Wie können wir unser Moralempfinden heute noch begründen?
Der britische Philosoph Julian Baggini, Autor von Ich denke, also will ich und Das Schwein, das unbedingt gegessen werden möchte schreibt in seinem Beitrag zur Sonderausgabe des Philosophie Magazins "Das Böse":"Die Annahme, dass Übeltäter in der Regel böse Absichten hätten, macht uns blind für die unzähligen Arten, Böses zu tun, ohne dass ein derartiger Wunsch dahinter steht." (a.a.O. S. 39)
Denn viel öfter, als dass das Böse auf das Konto von Sadisten, Psychopathen – Bösewichten geht, geht es auf das Konto von gutmeinenden Personen. Wenn wir diese – nehmen wir Jihadisten, Rassisten, religiöse Fanatiker oder auch politische Pragmatiker – Menschen mit nicht zu ende gedachten, guten Absichten als Bösewichte, Kranke, Psychos oder Monster sehen, dann werden wir ihre Anliegen nicht verstehen und zu keinen Ergebnissen in der Bekämpfung des Bösen kommen.
"Blicken wir auf die Geschichte des menschlichen Bösen zurück, so haben das selbstgerechte und das zweckmäßige Böse jeweils zweifellos unendlich viel mehr Unheil angerichtet, als das sadistische Böse [...] Die Grausamkeit der religiösen Verfolgung und der Fanatismus idiologischer Revolutionen führten dazu, dass Millionen von Menschen gefoltert und ermordet wurden. Und wir können nicht behaupten, solche Gräuel seien in unserer zivilisierten Gesellschaft heute undenkbar, solange viele, vielleicht sogar die meisten Menschen ihr Moralempfinden entweder religiös oder utilitaristisch begründen." (a.a.O.)
Das Böse geschehe weniger dort, wo üble Absicht herrscht, sondern am meisten dort, wo Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Mangel an Reflexion herrschten. Für den Triumph des Bösen reiche es aus, wenn normale Menschen nicht nachdenken. Um Böses zu verhindern, sollten wir wissen, wo es sich am ehesten und unauffälligsten Bahn bricht. Deshalb hier in kurzer Zusammenfassung (a.a.O. S. 34 - 39):
Bagginis "Zehn Figuren des Bösen"
- Das natürliche Böse: Dort, wo es keine Absicht gibt, böses zu tun, entsetzliche Ereignisse ohne Plan. Das Böse als natürlicher und absichtsloser Bestandteil der Welt. "Es findet sich überall dort, wo unnötiges extremes Leid auftritt..." Das natürliche Böse ist "überall latent vorhanden", auch "als Möglichkeit in jedem Menschen".
- Das systemische Böse: oft durch gesellschaftliche Normen und Konventionen systematisiert und deshalb nicht als böses erkennbar, z.B. Sklaverei, die sich jahrhundertelang als normaler Bestandteil vieler Kulturen durch unsere Geschichte zieht. Im systemisch Bösen tun auch "gute Menschen" böses, denn wir alle haben einen blinden Fleck für diese Art des Bösen. Frage: Was ist heute das systemisch Böse, das wir nicht sehen oder das nur wenige von uns sehen?
- Das Böse der Mittäterschaft: Moralische Schwäche überfällt uns meistens aus dem Grund, dass wir dazugehören wollen. Deshalb ist es möglich, dass auch "gute Menschen" dem Bösen zustimmen, obwohl sie fühlen, dass es unmoralisch ist. Beispiele sind vor allem in Massakern, Kriegsverbrechen oder dem bekannten Standford-Prison-Experiment zu sehen. Es gleicht dem systemisch Bösen darin, dass es leicht ist, eigentlich "gute Menschen" zu Mittätern zu machen.
- Das gleichgültige Böse: Verstehen wir, dass andere Lebewesen so leidensfähig sind wie wir? Tun wir ihnen trotzdem Leid an? Dann finden wir hier das gleichgültige Böse, z.B. wenn es uns egal ist, dass Tiere unendliche Qualen leiden mussten, um uns zu ernähren. Oder wenn ein Suizid so durchgeführt wird, dass es andere Menschen in den Tod und noch viel mehr andere Menschen ins Leid reißt (siehe der Germanwings-Flug 9525 im März 2015).
