter Millionen. In "der Moderne" sagt man trocken: "Motivation" ohne zu wissen was und wer wen und wie das denn geht.
Erwachsen werden heißt: helle klare freundliche tolerante von dunklen strengen bösen Tönen unterscheiden zu können. Und das hat nichts mit "höherer Bildung " zu tun. Wir sind (fast) ALLE mit zwei Ohren zur Welt gekommen. Ich Bildung gechieht auch durch das Ohr, denn der Mensch ist das mehr oder weniger gut begrüßte Tier. Eine offene Stelle im Gehör ist frei für intimistischen und mystischen
Sektenzauber, Himmelsfahrtwahnsinn, im extrem Massenpsychosen, aggressive Auserwählungsoffensiven.(Sloterdijk)