- Das vererbte Böse: Hier wird meistens nichts genetisch vererbt, sondern das Böse wird durch schlechte Behandlung oder falsche Erziehung an Kinder weitergegeben, die dann das Gelernte weitertragen. Dabei verstehen sie oft, dass sie etwas böses tun, aber es erscheint ihnen zugleich als falsch und als richtig, denn es ist vor ihrem Hintergrund oft als ihre einzige Option. Das Resultat ist der berühmte fehlende moralische Kompass.
- Das Böse als das geringere Übel: Klare und bewusste Entscheidungen, böses zu tun, um andere und oft persönliche Konsequenzen zu vermeiden, zum Beispiel wenn man in einer Diktatur seine Nachbarn ausspäht und verrät. Oder wenn wir Schuhe kaufen, die aus Kinderarbet stammen. Oft bemänteln wir das moralisch indem wir etwas sagen wie besser Kinderarbeit als kein Einkommen in der Familie.
- Das zweckmäßige Böse: Der Zweck heiligt die Mittel. Es braucht Opfer, endlich den andauernden Weltfrieden herbeizuführen: Die falschen, sich irrenden Menschen müssen alle sterben oder die Gegner des Weltfriedens müssen alle ins Gulag. Das erscheint extrem, aber der Utilitarismus würde sagen, dass alles, was zum Guten führt auch gut sei. Aber würden wir es gut nennen, wenn wir einen Weltfrieden um jeden Preis erreichten z.B. dadurch, dass nur die wohlhabenden, demokratischen Länder überleben, indem wir alle anderen ausrotteten?
- Das selbstgerechte Böse: Wenn Böses in der Überzeugung getan wird, damit das Richtige zu tun, z.B. die Ungläubigen zu vernichten. Der Unterschied zu 7. ist hier, dass den Handelnden gar nicht klar ist, dass sie etwas tun, dass als böse klassifiziert werden kann. "Beim selbstgerechten Bösen weiß jeder, dass es böse ist – außer jenem, die es verüben oder anordnen." (a.a.O. S. 38).
- Das perverse Böse: Wenn wir ein Verlangen haben, von dem wir wissen, dassa es anderen Schaden zufügt und wir diesem Verlangen nachgeben. Wir machen uns schuldig, wenn wir dem Begehren nachgeben, aber dass wir das Begehren haben, ist nicht unsere Schuld.
- Das sadistische Böse: Wenn wir uns wissentlich entscheiden, Böses zu tun und damit zu unserem eigenen Vergnügen anderen Wesen Leid antun. Obwohl dieses Böse und seine Agenten sehr selten sind, ist das die Kategorie, an die wir am ehesten denken, wenn es um das Böse geht. Vielleicht, weil es uns so deutlich als falsch und unmoralisch anmutet? Oder weil das die Kategorie ist, mit der das Böse auch immer schon in Geschichten personifiziert wurde? Diese Kategorie birgt die oben genannte Gefahr, dass wir hinter diesem Monströsen all das andere und viel alltäglichere Böse verbergen.
Für den Triumph des Bösen reicht es aus, wenn normale Menschen nicht denken
Ich denke, die einzige Art, moralisch zu leben, ermöglichen wir uns aus dem Schnittpunkt des Reflektierens und des Mitempfindens. Nur wenn wir empathisch sind und mit anderen Lebewesen mitempfinden oder sogar mitleiden, können wir für sie eintreten, für weniger Leid kämpfen und uns selbst davor bewahren, ihnen Leid anzutun. Die Empathie ist das Auge dieser Moral und die Reflexion ist ihr Herz. Denn nur ein wachsames und ewiges Pulsieren der Gedanken bewahrt uns davor, in die oben genannten 10 Fallen des Bösen zu tappen. Wir müssen aufmerksam gegenüber den Worten und Handlungen anderer sein und noch viel aufmerksamer gegenüber unserer eigenen Gleichgültigkeit, Faulheit und den vermeintlich vernünftigen und zweckmäßigen Ausflüchten unseres eigenen Gewissens. Nicht denken und nicht mitfühlen sind die häufigsten Quellen böser Taten.Das passt dazu:
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